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Goethes geflüchtete Frauen

Dorothea, Iphigenie und Helena: Rekonstruktionen fiktiver Migrationserfahrungen

»Es ist hier […] nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; solange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen.

Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden

 

Menschen, die aufgrund einer Notlage ihren Wohnsitz vorübergehend oder dauerhaft verlassen müssen – so die wohl allgemeinste Definition von Flüchtlingen[i] – hat es in der historischen Wirklichkeit immer gegeben. Die Ursachen für Flucht reichen von Klima- und Umweltveränderungen über Armut und soziale Ungleichheit bis zu Kriegen und politischer Verfolgung. Und auch in der fiktiven Wirklichkeit der Literatur ist dieser Topos früh präsent. Eine der ältesten überlieferten Tragödien der Antike, Die Schutzflehenden von Aischylos, handelt von Flucht und Asyl, Vergils großes Epos Aeneis erzählt einen Fluchtmythos, und auch die Bibel enthält zahlreiche Geschichten von Flucht und Vertreibung.

Auch für Johann Wolfgang Goethe ist Flucht ein Thema. Goethe flüchtet aus persönlichen Krisensituationen – die Biographen führen zahlreiche Beispiele dafür an,[ii] das bekannteste wohl die regelmäßig als Flucht aus Weimar gedeutete Italienreise 1786 –, er begegnet Kriegsflüchtlingen während der Revolutionskriege – aufgezeichnet etwa in der Campagne in Frankreich – und er imaginiert literarische Fluchtbewegungen wie im West-östlichen Divan.[iii]

Auch im Werk Goethes finden sich literarische Figuren, die ihre Heimat verlassen müssen, weil ihre Existenz bedroht ist – mittelbar, wie bei den Spinnern und Webern in den Wanderjahren, die durch das »überhandnehmende Maschinenwesen« vertrieben werden, oder unmittelbar aufgrund einer Bedrohung von Leib und Leben, wie es bei den drei Protagonistinnen der Fall ist, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Drei geflüchtete Frauen aus dem literarischen Werk Goethes: Dorothea flieht vor den Gewaltexzessen der Revolutionskriege, Iphigenie lebt im Exil, weil sie den Göttern geopfert werden sollte, und Helena sucht Schutz auf Fausts Burg, weil sie fürchten muss, vom spartanischen König Menelaos getötet zu werden.

Welche Migrationserfahrungen lässt Goethe diese Frauen machen? Fühlen sie sich in der Fremde willkommen und werden mit offenen Armen empfangen oder stoßen sie auf Ablehnung? Werden Sie in ihrer kulturellen Alterität akzeptiert, oder wird erwartet, dass sie sich anpassen? Reagieren die jeweiligen Aufnahmegesellschaften neugierig oder ängstlich? Betrachten sie die Migrantinnen als Bereicherung oder als Belastung, gar als Bedrohung der eigenen kulturellen Identität? Und wie gehen die Fluchtgeschichten aus? Gelingt die Integration, oder bleiben die Geflüchteten in einem Status der Duldung? Diese Fragen werden an drei literarische Texte gerichtet, in die Goethe Migrationsfiktionen eingebettet hat: Hermann und Dorothea, Iphigenie auf Tauris und den zweiten Teil des Faust.

Wenn in einem hermeneutischen Wechselspiel die fiktive Wirklichkeit literarischer Texte und die historische Wirklichkeit der Rezeption miteinander kommunizieren, dann wird die Lektüre der Texte in einer Welt, in der Flucht zu einem globalen Massenphänomen geworden ist, eine andere werden, dann wird der Erfahrungshorizont der Gegenwart die Bedeutung der Texte verändern.

Diese Bedeutungserweiterung möchte die vorliegende Rekonstruktion erkunden – nicht in Konkurrenz zu den zahlreichen überzeugenden und bedeutenden Gesamtinterpretationen, die die Rezeptionsgeschichte hervorgebracht hat, sondern indem sie einen Blickwinkel vorschlägt, der das Bestehende ergänzt, einen Blickwinkel, der das Thema Flucht in den Mittelpunkt rückt.

 

Nutzen und Neigung: Dorothea

Johann Wolfgang Goethes 1797 erschienenes Versepos Hermann und Dorothea beginnt mit einem schriftstellerischen Kniff, einer doppelten Teichoskopie, die den Leserinnen und Lesern die unmittelbare Konfrontation mit einer Tragödie erspart: das menschliche Leid, das die Handlung auslöst, wird in zweifach gefilterter Form präsentiert. Berichtet wird zunächst nicht über das Geschehen, sondern über die das Geschehen Beobachtenden.

Dafür lässt Goethe den Wirt des »Goldenen Löwen« ein Verhalten kommentieren, das auch heute unter der Bezeichnung Gaffen gelegentlich öffentliches Kopfschütteln auslöst: das von Sensationslust getriebene Zuschauen bei einem Unglück. Der Wirt sitzt vor seinem Haus und schildert seiner Ehefrau, wie Gaffer in großer Zahl an eine Stelle außerhalb der Stadt eilen, von der aus sie beobachten können, was ihre Sensationslust weckt: ein an der Stadt vorbei ziehender Flüchtlingstreck. »Was die Neugier nicht tut!«, ruft der Wirt aus. »So rennt und läuft nun ein jeder/Um den traurigen Zug der armen Vertriebnen zu sehen«.

Ein benachbarter Apotheker gesellt sich zu den Wirtsleuten und stimmt »beinahe verdrießlich« in die Kritik über dieses Verhalten ein:

So sind die Menschen fürwahr! Und einer ist doch wie der andre,

Daß er zu gaffen sich freut, wenn den Nächsten ein Unglück befället!

[…]

Jeder spaziert nun hinaus, zu schauen der guten Vertriebnen

Elend, und niemand bedenkt, daß ihn das ähnliche Schicksal

Auch vielleicht zunächst betreffen kann, oder doch künftig.

Unverzeihlich find' ich den Leichtsinn; doch liegt er im Menschen.

Die Heuchelei dieser moralischen Empörung ist offenkundig, denn der Apotheker kehrt selbst gerade vom Ort des Geschehens zurück. Mit dessen wortreicher Darstellung führt Goethe die Leserinnen und Leser nun dichter an das Geschehen heran. Der Apotheker schildert Enge und Durcheinander: »das mannigfaltigste Elend«, das »Geschrei der gequetschten Weiber und Kinder«, den »Wehlaut der Alten und Kranken«, umgestürzte Wagen im Straßengraben, Menschen in Hitze und Staub, und er weiß zu berichten, »wie bitter die schmerzliche Flucht« ist.

 

Hintergrund des Fluchtgeschehens, mit dem Goethes Epos beginnt, ist die Französische Revolution, in deren Folge deutsche Gebiete links des Rheins zunächst von französischen Truppen besetzt und anschließend zurückerobert werden. Die Bewohner geraten in Angst und Schrecken und verlassen ihre Heimat, weil die »mit eiligen Märschen« zurückweichenden Franzosen – »der Flüchtige kennt kein Gesetz, denn er wehrt nur den Tod ab« – plündernd, raubend und mordend durch die Region ziehen.

Aus dieser Situation haben sich die Menschen gerettet, die den Flüchtlingszug bilden und offenbar ziellos und in der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr über Land ziehen. Um anschaulich zu machen, warum die Flüchtenden ihre Heimat verlassen mussten, und um die Legitimität ihres Handelns außer Zweifel zu setzen, macht Goethe einen Richter mit der diesem Amt eigenen Integrität zum Sprecher des Flüchtlingszuges. Er gibt damit den Blick frei auf die eigentliche Tragödie, denn der Richter schildert Ereignisse, die der Flucht vorausgingen. Im Falle Dorotheas sind sie drastisch:

Und so laßt mich vor allen der schönen Tat noch erwähnen,

Die hochherzig ein Mädchen vollbrachte, die treffliche Jungfrau,

Die auf dem großen Gehöft allein mit den Mädchen zurückblieb;

Denn es waren die Männer auch gegen die Fremden gezogen.

Da überfiel den Hof ein Trupp verlaufnen Gesindels

Plündernd und drängte sogleich in die Zimmer der Frauen.

Sie erblickten das Bild der schönen erwachsenen Jungfrau

Und die lieblichen Mädchen, noch eher Kinder zu heißen.

Da ergriff sie wilde Begier; sie stürmten gefühllos

Auf die zitternde Schar und aufs hochherzige Mädchen.

Der Wohlklang des Hexameters kontrastiert mit der Brutalität des beschriebenen Inhalts, ein ganzer Katalog von Gewaltverbrechen versteckt sich hinter dem melodischen Auf und Ab der sechshebigen Verse. Erzählstrategisch dient diese Rückblende der Charakterisierung Dorotheas als tapfer und wehrhaft. In der beschriebenen Situation wächst sie in Todesangst über sich hinaus:

Aber sie riß dem einen sogleich von der Seite den Säbel,

Hieb ihn nieder gewaltig; er stürzt' ihr blutend zu Füßen.

Dann mit männlichen Streichen befreite sie tapfer die Mädchen,

Traf noch viere der Räuber; doch die entflohen dem Tode.

Dann verschloß sie den Hof und harrte der Hülfe bewaffnet.

Für dieses Mal sind die Mädchen entkommen, aber das Ereignis erklärt, warum ein sicheres Leben im Dort ihrer Heimat nicht möglich ist, warum sie sich im Hier des Flüchtlingstrecks befinden.

 

Die fiktive Wirklichkeit von Goethes Versepos geht von einem Phänomen aus, das zur historischen Wirklichkeit auch unserer Gegenwart gehört: der Flucht vor Krieg und Gewalt. Menschen, die existenziell bedroht sind, verlassen ihre Heimat, geben auf, was sie besitzen, und machen sich auf den gefährlichen Weg in eine andere Region, eine andere Welt, in der sie auf ein Leben in Sicherheit hoffen.

Anders als in der zwei Jahre zuvor erschienen Novellensammlung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, deren erzählerischen Rahmen Goethe ausschließlich aus dem sozialen Miteinander Flüchtender bildet, präsentiert Hermann und Dorothea das Geschehen aus der Perspektive dieser anderen Welt, aus der Sicht derjenigen, deren geordnetes Leben, deren »blühende Stadt« von Flüchtenden durcheinander gebracht wird. Goethes Epos zeigt die bürgerliche Gesellschaft, die sich mit einem Strom von Kriegsflüchtlingen konfrontiert sieht. Und diese Gesellschaft reagiert in einer Weise, die verstörend aktuell ist: vordergründig hilfsbereit, bei genauerem Hinsehen jedoch mit einer Strategie der Vermeidung und Verdrängung.

Neugierig und sensationslüstern sind sie, die Stadtbewohner, laufen in Scharen vor die Tore der Stadt, um den Flüchtlingszug zu sehen. Aber mehr als sehen wollen sie nicht, es besteht kein Interesse, mit den Flüchtenden in Kontakt zu treten. Die Wirtsleute des »Goldenen Löwen« schicken ihren Sohn Hermann mit einer Hilfslieferung: Wein, Bier, Brot und Schinken und dazu »abgetragene Leinwand« – »nicht gerne verschenk' ich die« – und einen abgelegten »Schlafrock mit indianischen Blumen, […] dünn und alt und ganz aus der Mode«. Aber sie selbst halten sich das Elend vom Leib. »Fürwahr, ich habe genug am Erzählten«, äußert Hermanns Mutter. Ihr genügt es, dass die Augenzeugen berichten, was »sie draußen gesehn und was zu schauen nicht froh macht.« Und der Vater fügt hinzu:

Möge doch Hermann sie treffen und sie erquicken und kleiden!

Ungern würd' ich sie sehn; mich schmerzt der Anblick des Jammers.

Schon von dem ersten Bericht so großer Leiden gerühret,

Schickten wir eilend ein Scherflein von unserm Überfluß, daß nur

Einige würden gestärkt, und schienen uns selber beruhigt.

Aber laßt uns nicht mehr die traurigen Bilder erneuern;

Denn es beschleichet die Furcht gar bald die Herzen der Menschen

Und die Sorge, die mehr als selbst mir das Übel verhaßt ist.

Der Wirt hat stattdessen einen anderen Vorschlag: »Mütterchen bringt uns ein Gläschen Dreiundachtziger her, damit wie die Grillen vertreiben.« Hermanns Vater repräsentiert die wohlgeordnete bürgerliche Welt, »die Mauern der Stadt und die reinlichen Türme«. Goethe hat ihn mit Merkmalen ausgestattet, die ihn – und mit ihm die Stadt – als spießig und mittelmäßig charakterisieren. Zwar äußert er Mitleid und lobt seine Frau dafür, Hermann mit der Hilfslieferung zu den Flüchtenden geschickt zu haben – political correctness ist nicht erst eine Erfindung unserer Zeit –, aber sein Interesse richtet sich eher darauf, wie sein Sohn mit der Kutsche umzugehen versteht, »und wie er bändigt die Hengste!« Überhaupt, die Familienkutsche:

Sehr gut nimmt das Kütschchen sich aus, das neue; bequemlich

Säßen viere darin und auf dem Bocke der Kutscher.

Diesmal fuhr er allein; wie rollt' es leicht um die Ecke!

Vaterstolz gepaart mit Statusbewusstsein. Und als die Mutter das Gespräch auf die Hitze lenkt – ihr Mitgefühl gilt freilich den zurückkehrenden Gaffern, nicht den Flüchtenden – fällt dem Vater auch dazu etwas ein, das ihn beschäftigt: »Das ist beständiges Wetter! und überreif ist das Korn schon;/Morgen fangen wir an zu schneiden die reichliche Ernte.«

Eine Frage, die den Vater viel stärker beschäftigt als das Schicksal der Flüchtenden, ist die nach einer geeigneten Ehefrau für seinen Sohn. Er kennt nur ein Kriterium, dem er für die Auswahl Bedeutung beimisst:

Und so hoff' ich von Dir, mein Hermann, daß du mir nächstens

In das Haus die Braut mit schöner Mitgift hereinführst;

Denn ein wackerer Mann verdient ein begütertes Mädchen,

Und es behaget so wohl, wenn mit dem gewünschten Weibchen

Auch in Körben und Kasten die nützliche Gabe hereinkommt.

[…]

Nur wohl ausgestattet möchte' ich im Hause die Braut sehn

Mit diesen wenigen Strichen ist der Kosmos gezeichnet, in dem Hermanns Vater sich bewegt: Familie, Arbeit, materieller Besitz, gesellschaftlicher Status. Der Flüchtlingszug ist ihm eine unbedeutende Störung, die er zwar zur Präsentation seines Status zu nutzen versteht – »Geben ist Sache des Reichen« –, mit der er sich weiter aber nicht befassen will. Als Wirt weiß er »den Fremden gefällig zu schmeicheln«, aber damit sind die Fremden gemeint, die mit gut gefülltem Geldbeutel auf der Durchreise bei ihm Halt machen, nicht die Flüchtlinge, die nur das besitzen, was sie bei sich tragen können.

 

Doch die Strategie, sich die Tragödie mit einer Altkleidersammlung und einigen Lebensmitteln vom Hals zu schaffen, geht nicht auf. Und das liegt an Hermann. Denn der etwas linkische Sohn der Wirtsleute, der mit den Mädchen aus der Nachbarschaft sozial überfordert ist, verliebt sich in Dorothea und will sie heiraten.

Die Mutter bemerkt es als erste: »Sag es nur gerad' heraus, denn mir schon sagt es die Seele:/Jenes Mädchen ist's, das vertriebene, die du gewählt hast.« Hermann bestätigt die Vermutung der Mutter, kommt aber gleich auf zwei Probleme zu sprechen, die sich daraus für ihn ergeben und aus denen seine Welt jetzt besteht. Das erste ist Zeitdruck:

Ja, sie ist's! und führ' ich sie nicht als Braut mir nach Hause

Heute noch, ziehet sie fort, verschwindet vielleicht mir auf immer

In der Verwirrung des Kriegs und im traurigen Hin- und Herziehn.

Das zweite Problem, nicht kleiner als das erste, ist die Haltung des Vaters, dessen Vorstellungen über die Qualitäten einer möglichen Schwiegertochter hier nicht erfüllt sind. Hermann ist verzweifelt.

Denn mein Vater, er hat die entscheidenden Worte gesprochen,

Und sein Haus ist nicht mehr das meine, wenn er das Mädchen

Ausschließt, das ich allein nach Haus zu führen begehre.

Die Mutter, in einer bürgerlichen Idylle für das emotionale Wohl der Kinder zuständig, nimmt sich der Sache an und mahnt zu raschem Handeln und zu Offenheit gegenüber dem Vater.

Komm! wir wagen es gleich; das Frischgewagte gerät nur,

Und wir bedürfen der Freunde, die jetzo bei ihm noch versammelt

Sitzen; besonders wird uns der würdige Geistliche helfen.

Hermann lässt sie machen, und die Mutter geht die Angelegenheit offensiv an: »Jenes Mädchen ist's, die Fremde, die ihm begegnet./Gib sie ihm; oder er bleibt, so schwur er, im ledigen Stande.« Die gewünschte Wirkung bleibt zunächst aus: »der Vater schwieg.« Doch die Strategie der Mutter geht auf, denn es kommen nun die Nachbarn zur Hilfe und machen den Vorschlag, man möge »es prüfen, das Mädchen« und solle dann entscheiden.

 

Durch Hermanns Wunsch, sich mit Dorothea zu verbinden, wird die Begegnung mit dem Fremden, die die Bürger der Stadt bislang zu vermeiden suchten, zu einer realen Option. Sie reagieren ängstlich, das Mädchen muss geprüft werden. Es wird hier ein Phänomen sichtbar, das der Soziologe Zygmunt Bauman Die Angst vor den anderen nennt: »Seit dem Beginn der Moderne klopfen Menschen, die vor den Gräueln des Krieges und der Despotie oder einem aussichtslosen Dasein fliehen, an die Türen anderer Völker. Für die Menschen hinter diesen Türen waren sie immer schon – wie auch heute noch – Fremde. Fremde lösen gerade deshalb oft Ängste aus, weil sie ›fremd‹ sind – also auf furchterregende Weise unberechenbar und damit anders als die Menschen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben und von denen wir zu wissen glauben, was wir von ihnen erwarten können.«[iv]

Die Bürger der Stadt wollen wissen, was sie erwartet, wenn sie Dorothea hereinlassen. Der Pfarrer und der Apotheker machen sich auf den Weg zu den Flüchtenden, um zu prüfen, ob Dorothea die Kriterien für eine Aufnahme in die Gemeinschaft erfüllt. Hermann, der daran nicht im geringsten zweifelt, versucht unausgesprochene Vorurteile aus dem Weg zu räumen, indem er noch einmal auf die Ursache von Dorotheas Flucht hinweist:

O, mein Vater! sie ist nicht hergelaufen, das Mädchen,

Keine, die durch das Land auf Abenteuer umherschweift

Und den Jüngling bestrickt, den unerfahrnen, mit Ränken.

Nein, das wilde Geschick des allverderblichen Krieges,

Das die Welt zerstört und manches feste Gebäude

Schon aus dem Grunde gehoben, hat auch die Arme vertrieben.

Welches sind die Kriterien, nach denen geprüft wird? Das wird nach und nach deutlich, wenn der Pfarrer und der Apotheker ihre Erkundigungen einziehen: es sind die Maßstäbe einer mediokren bürgerlichen Leitkultur. Bedingung für eine Einwanderung ist die soziale und kulturelle Kompatibilität mit dieser kleinen Welt. Und die ist für den, von Goethe ausdrücklich mit dem Attribut "alleinstehend" versehenen Apotheker zunächst mal eine Männerwelt, denn er beginnt damit, das Mädchen durch eine »Lücke des Zauns«, also heimlich zu beobachten und die äußere Erscheinung mit der Personenbeschreibung abzugleichen, die Hermann den beiden mitgegeben hat. Und dieser Abgleich bereitet ihm offensichtlich Vergnügen:

Denn der rote Latz erhebt den gewölbeten Busen,

Schön geschnürt, und es liegt das schwarze Mieder ihr knapp an;

Sauber ist der Saum des Hemdes zur Krause gefaltet

Und umgibt ihr das Kinn, das runde, mit reinlicher Anmut;

Frei und heiter zeigt sich des Kopfes zierliches Eirund

Und die starken Zöpfe um silberne Nadeln gewickelt;

Sitzt sie gleich, so sehen wir doch die treffliche Größe,

Und den blauen Rock, der vielgefaltet vom Busen

Reichlich herunterwallt zum wohlgebildeten Knöchel.

Nun entspricht dies zwar wörtlich der Beschreibung, die der verliebte Hermann von Dorothea gegeben hat, aber der Apotheker prüft offenbar nur zu gern, ob die Wirklichkeit in jedem Detail der Beschreibung standhält. Und auch der Pfarrer ist sich sicher und ordnet das Gesehene in sein Fachgebiet ein: »So ein vollkommener Körper gewiß verwahrt auch die Seele/Rein«.

Danach geht es an die Charaktereigenschaften: »Drum kommet, damit wir vernehmen,/Ob sie gut und tugendhaft sei, ein häusliches Mädchen.« Nachdem die beiden Dorothea bei der kompetenten Versorgung eines Säuglings beobachtet und ihr Organisationstalent im Umgang mit den Hilfsgütern attestiert haben – sie »verwendete schnell fürwahr, und gut die Geschenke« –, bestätigt ihnen der Richter, dass es sich bei der jungen Frau, die mutig ihre jüngeren Geschwister verteidigt und die Vergewaltigung verhindert habe, um eben jene Dorothea handelt. Nun bedarf es nur noch der ergänzenden Information, dass sie die Altenpflege für Verwandte übernommen habe und mit Schicksalsschlägen, wie dem Tod ihres Bräutigams, umzugehen verstehe, und die Begutachtung ist abgeschlossen – mit gutem Ausgang für Hermann: »Heil dir, junger Mann! dein treues Auge, dein treues Herz hat richtig gewählt! Glück dir und dem Weibe der Jugend!«

Nun steht Liebesgeständnis und Heiratsantrag nichts mehr im Wege, außer Hermann selbst. Seine Verhaltensunsicherheit macht ihm einen Strich durch die Rechnung – »ihr von Liebe zu sprechen,/Wär' ihm unmöglich gewesen« –, und statt der Ehe bietet er Dorothea eine Stelle als Dienstmagd im Haus seiner Eltern an, ja selbst das muss Dorothea für ihn aussprechen: »Sagt es nur grad' heraus; mich kann das Wort nicht erschrecken:/ Dingen möchtet Ihr mich als Magd für Vater und Mutter«.

Dorothea, »das entwurzelte Opfer der Revolution«[v], ist sich ihrer prekären Lage als Flüchtling bewusst und zögert nicht einen Moment, das Angebot anzunehmen und ihre unsichere und gefährliche Gegenwart gegen eine sichere Zukunft im Haus von Hermanns Eltern einzutauschen:

Kann ich im Hause des würdigen Manns mich dienend ernähren

Unter den Augen der trefflichen Frau, so tu' ich es gerne,

Denn ein wanderndes Mädchen ist immer von schwankendem Rufe.

[…]

Also folg' ich ihm gern; er scheint ein verständiger Jüngling,

Und so werden die Eltern es sein, wie Reichen geziemet.

Dorotheas Handeln ist motiviert von der Aussicht, ihren Flüchtlingsstatus abzulegen, der Aussicht auf »Dach und Fach, wenn im Freien so manchem Vertriebnen der Sturm dräut«. Sie betont mehrfach ihre Bereitschaft, zu dienen und sich unterzuordnen, alles zu tun, um sich in die Aufnahmegesellschaft zu integrieren – die das auch, daran kann insbesondere in Anbetracht der höchst merkwürdigen Kompatibilitätsprüfung kein Zweifel bestehen, von ihr verlangen wird. Dorothea, die sich nur durch Flucht aus einer lebensbedrohlichen Situation retten konnte und einer ungewissen Zukunft entgegensieht, würde mit der Einwanderung und einer Anstellung im Haus von Hermanns Eltern einen Status materieller und sozialer Sicherheit erlangen. Dass sie Hermanns Heiratsantrag, der nach Auflösung der Verwirrung schließlich doch noch ausgesprochen wird, nicht aus eben diesen Erwägungen, sondern aus Liebe annehmen könnte, deutet sich bis dahin nicht an. Erst auf den letzten Seiten des Epos bemüht Goethe einen Deus ex machina und lässt Dorothea gestehen, dass auch bei ihr schon »fürwahr im Herzen die Neigung sich regte/Gegen den Jüngling, der heute mir als ein Erretter erschienen.« Es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, ihr das abzunehmen, oder im Hinblick auf die wechselseitige Wahl kritisch zu bedenken, dass wohl nur einer von beiden eine hatte. Zumindest mündet Dorotheas Flucht ins Ungewisse in eine Einwanderung und die Wiedererlangung sozialer Sicherheit.

 

Fremdheit als Tod: Iphigenie

Im Jahr 1786 stellt Goethe in Italien sein Versdrama Iphigenie auf Tauris fertig. Auch dieses Stück erzählt die Geschichte einer Frau, die ihre Heimat verlassen musste. Und für die Titelheldin ergibt sich daraus ein doppeltes Problem: In einer von Männern dominierten Welt fühlt Iphigenie sich aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt, und der Umstand, dass sie als »unschuldig Verfolgte« im Exil leben muss, verstärkt diese Benachteiligung.

Dem Schauplatz des Dramas, dem Inselstaat Tauris, kommt dabei in erster Linie die Bedeutung zu, nicht Griechenland zu sein, Tauris ist das Andere von Heimat.[vi] Der Leidensdruck, der für Iphigenie aus dieser doppelten Problemlage erwächst, ist das Movens des Dramas und kommt bereits im Anfangsmonolog zum Ausdruck:

Der Frauen Zustand ist beklagenswert.

Zu Haus und in dem Kriege herrscht der Mann

Und in der Fremde weiß er sich zu helfen.

[…]

Wie eng gebunden ist des Weibes Glück!

Schon einem rauhen Gatten zu gehorchen

Ist Pflicht und Trost, wie elend wenn sie gar

Ein feindlich Schicksal in die Ferne treibt.

Der Gatte ist Iphigenie erspart geblieben, nicht aber die Vertreibung »in die Ferne«. Auch Iphigenie ist eine geflüchtete Frau. Ihr »feindlich Schicksal« war, dass ihr eigener Vater Agamemnon sie töten und aus kriegstaktischem Kalkül der Göttin Diana opfern wollte. Diana hat das im letzten Moment verhindert und, gewissermaßen als göttliche Fluchthelferin, Iphigenie in eine Wolke gehüllt und nach Tauris gebracht, wo sie ihrer Retterin seitdem als Priesterin dient. Dies allerdings mit »stillem Widerwillen«, denn Iphigenie ist dort unglücklich und möchte zurück. Sie ruft – wohl nicht zum ersten Mal – die Göttin an:

So gib auch mich den Meinen endlich wieder

Und rette mich die du vom Tod errettet

Auch von dem Leben hier, dem zweiten Tode.

Der zweite Tod, das ist das Leben im taurischen Exil, das zu Beginn des Dramas schon viele Jahre andauert und in das Iphigenie sich nicht finden will und kann. Sie sehnt sich zurück in ihre griechische Heimat, ohne allerdings zu wissen, ob ein sicheres Leben dort inzwischen möglich wäre. Die Situation ihrer Familie ist ihr nicht bekannt. Doch ihr Bewusstsein wird bestimmt von der Fixierung auf eine Rückkehr, von ihrem Status als Exilantin. Für Iphigenie gilt, was Bernhard Schlink in einem Essay über Heimat ausspricht: »Heimat ist Utopie. Am intensivsten wird sie erlebt, wenn man weg ist und sie einem fehlt; das eigentliche Heimatgefühl ist Heimweh.«[vii]

Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.

So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen

Ein hoher Wille dem ich mich ergebe;

Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.

Denn ach mich trennt das Meer von den Geliebten

Und an dem Ufer steh ich lange Tage,

Das Land der Griechen mit der Seele suchend

Iphigenie auf Tauris ist ein Drama der Introspektion. Nicht das Geschehen steht im Mittelpunkt, sondern dessen Wirkung auf das Bewusstsein der Titelheldin. Deren mentale Disposition kommt in dem langen Anfangsmonolog zum Ausdruck: Iphigenie präsentiert sich als eine displaced person, körperlich in die Fremde versetzt, geistig unverbrüchlich mit der Heimat verbunden. Den Taurern vertraut sie nicht einmal ihre Herkunft an. Die Fragen, die das aufwirft, stellt in der folgenden Szene – gewissermaßen stellvertretend für die Rezipienten – Arkas, der Sprecher des taurischen Königs Thoas.

Mit Bedauern und Verwunderung stellt Arkas fest, dass eine aktive Integration in all den Jahren von Iphigenies Exil nicht stattgefunden hat.

Vergebens harren wir schon Jahre lang

Auf ein vertraulich Wort aus deiner Brust.

So lang ich dich an dieser Stätte kenne,

Ist dies der Blick vor dem ich immer schaudre

Und wie mit Eisenbanden bleibt die Seele

Ins Innerste des Busens dir geschmiedet.

Man ist auf Tauris offenbar irritiert darüber, dass Iphigenie sozial und kulturell auf Distanz bleibt. Eine Ausnahme bildet lediglich die Sprache der Taurer, die sie beherrscht und benutzt. Zwar übt Iphigenie mit dem Priesteramt eine Tätigkeit aus, die beste Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Integration im Gastland böte, doch sie zieht die Selbstisolation vor. Im ersten Dialog des Stücks werden unterschiedliche Vorstellungen über das Rollenverständnis geflüchteter Menschen deutlich. Arkas formuliert Erwartungen aus Sicht der Aufnahmegesellschaft: Integrationsbemühen und Gegenleistungen aus Dankbarkeit für die Sicherheit der Existenz. Iphigenie reagiert auf seinen Vorwurf, diese Erwartungen nicht zu erfüllen und sich verschlossen und distanziert zu geben, mit dem Hinweis, dass genau dies »der Vertriebnen, der Verwaisten ziemt.« Aus ihrer Sicht als Exilantin ist es zwecklos und schädlich, Integration anzustreben: zwecklos, weil es ohnehin nicht gelingt, eine durch Geburt verliehene kulturelle Identität und das von ihr ausgehende Zugehörigkeitsgefühl zu ersetzen, schädlich, weil jede Annäherung an eine andere Kultur eine graduelle Entfremdung von der eigenen, eine Hybridisierung mit sich bringt. Eine "doppelte Staatsbürgerschaft" ist für Iphigenie keine Option. Wenn sie Arkas die rhetorische Frage stellt, »Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?«, dann verwirft sie das Konzept von Integration, das aus ihrer Sicht an seinem Anspruch scheitert. Flüchtling zu sein in einem fremden Land, als einzige Griechin unter Taurern das »Elend der Unzugehörigkeit«[viii] erdulden zu müssen, ist für Iphigenie ein nicht zu akzeptierender Zustand – ein Tod – und nicht Ausgangspunkt eines Prozesses, der auf eine Annäherung ausgerichtet ist. Mit dem Verlust ihrer griechischen Heimat – »verwahrt,/Von meines Hauses Schicksal abgeschieden« – ist ihr Leben unterbrochen und bis zu einer möglichen Rückkehr suspendiert.

Selbst gerettet war

Ich nur ein Schatten mir und frische Lust

Des Lebens blüht in mir nicht wieder auf.

[…]

Frei atmen macht das Leben nicht allein

[…]

Ein unnütz Leben ist ein früher Tod;

Dies Frauenschicksal ist vor allen meins.

Hier hakt nun Arkas ein und eröffnet eine neue Diskursebene: Er macht Iphigenie darauf aufmerksam, dass ihre Selbstwahrnehmung nicht mit dem Bild übereinstimmt, das die Taurer von ihr haben. Aus deren Sicht hat sie eine Integrationsleistung erbracht und einen bedeutenden sozio-kulturellen Wandlungsprozess in Gang gesetzt, indem sie »des Königs trüben Sinn erheitert« und eine Tendenz zur »Milde« in ihm ausgelöst habe, die dem Volk seit langem des »schweigenden Gehorsams Pflicht erleichtert«. Ihren wertvollsten Beitrag sieht Arkas in einem veränderten Umgang mit Fremden. Denn Tauris ist eine Insel des Schreckens und betreibt die brutalste Form der Abschottung: Nach geltendem Recht werden Fremde, die das Land betreten wollen, nicht nur nicht aufgenommen, sondern sie werden getötet.[ix] Iphigenie war die erste, die – dank göttlicher Unterstützung – dieser Tradition nicht zum Opfer fiel. Diese Sonderrolle bringt sie allerdings in eine prekäre Lage. Denn zu ihren Funktionen als Priesterin der Göttin gehört es fortan, dafür zu sorgen, dass »am Altar Dianens jeder Fremde/Sein Leben blutend läßt« und die Exekutionen ausgeführt werden. Bislang ist es ihr jedoch mit »sanfter Überredung« gelungen, bei Thoas ein Moratorium zu erwirken und die grausame Praxis auszusetzen – eine Veränderung, die dem taurischen Volk seitdem das Wohlwollen der Göttin, Glück und militärische Erfolge beschert. Arkas fordert Iphigenie auf, diesen positiven Einfluss nicht geringzuschätzen:

Das nennst Du unnütz? wenn von deinem Wesen

Auf Tausende herab ein Balsam träufelt;

Wenn du dem Volke, dem ein Gott dich brachte,

Des neuen Glückes ewge Quelle wirst

Und an dem unwirtbaren Todesufer

Dem Fremden Heil und Rückkehr zubereitest.

Für Iphigenie ist das kein Grund zu jubeln. »Das Wenige verschwindet leicht dem Blick,/Der vorwärts sieht wie viel noch übrig bleibt«. Zwar werden seit ihrer Ankunft auf der Insel Fremde nicht mehr getötet, aber sie finden nach wie vor keine Aufnahme, sondern werden abgewiesen. Ein »freundlich Gastrecht«, wie sie es aus ihrer griechischen Heimat kennt, hat sie nicht initiieren können. Überhaupt ist es ihr nicht gelungen, eine grundsätzliche Reform des Ausländerrechts herbeizuführen, sondern lediglich seine Anwendung auszusetzen – und dies möglicherweise nur vorübergehend, denn die Entscheidung obliegt in jedem einzelnen Fall einem König, von dem selbst Arkas sagt, dass er »nur gewohnt ist zu befehlen und zu tun«. Und Iphigenie bleibt in der Doppelrolle einer geflüchteten Frau, die sich nicht sicher sein kann, ob sie das Moratorium als eine privilegierte Geflüchtete für zukünftige Geflüchtete erreicht hat oder ob es darauf zurückzuführen ist, dass Thoas in ihr mehr die Frau als die Fremde sieht und mit seinem Entgegenkommen Iphigenies Neigung gewinnen will.

Aus dem Gespräch mit Arkas geht hervor, dass der König schon längere Zeit um sie wirbt – die Söhne im Krieg gefallen, ist er auf der Suche nach einer Frau, mit der er einen Thronfolger zeugen kann, und Iphigenie wäre für diese Rolle offenbar die Idealbesetzung, weil Thoas durch die Verbindung mit der griechischen Priesterin die taurischen Adelsfamilien aus dem Spiel halten und ein dauerhaft gutes Verhältnis zur Göttin Diana sicherstellen könnte. Allerdings war sein Werben bislang erfolglos. Im folgenden dritten Auftritt nun, der ersten Begegnung von Iphigenie und Thoas im Stück, spricht der König seinen Wunsch offen aus:

ich hoffe dich

Zum Segen meines Volks und mir zum Segen,

Als Braut in meine Wohnung einzuführen.

Damit setzt er Iphigenie, die »nichts an diesem Ufer/Als Schutz und Ruhe sucht«, einem erheblichen Assimilationsdruck aus. Denn sie ist getrieben von dem Wunsch, ihr Exil zu verlassen und in die Heimat zurückzukehren, auch wenn sie nicht weiß, ob sich die Rückkehroption je realisieren lässt. Mit einer Heirat wäre der »zweite Tod« besiegelt.

 

Iphigenies Dilemma besteht darin, dass der politische Führer jenes Landes, das ihr Asyl gewährt, der politische Führer, der um ihretwillen eine grausame Rechtspraxis aussetzt, der politische Führer, dem »ich mein Leben und mein Schicksal danke«, ihr einen Antrag macht, den anzunehmen gleichbedeutend wäre mit der Aufgabe der Rückkehroption. Heiratete Iphigenie den König, würde sie sich damit für einen dauerhaften Aufenthalt im Gastland entscheiden, ihre Heimat wäre verloren, ihre Fremdheit manifestiert.

Diesem Dilemma will Iphigenie mit einer doppelten Strategie entkommen: zum einen versucht sie, Thoas von seinem Vorhaben abzubringen, indem sie ihm ihre Herkunft nun offenbart und sich als Angehörige des auch über die Grenzen Griechenlands hinaus verrufenen Geschlechts der Tantaliden zu erkennen gibt, einer Familie, auf der ein Generationen übergreifender Fluch lastet, der schlimme Gräuel hervorgebracht hat. Sie weist ihn mit einer wortreichen Erklärung darauf hin, »welch verwünschtes Haupt/Du nährst und schützest«. Doch dieser Ansatz verfängt bei Thoas nicht, er hält an seinem Vorhaben fest: »Ich wiederhole meinen ersten Antrag:/Komm, folge mir und teile, was ich habe.«

Zum anderen formuliert sie ein vorsichtiges Nein aus eigener Sicht und beruft sich dabei auf die normgebende Instanz der Göttin, von der sie abhänge und auf deren Zeichen allein sie zu handeln vermöge:

Vielleicht ist mir die frohe Rückkehr nah?

Und ich auf ihren Weg nicht achtend, hätte

Mich wider ihren Willen hier gefesselt.

Thoas hält diese Argumentation für vorgeschoben und Iphigenies Handlungsautonomie für längst nicht so eingeschränkt, wie sie es darstellt. Aus seiner Sicht missbraucht sie das Priesterrecht und instrumentalisiert ihre Abhängigkeit von der Göttin für eigene Zwecke. Thoas, durch die Zurückweisung gekränkt, reagiert nun verärgert.

Such Ausflucht solcher Art nicht ängstlich auf.

Man spricht vergebens viel um zu versagen,

Der andre hört vor allem nur das Nein.

In einer Mischung aus Enttäuschung und erpresserischer Absicht setzt er die Rechtspraxis der Tötung Fremder wieder in Kraft.

So bleibe denn mein Wort: Sei Priesterin

Der Göttin wie sie dich erkoren hat,

Doch mir verzeih Diane daß ich ihr

Bisher mit Unrecht und mit innerm Vorwurf

Die alten Opfer vorenthalten habe.

Kein Fremder nahet glücklich unserm Ufer;

Von alters her ist ihm der Tod gewiß.

[…]

Tu deine Pflicht, ich werde meine tun.

Und nicht genug damit, dass Thoas die Priesterin auffordert, zukünftig Exekutionen durchführen zu lassen – eine dramatische Zuspitzung erfährt der innere Konflikt, in den Iphigenie dies bringt, dadurch, dass die nächsten beiden Fremden, die auf Tauris anlanden, ihr Bruder Orest und dessen Freund Pylades sind. Iphigenie versucht, deren Hinrichtung mittels einer Verzögerungstaktik zu verhindern, doch Arkas mahnt die Vollstreckung an: »Beschleunige das Opfer Priesterin!/Der König wartet und es harrt das Volk.«

Iphigenie beruft sich abermals auf die Götter, die den Tod der beiden »noch nicht beschlossen« hätten. Doch wie schon zuvor der König, der Iphigenies Erklärung, ihr Tun hänge allein vom Willen Dianas ab, als »Ausflucht« charakterisiert, lässt auch Arkas die Priesterin nicht aus der Verantwortung und fordert sie auf, ihre Handlungsoptionen abzuwägen und das Problem grundsätzlich zu lösen. Er führt ihr noch einmal die positiven Auswirkungen vor Augen, die sich aus ihrer Zustimmung zu einer Heirat mit dem König ergeben würden.

Ich sage dir, es liegt in deiner Hand.

Des Königs aufgebrachter Sinn allein

Bereitet diesen Fremden bittern Tod.

Das Heer entwöhnte längst vom harten Opfer

Und von dem blutgen Dienste sein Gemüt.

Ja mancher den ein widriges Geschick

An fremdes Ufer trug, empfand es selbst

Wie göttergleich dem armen Irrenden,

Umhergetriebnen, an der fremden Grenze,

Ein freundlich Menschenangesicht begegnet.

O wende nicht von uns was du vermagst!

Iphigenie bleibt bei ihrem Nein und kritisiert gegenüber Arkas, dass der König eine unangemessene Assimilationsleistung fordert und, »was sich nicht ziemt,/Statt meines Dankes mich erwerben will.« Sie bleibt in ihrer Haltung konsequent und nimmt deren Folgen in Kauf. Goethe treibt die Titelheldin seines Dramas in einen Konflikt zwischen Assimilation und Identität: auf der einen Seite Heirat mit Thoas und dafür endgültige Abschaffung des Tötungsbrauchs mit positiven Folgen für das taurische Volk, auf der anderen Seite Erhalt der Rückkehroption und Bewahrung der Autonomie als griechische Frau.

 

Dass geflüchtete Menschen auch in der historischen Wirklichkeit diesem Konflikt zwischen Assimilation und Bewahrung der Identität ausgesetzt sind – und viele sich dafür entscheiden, »einen Identitätswechsel zu versuchen«, problematisiert Hannah Arendt: »Der Mensch ist ein geselliges Tier, und sein Leben fällt ihm schwer, wenn er von seinen sozialen Beziehungen abgeschnitten ist«, heißt es in einem 1943 erschienen Essay. »Nur sehr wenige Individuen bringen die Kraft auf, ihre eigene Integrität zu wahren, wenn ihr sozialer, politischer und juristischer Status völlig verworren ist.«[x] Goethe stattet Iphigenie mit dieser Kraft aus und lässt sie die Unabhängigkeit wählen. Iphigenie »will sie selbst bleiben, ihre Identität wahren.«[xi] Er adelt diese Entscheidung dadurch, dass sie auf der Basis einer – geradezu rücksichtslosen – Ehrlichkeit getroffen wird, einer Ehrlichkeit, von der Iphigenie auch dann nicht abweicht, als sich daraus eine existenzielle Bedrohung für sie selbst ergibt. Als sich ihr die Möglichkeit bietet, die Insel mittels List und Täuschung heimlich zu verlassen, ergreift sie diese nicht. Im Gegenteil. Zwar zögert sie einen Moment lang angesichts der verlockenden Aussicht, Orest, Pylades und sich selbst die Rückkehr nach Griechenland zu ermöglichen, doch dann enthüllt sie Thoas die Fluchtpläne und legt ihr Schicksal in seine Hand – ihn dabei allerdings an eine frühere Zusage erinnernd:

Wenn zu den Meinen je

Mir Rückkehr zubereitet wäre, schwurst

Du mich zu lassen, und sie ist es nun.

Sie ist es nun: Iphigenie deutet den ihrem Bruder Orest vom Gott Apoll erteilten Auftrag, die Schwester nach Griechenland zu bringen, als den lang ersehnten Wink. Sie drängt jetzt auf eine Lösung und ruft den König auf, sich mit der Situation zu versöhnen und sie ohne Groll – und vor allem ohne die grausame Tötungspraxis wieder einzuführen – in ihre Heimat zurückkehren zu lassen. Dass sie damit nicht die Vorstellung verknüpft, einen status quo ante wieder herzustellen, sondern das bereits früher gegenüber dem König aufgerufene »Gebot/Dem jeder Fremde heilig ist«, als kulturelle Modernisierung auf der Insel zu verankern und so eine »Vernetzung von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Wertvorstellungen«[xii] zu initiieren, zeigt ihre Versöhnungsgeste an Thoas:

Verbann uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte

Von dir zu uns, so sind wir nicht auf ewig

Getrennt und abgeschieden. Wert und teuer

Wie mir mein Vater war, so bist du's mir,

Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele.

Bringt der Geringste deines Volkes je

Den Ton der Stimme mir ins Ohr zurück

Den ich an euch gewohnt zu hören bin,

Und seh ich an dem Ärmsten eure Tracht;

Empfangen will ich ihn wie einen Gott,

Ich will ihm selbst ein Lager zubereiten,

Auf einen Stuhl ihn an das Feuer laden,

Und nur nach dir und deinem Schicksal fragen.

Thoas bleibt nur noch, den Beweis anzutreten, dass er die »Stimme/Der Wahrheit und der Menschlichkeit« versteht, Iphigenie die Ausreise zu erlauben und das Drama zu beschließen: »Lebt wohl.«

 

In der Rezeptionsgeschichte hat es sich etabliert, Goethes Bühnenstück als ein Manifest der Humanität zu deuten, Iphigenie als Heldin der Aufrichtigkeit, die lautere Zwecke mit lauteren Mitteln verfolgt, weder bereit, die eigene Identität für die Sache aufzuopfern noch sie durch Verstellung zu befördern.[xiii]

Die hier vorgeschlagene Perspektive, die Rekonstruktion von Iphigenies Migrationserfahrungen zeigt, dass dieses Manifest ein Gastrecht für Fremde beinhaltet und durchaus auch eine interkulturelle Wirksamkeit für möglich hält, dass Fremdheit für das Individuum aber Leiden bedeutet und als Assimilationsdruck erlebt wird. Die Lösung, die Goethes Drama für das Problem der Fremdheit bereithält, besteht nicht darin, diesem Druck nachzugeben, sondern in der Integrität individueller Identität, also der Anerkennung kultureller Differenz, sowie in einem rechtlich abgesicherten interkulturellen Austausch und der Aussicht auf Rückkehr.

 

Schutz und interkulturelle Vision: Helena

Ein zentrales Problemfeld im Kontext von Flucht und Migration bildet die durch Sprachdifferenz erschwerte Kommunikation zwischen Geflüchteten und den Mitgliedern der sie aufnehmenden Gesellschaft – ein Aspekt der allerdings weder in Hermann und Dorothea eine Rolle spielt, hier existiert keine Sprachdifferenz, noch in Iphigenie auf Tauris, hier beherrscht die Titelheldin die Sprache des Gastlandes.

Anders in einer Migrationsfiktion aus dem Faust, die im Folgenden betrachtet werden soll. In ihr steht die Sprache im Mittelpunkt, wenngleich in einer Art und Weise, die alles andere als typisch ist: Eine Differenz existiert nicht im Hinblick auf natürliche Sprachen, die Ausdruck ethnischer Zugehörigkeit sind – diesen Differenzaspekt ignoriert bzw. transzendiert der Dramentext –, sondern in einer sich epochal unterscheidenden künstlerischen Stilisierung von Sprache.

Diese besondere Fluchtgeschichte findet sich im zweiten Teil des Faust, im dritten, dem sogenannten Helena-Akt, den Goethe im Herbst 1826 abschließt. Die Hauptfigur stellt sich zu Beginn selbst vor und evoziert mit der prägnanten Formel »Bewundert viel und viel gescholten, Helena« den mythischen Kontext, in dem sie verortet ist: bewundert als das antike Ideal der Schönheit – und in dieser Bedeutung im Faust bereits mehrfach aufgerufen –, gescholten für ihre Verführbarkeit und als Anlassgeberin des Trojanischen Krieges.

Von den Migrationsfiktionen, die in den vorigen Abschnitten vorgestellt wurden, unterscheidet sich der Helena-Akt darin, dass die Entwicklung der Fluchtursache nicht erst in einer Rückschau erzählt wird, sondern Teil des dramatischen Geschehens selbst ist. Die Zuschauer erleben die Fluchtgeschichte auf der Bühne vom Anfang bis zum Ende, sie ist Drama im Drama.

Die Eingangsszene zeigt Helena, die nach dem Ende des Krieges und der Befreiung durch ihren Ehemann, den spartanischen König Menelaos, in Begleitung eines Chors gefangener Trojanerinnen in ihr Haus zurückkehrt.

[…] mit meinem Gatten bin ich hergeschifft

Und nun von ihm zu seiner Stadt vorausgesandt;

Doch welchen Sinn er hegen mag, errat' ich nicht.

Komm' ich als Gattin? komm' ich eine Königin?

Komm' ich ein Opfer für des Fürsten bittern Schmerz

Und für der Griechen lang' erduldetes Mißgeschick?

In einem langen Monolog, nur gelegentlich vom Chor unterbrochen, reflektiert Helena, in vornehmen jambischen Trimetern laut denkend, das Verhalten ihres Ehemanns und Königs, das ihr Anlass zu Misstrauen gibt und in dem sich die Bedrohung bereits andeutet.

Denn schon im hohlen Schiffe blickte mich der Gemahl

Nur selten an, auch sprach er kein erquicklich Wort.

Als wenn er Unheil sänne, saß er gegen mir.

Was sie am meisten sorgt, ist der Auftrag, sie solle ein Opferritual vorbereiten, Dreifuß, Gefäße, ein wohlgeschliffnes Messer und ähnliches zusammentragen. Der Auftrag ist präzise, die Aufzählung detailliert,

[…] aber nichts

Lebendigen Atems zeichnet mir der Ordnende,

Das er, die Olympier zu verehren, schlachten will.

Helena hegt den Verdacht, dass sie selbst es sein könnte, die geopfert werden soll, doch sie begegnet dieser Bedrohung, vom Chor darin bestärkt, mit Selbst- und Göttervertrauen: »Der Tochter Zeus' geziemet nicht gemeine Furcht,/Und flüchtig-leise Schreckenshand berührt sie nicht«.

Hier nun mischt sich Mephisto ins Geschehen, in Gestalt der Phorkyas, eines mythischen Ungeheuers auftretend: der größtmögliche Kontrast zu Helenas Schönheit, die Hässlichkeit als antike Entsprechung des christlich Bösen. Phorkyas gibt vor, während der langen Abwesenheit des Königs dessen Güter verwaltet zu haben, und verfügt offenbar auch über nähere Kenntnis seiner Pläne, denn sie vermag Helena über die Hintergründe der bevorstehenden Opferung aufzuklären. Deren Ahnung bestätigt sich: »Königin, du bist gemeint! […] Fallen wirst du durch das Beil.« Und Phorkyas nennt ihr später auch den Grund: Der spartanische König will verhindern, dass ihm seine Frau abermals "geraubt" wird. »Unteilbar ist die Schönheit; der sie ganz besaß,/Zerstört sie lieber, fluchend jedem Teilbesitz«.

Dieses Schicksal vor Augen erbittet Helena Rettung von Phorkyas. Und die weiß Rat: Unweit vom Sitz des Königs hat in dessen mehrjähriger Abwesenheit ein »Herr« eine »unersteiglich feste Burg« errichtet – »die solltet ihr mit Augen sehn!« Da

Ist alles senk- und waagerecht und regelhaft.

Von außen schaut sie! himmelan sie strebt empor,

So starr, so wohl in Fugen, spiegelglatt wie Stahl.

Zu klettern hier – ja selbst der Gedanke gleitet ab.

Phorkyas steht mit dem Eigentümer dieser Festung in einem vertrauten Verhältnis, das ihr erlaubt, sie Helena als Zuflucht anzubieten. Ein Wort genüge: »Sogleich umgeb' ich dich mit jener Burg.« Und sie forciert den Entschluss, indem sie auf den Klang von Trompeten aufmerksam macht, die das Herannahen des Königs melden. Hier gilt es nicht zu zögern. Helena willigt in die Fluchtpläne ein: »folgen will ich dir zur Burg«. Doch folgen muss sie gar nicht, denn sie entkommt durch Zauberhand. So wie die göttliche Fluchthelferin Diana Iphigenie in eine Wolke gehüllt nach Tauris bringt, so umgibt der teuflische Fluchthelfer Mephisto Helena mit einem Nebel, aus dem die rettende Burg auftaucht.

 

Mit einem kühnen Kunstgriff montiert Goethe eine mittelalterliche Burg in die griechische Antike, lässt er – die Einheit des Raums dabei wahrend – eine Tochter des Zeus auf deutsches Rittertum treffen und um fürstliches Asyl bitten. Bei dem »wunderbaren Heldenherrn«, von dem Helena einen statusgemäßen »Wohlempfang« erwartet, handelt es sich selbstverständlich um niemanden anders als um Faust, in dessen Arme Mephisto Helena treiben will. Faust bekommt jetzt einen großen Auftritt mit Showtreppe. Gemäß der Regieanweisung »erscheint er oben an der Treppe in ritterlicher Hofkleidung des Mittelalters und kommt langsam würdig herunter.«

Es folgt nun eine ganz besondere Begegnung zwischen einer Schutzsuchenden und dem regierenden Herrscher der Gemeinschaft, in der sie um Asyl bittet. Faust beginnt ein höfisches Spiel, das zwei Diskurse eröffnet und ineinander verschränkt: zunächst einen interkulturellen und, sich daraus ergebend, einen amourösen. Er begrüßt die auf seine Burg Geflüchtete mit formvollendeter Höflichkeit, sie nicht wie eine Schutzsuchende behandelnd, sondern wie eine Königin – mit größerer Hochachtung kann man Asyl nicht gewähren.

 

Asylprozesse sind gekennzeichnet durch ein Machtgefälle zwischen den Gebenden und den Nehmenden, zwischen den Beheimateten und den Fremden. Faust hebt dieses Machtgefälle augenblicklich auf, seine Art zu kommunizieren orientiert sich nicht an der kulturellen Alterität, sondern am sozialen Status und am Geschlecht. Er sieht in Helena nicht die fremde Person, sondern die adlige Frau. »Die Annäherung beginnt, in Sprache, Gebärde, Handlung und Zeremoniell.«[xiv]

Sonst gewohnt, in Reimen zu sprechen, passt Faust sich der Redeweise Helenas an, spricht zu ihr in reimlosen fünfhebigen Versen und erweist ihr seine Ehrerbietung. Er führt ihr den Turmwächter Lynkeus vor, der für sein Versäumnis, die schöne Königin nicht angekündigt zu haben, »in Ketten hart geschlossen« wurde.[xv]

Du kommst heran, er meldet's nicht; verfehlt

Ist ehrenvoller, schuldigster Empfang

So hohen Gastes. Freventlich verwirkt

Das Leben hat er, läge schon im Blut

Verdienten Todes; doch nur du allein

Bestrafst, begnadigst, wie dir's wohlgefällt.

Helena antwortet nun ebenfalls in fünfhebigen Versen und geht auf das höfische Spiel ein, indem sie das ihr übertragene Richteramt an- und »des Richters erste Pflicht,/Beschuldigte zu hören« wahrnimmt. Der Turmwächter gesteht seine Schuld ein und singt ein – gereimtes – Loblied auf die Schönheit Helenas, die ihn geblendet und seine Pflicht vergessen lassen habe. Helena begnadigt den Turmwächter.

Nun ist Faust wieder am Zug. Er gesteht ihr, dass sich die von Lynkeus beschriebene Wirkung auf alle Bedienten seines Hofes und auch auf ihn selbst entfalte, und inszeniert eine Kapitulation:

Was bleibt mir übrig, als mich selbst und alles,

Im Wahn das Meine, dir anheimzugeben?

Zu deinen Füßen laß mich, frei und treu,

Dich Herrin anerkennen, die sogleich

Auftretend sich Besitz und Thron erwarb.

Es erscheint sodann erneut der Turmwächter, spricht ein weiteres gereimtes Huldigungsgedicht auf Helenas Schönheit und legt ihr seinen nicht unbeträchtlichen Besitz zu Füßen – auch dies wohl nur, um Faust Gelegenheit zu geben, ihn darin zu übertrumpfen und ihm den folgenden Befehl zu erteilen:

Schon ist ihr alles eigen, was die Burg

Im Schoß verbirgt; Besondres ihr zu bieten,

Ist unnütz. Geh und häufe Schatz auf Schatz

Geordnet an.

Lynkeus returniert erneut mit einem Gedicht, und man hat den Eindruck, die beiden könnten dieses (Minne-)Spiel endlos fortsetzen, doch es wird von Helena beendet, die nun Faust an ihre Seite bittet. Der durch ihre Flucht verursachte Zeitensprung hat einen Kulturschock ausgelöst und gibt ihr Rätsel auf: »Vielfache Wunder seh' ich, hör' ich an,/Erstaunen trifft mich, fragen möchte' ich viel.« Aber es ist nicht das sichtbar Andere der ihr fremden Kultur, über das sie zuerst Aufklärung verlangt, es sind nicht die Mauern der Burg, nicht die »Säulen, Säulchen, Bogen, Bögelchen,/Altane, Galerien«, nicht die »Wappen«, ist nicht die ritterliche Hofbekleidung.

Doch wünscht' ich Unterricht, warum die Rede

Des Manns mir seltsam klang, seltsam und freundlich.

Ein Ton scheint sich dem andern zu bequemen,

Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt,

Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.

Das, was Helena auf Fausts Burg am meisten irritiert und fasziniert, ist der ihr fremde Gebrauch der Sprache, sind des Turmwächters gereimte Verse, die das griechische Altertum nicht kennt. Faust spricht voller Stolz über diese Kulturtechnik, geht auf ihre Bitte nur zu gern ein und bietet der schönen Schutzbedürftigen einen Sprachkurs an:

Gefällt dir schon die Sprechart unsrer Völker,

O so gewiß entzückt auch der Gesang,

Befriedigt Ohr und Sinn im tiefsten Grunde.

Doch ist am sichersten, wir üben's gleich;

Die Wechselrede lockt es, ruft's hervor.

Viel erklären muss Faust nicht, ein Beispiel genügt, und Helena ist in der Lage, einen "Lückentext" zu vervollständigen, der in Form und Inhalt beide Diskurse, die Faust eröffnet hat, bedient und weiterentwickelt: den Diskurs interkulturellen Lernens und den interpersoneller Anziehung. Sie verschmelzen hier zu einem:

Helena:          So sage denn, wie sprech' ich auch so schön?

Faust:             Das ist gar leicht, es muß von Herzen gehen.

                        Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt,

                        Man sieht sich um und fragt –

Helena:                                                                     wer mitgenießt.

Faust:             Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück,

                        Die Gegenwart allein –

Helena:                                                                     ist unser Glück.

Faust:             Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand;

                        Bestätigung, wer gibt sie?

Helena:                                                                     Meine Hand.

Was durch das gemeinsame Reimen als zärtliche Annäherung zweier Menschen aus zwei Kulturen angedeutet wird, konkretisiert der Chor mit einem kommentierenden Bericht als erotische Kontaktaufnahme.

Nah und näher sitzen sie schon

An einander gelehnet,

Schulter an Schulter, Knie an Knie,

Hand in Hand wiegen sie sich

Über des Throns

Aufgepolsterter Herrlichkeit.

Nicht versagt sich die Majestät

Heimlicher Freuden

Vor den Augen des Volkes

Übermütiges Offenbarsein.

Die Intensivierung dieses intimen Miteinanders vollzieht sich auch poetisch, Faust und Helena steigern ihr Liebesspiel im Dialog: inhaltlich durch Bekenntnisse emotionaler Verwirrung, formal durch die Erhöhung lyrischer Komplexität: den Lehrer nicht mehr nötig, beendet auch Helena ihre Verse jetzt selbst, und zum Endreim gesellt sich ein Binnenreim:

Helena:          Ich fühle mich so fern und doch so nah,

Und sage nur zu gern: Da bin ich! da!

Faust:             Ich atme kaum, mir zittert, stockt das Wort;

Es ist ein Traum, verschwunden Tag und Ort.

Helena:          Ich scheine mir verlebt und doch so neu,

                        In dich verwebt, dem Unbekannten treu.

Faust:             Durchgrüble nicht das einzigste Geschick!

                        Dasein ist Pflicht, und wär's ein Augenblick.

Dieser Augenblick wird jäh beendet, Mephisto – in der Rolle der Phorkyas »heftig eintretend«, dabei die Berichterstatter-Funktion des Turmwächters übernehmend – verkündet die bevorstehende Ankunft von Menelaos' Heer, nicht ohne sich über das verliebte Reimen lustig zu machen:

Buchstabiert in Liebesfibeln,

Tändelnd grübelt nur am Liebeln,

Müßig liebelt fort im Grübeln,

Doch dazu ist keine Zeit.

Phorkyas Hinweis, Faust werde das »Fraungeleit« bereuen, wenn er sich nicht umgehend dieser militärischen Herausforderung stelle, zeigt Wirkung. Der Burgherr instruiert sofort seine Heerführer und betreut sie mit der Verteidigung der Festung, wendet sich sodann aber wieder Helena zu und führt sie aus dem Kriegsgebiet, nach Arkadien.

In dieser symbolisch aufgeladenen unwirklichen Umgebung steigert sich das Glück abermals, aus der Verbindung von Faust und Helena entsteht ein Kind, Euphorion, das in märchenhaft kurzer Zeit zum Knaben heranreift, dem aber nur ein kurzes Leben beschieden ist. »Der Freude folgt sogleich/Grimmige Pein.« Voller Übermut in dem Glauben, fliegen zu können, stürzt er sich allen Warnungen zum Trotz von einem Berg und stirbt. Der Tod des gemeinsamen Sohnes leitet auch das Ende der Beziehung von Faust und Helena ein. Sie beendet ihren Aufenthalt in der Kultur des Mittelalters, zugleich wieder in den ungereimten Trimeter der griechischen Antike zurückkehrend:

Ein altes Wort bewährt sich leider auch an mir:

Daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint.

Zerrissen ist des Lebens wie der Liebe Band;

Bejammernd beide, sag' ich schmerzlich Lebewohl

Und werfe mich noch einmal in die Arme dir.

So endet schließlich tragisch, was verheißungsvoll beginnt: Helenas Flucht zu Faust, die Willkommenskultur auf seiner Burg, ihre von Respekt getragene, kulturelle Differenz überwindende Begegnung, sich poetisch steigernd in Begehren, Liebe und Idylle, der Klimax im weltentrückten Arkadien, Euphorion als Kind und Allegorie poetischer Verschmelzung. Doch wie Euphorion vom höchsten Berg sich stürzend stirbt, so endet auch die Verbindung von Faust und Helena in dem Moment in einer Katastrophe, in dem die größte Fallhöhe erreicht ist.

Es ist jedoch nicht die Fluchtgeschichte, die hier in der Katastrophe endet. Das Scheitern resultiert vielmehr aus der Weltentrücktheit der intimen Beziehung, dem Austreten der Liebenden aus der Wirklichkeit, die in Form todbringender Schwerkraft auf ihr Recht pocht, Hybris und Nemesis. Was hier scheitert, ist die Liebesgeschichte, nicht die Fluchtgeschichte.

 

Stellt man das Migrationsgeschehen in den Mittelpunkt der Betrachtung, so vollzieht sich in der Begegnung von Faust und Helena – gebahnt zunächst auf dem Pfad höfischer Konvention und Etikette – das Zueinanderfinden zweier Kulturen, Integration als Erfolgsgeschichte. Weder gibt es Vorbehalte gegenüber der Schutz Suchenden noch wird sie einer sozio-kulturellen Kompatibilitätsprüfung unterzogen, wie es Dorothea in Hermanns Spießerstadt widerfährt. Weder wird Helena eine Assimilationsleistung abverlangt noch bringt ihre kulturelle Identität sie in einen Konflikt mit der Aufnahmegesellschaft, wie es Iphigenie im taurischen Exil erlebt.

Mit Helenas Fluchtgeschichte liefert Goethe eine literarische Idealisierung interkulturellen Aufeinander-zu-Bewegens, eine Blaupause für das Gelingen von Integration. Ihren Kern bildet die kommunikative Symmetrie von Schutz Suchender und Schutz Gewährendem, die herzustellen vom Gewährenden ausgehen, aber von beiden geleistet werden muss.

 

Starke Frauen: Dorothea, Iphigenie, Helena

Drei unterschiedliche Frauenfiguren aus dem literarischen Werk Goethes, drei unterschiedliche Migrationsgeschichten: ein bürgerliches Mädchen in einem Flüchtlingstreck, eine antike Königstochter im Exil und eine Tochter des Zeus, die auf einer mittelalterlichen Burg Schutz sucht. Die Migrationserfahrungen, die Goethe diese Frauen machen lässt, rekonstruiert der vorliegende Aufsatz vor dem Horizont einer historischen Wirklichkeit, in der das Thema Flucht als ein globales Massenphänomen »negative Hochkonjunktur«[xvi] hat. Dabei wird deutlich, dass Goethes Fluchtfiktionen grundsätzliche Fragen aufwerfen, die heute – im Kontext eines von quantitativen Herausforderungen dominierten Diskurses – eine problematische Zuspitzung erfahren: Fragen der Aufnahme von Geflüchteten und des Miteinanders von Schutz Suchenden und Schutz Gewährenden. Diese Fragen führen zurück vor den Beginn einer Entwicklung, in deren Verlauf politische und rechtliche Grundsätze für den Umgang mit Geflüchteten geschaffen wurden, die heute in der Kritik stehen.

Goethes geflüchtete Frauen geraten durch ihre Flucht in einen Zustand der Rechtlosigkeit. Seit der Erfindung der modernen Nation, die sich als Einheit von Volk, Staat und Territorium versteht, erfolgt der Umgang mit Schutz Suchenden auf einer rechtlich normierten Grundlage. Nationalstaaten definieren sich über Grenzlinien, an denen der Zutritt zum Territorium durch Kontrollen geregelt wird,[xvii] und auch die Entscheidung, in welchem Verhältnis die Zugewanderten zur Aufnahmegesellschaft stehen, ist Sache des dort herrschenden Rechts. Bei Dorothea, Iphigenie und Helena ist das anders. Sie überschreiten weder Grenzlinien noch besitzen sie einen rechtlich abgesicherten Status in der sie aufnehmenden politischen Gemeinschaft. Vielmehr ist ihre Position in dieser Gemeinschaft jeweils Ergebnis eines Aushandlungsprozesses – und den muss jede von ihnen, vom Autor dafür mit einer starken Persönlichkeit ausgestattet, für sich führen.

Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen und sich der Ungewissheit einer Flucht aussetzen, unternehmen diesen Schritt zumeist in Gruppen: Familien, lokale oder ethnisch verknüpfte Gemeinschaften. Dorothea in ihrem Flüchtlingstreck ist ein typisches Beispiel. Doch Goethe richtet den literarischen Blick nicht auf die Flucht selbst, sondern auf die Begegnung Schutz Suchender mit Schutz Gewährenden. Und so werden aus den Fluchtgeschichten Individualgeschichten, Geschichten einzelner Frauen, die der Aufnahmegesellschaft allein gegenüberstehen, ohne die Sicherheit verleihende Begleitung anderer Mitglieder ihrer Kulturgemeinschaft. Dorothea steht Hermann und seinen Mitbürgern allein gegenüber, Helena hat mit dem Chor gefangener Trojanerinnen nur Fremde um sich und begegnet Faust als einzelne Frau, und Iphigenie ist vollends isoliert in ihrem taurischen Exil.

Und der Fokus auf das Individuum wird noch geschärft dadurch, dass die Flucht diese drei Frauen nicht nur in eine fremde Umgebung führt, sondern alle drei auch von einem Mann aus der Aufnahmegesellschaft umworben werden: Dorothea von Hermann, Iphigenie von Thoas und Helena von Faust. In die Fluchtgeschichten webt sich also jeweils ein Diskurs interpersoneller Anziehung. Goethe lässt alle drei Frauen auch dabei als starke Persönlichkeiten auftreten. Dorothea ist eine selbstbewusste junge Frau, die Hermann sozial überlegen ist. Iphigenie bewahrt ihre individuelle Unabhängigkeit und setzt sich gegen die Avancen des taurischen Königs zur Wehr. Helena verliert auch als Schutz Suchende nichts von ihrer majestätischen Würde, überwindet im gemeinsamen Reimen mit Faust kulturelle Differenz und verbindet sich mit ihm in einer gleichberechtigten Partnerschaft.

 

Die hier vorgestellten Fluchtfiktionen verfügen also über eine Reihe von Merkmalen, die den Fokus der Rezeption auf die Begegnung eines Schutz suchenden Individuums mit einer Schutz gewährenden Gemeinschaft lenken. Möglicherweise kann diese Perspektivierung auf das geflüchtete Individuum zu einer Debatte beitragen, die heute, angesichts der offensichtlichen Überforderung bestehender und der Notwendigkeit neuer Prinzipien im Umgang mit Geflüchteten virulent ist.[xviii] Heute ist Flucht ein Massenphänomen und –problem, und angesichts der quantitativen Dimension droht die Perspektive auf den einzelnen Menschen verloren zu gehen. Die fiktiven Migrationserfahrungen von Dorothea, Iphigenie und Helena können als Aufforderung gelesen werden, die Individualität Geflüchteter im Blick zu behalten. Und mehr noch: sie reflektieren Bedingungen der Möglichkeit gelingender Integration. Gegenwärtig geraten Ordnungssysteme und –verfahren, die für den Umgang mit Geflüchteten geschaffen wurden, buchstäblich an Grenzen und machen eine Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Fragen von Integration erforderlich.

Aus heutiger Perspektive, der Perspektive einer Welt, in der Flüchtende nicht wie Königinnen oder antike Ikonen behandelt werden, in der die Aufnahmegesellschaften die bürgerliche Wagenburgmentalität von Hermanns Heimatstadt besitzen und in der das Beharren auf die eigene Identität als Fundamentalismus und mangelnde Wertschätzung gegenüber der Aufnahmegesellschaft gedeutet wird, aus einer solchen Perspektive ist jeder gemeinsame Reim ein Anfang.


 

 

Literatur

Theodor W. Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie. In: Ders.: Noten zur Literatur, Bd. IV, Frankfurt/M. 1974, S. 7-33

Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. Aus dem Englischen übersetzt von Eike Geisel. Stuttgart 52016

Klaus J. Bade: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2002

Zygmunt Baumann: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin 2016

Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Porträt einer Epoche. Weinheim 1994

Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Bd. II, München 1999

Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. Frankfurt/M. 1987

Goethe, Johann Wolfgang: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bän­den. Herausgegeben von Erich Trunz. München 1981

Thomas Grundmann und Achim Stephan (Hg.): "Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?". Philosophische Essays. Stuttgart 2016

Volkmar Hansen: Flucht und Vertreibung bei Goethe. In Gabriella Rovagnati, Peter Sprengel (Hg.): Philologia sanat. Frankfurt/M. et al 2016, S. 205-235

Bernd Jäger: Paradox Reinheit. Reinheitsdiskurse in Goethes 'Iphigenie auf Tauris', Schillers 'Die Jungfrau von Orleans' und Grillparzers 'Das goldene Vließ'. Hamburg 2013

Jürgen Joachimsthaler: Fluchtphantasien und die flüchtige Thematisierung Flüchtender bei Goethe. In: Sascha Feuchert (Hg.): Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 2001, S. 57-80

Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll, Andre Gingrich (Hg.): Lexikon der Globalisierung. Bielefeld 2011

Erwin Leibfried: Was ist und heißt fremd? Ein Beitrag zu einer Phänomenologie des Fremden. In: Sascha Feuchert (Hg.): Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 2001, S. 11-14

Yomb May: "Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?" Goethes Drama Iphigenie auf Tauris als xenologisches Paradigma. In: Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie. Herausgegeben von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Würzburg 2002, S. 186-196

Norbert Mecklenburg: Goethe. Inter- und transkulturelle Spiele. München 2014

Bernhard Schlink: Heimat als Utopie. Frankfurt/M. 2000

Emil Staiger: Goethe. 3 Bde. Zürich 1959

Julia Schulze Wessel: Grenzfiguren. Zur politischen Theorie des Flüchtlings. Bielefeld 2017

Alois Wierlacher: Ent-Fremdete Fremde. Goethes Iphigenie auf Tauris als Drama des Völkerrechts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 102 (1983), 2. Heft, S. 161-180


 

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[i] Vgl. Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll, Andre Gingrich (Hg.): Lexikon der Globalisierung. Bielefeld 2011, S. 85, Stichwort Flüchtling

[ii] Erwin Leibfried spricht gar davon, Goethe sei in dieser Hinsicht ein »begnadeter Flüchtling«. Erwin Leibfried: Was ist und heißt fremd? Ein Beitrag zu einer Phänomenologie der Fremden. In: Sascha Feuchert (Hg.): Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 2001, S. 11-14, hier: S. 13

[iii] Jürgen Joachimsthaler misst dem Begriff Flucht in seiner semantischen Vielfalt die größte Bedeutung für das Verständnis des Autors und Menschen Goethe bei: »Tatsächlich verbinden sich poetische, psychische und tatsächliche Fluchtbewegungen […] zu einer Grundstruktur, ohne die das Phänomen Goethe nicht wirklich zu erklären wäre«. Jürgen Joachimsthaler: Fluchtphantasien und die flüchtige Thematisierung Flüchtender bei Goethe. In: Sascha Feuchert (Hg.): Flucht und Vertreibung in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 2001, S. 57-80, hier: S. 58 Eine Übersicht über »biographische Lebenskrisen«, auf die Goethe mit Flucht reagiert, sowie seine Begegnungen mit Flüchtenden während der »Kriegserlebnisse im Kampf gegen die Revolution« und die in diesem Kontext entstandenen literarischen Texte, findet sich in: Volkmar Hansen: Flucht und Vertreibung bei Goethe. In: Gabriella Rovagnati, Peter Sprengel (Hg.): Philologia sanat. Frankfurt/M et al, S. 205-235

[iv] Zygmunt Bauman: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin 2016, S. 13

[v] Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Bd. II, München 1999, S. 653

[vi] Dieter Borchmeyer betont diesen Aspekt, wenn er den Ort des Geschehens als eine über das Bewusstsein der Titelheldin bestimmte Dislokation bestimmt: »Der Schauplatz des Dramas ist die Fremde. Sie bedeutet für Iphigenie den Verlust ›selbstbewußten Lebens‹ (Vs. 110), der Selbstbestimmung ihrer Person. Die Situation der Vertreibung wird für sie identisch mit der herkömmlichen Rolle der Frau«. Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Porträt einer Epoche. Weinheim 1994, S. 148f.

[vii] Bernhard Schlink: Heimat als Utopie. Frankfurt/M. 2000, S. 32

[viii] Alois Wierlacher: Ent-Fremdete Fremde. Goethes Iphigenie auf Tauris als Drama des Völkerrechts. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 102 (1983), 2. Heft, S. 161-180, hier: S. 163

[ix] Für Bernd Jäger gehören diese Menschenopfer »in ein symbolisches System zum Schutz der von außen bedrohten Gemeinschaft«. Fremde werden »als Gefährdung des sozialen Gefüges bestimmt und beseitigt; die Ordnung damit wiederhergestellt.« Bernd Jäger: Paradox Reinheit. Reinheitsdiskurse in Goethes 'Iphigenie auf Tauris', Schillers 'Die Jungfrau von Orleans' und Grillparzers 'Das goldene Vließ'. Hamburg 2013, S. 6 Ähnlich auch Yomb May: »Die Vernichtung der Fremden als höchste Form der Xenophobie scheint also einen Kernpunkt der taurischen Kultur und ein Bezugsmoment in ihrem Verhältnis zu anderen Kulturen zu konstituieren.« Yomb May: „Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?‟ Goethes Drama Iphigenie auf Tauris als xenologisches Paradigma. In: Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie. Herausgegeben von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Würzburg 2002, S. 186-196, hier: S. 188

[x] Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. Aus dem Englischen übersetzt von Eike Geisel. 5. Auflage, Stuttgart 2016, S. 26

[xi] Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. Frankfurt/M. 1987, Bd. 1, S. 466

[xii] Yomb May, a.a.O., S. 195

[xiii] Es war Theodor Adorno, der als erster Wasser in den Wein dieser Betrachtungsweise gegossen und darauf aufmerksam gemacht hat, Thoas dürfe »an der höchsten Humanität nicht teilhaben, verurteilt, deren Objekt zu bleiben«, und insofern habe das Konzept der Humanität einen Makel. »Das Meisterwerk knirscht in den Scharnieren«. Theodor W. Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie. In: Ders.: Noten zur Literatur, Bd. IV, Frankfurt/M. 1974, S. 7-33, hier: S. 26f. Spätere Kommentatoren schließen sich dieser Sichtweise an, zuletzt Norbert Mecklenburg mit dem Hinweis, es bleibe »trotz aller Humanität der Lösung eine empfindliche Asymmetrie bestehen: Thoas und die Taurer schneiden dabei schlechter ab als die heimkehrenden Griechen.« Norbert Mecklenburg: Goethe. Inter- und transkulturelle poetische Spiele. München 2014, S. 88

[xiv] Emil Staiger: Goethe. 3 Bde. Zürich 1959. Bd. 3 (1814-1832), S. 376

[xv] Vor dem Hintergrund des weiteren Verlaufs der Kommunikation zwischen Helena auf der einen, Faust und Lynkeus auf der anderen Seite ist es durchaus vorstellbar, dass es dieses "Vergehen" des Turmwächters gar nicht gegeben hat, es vielmehr Teil einer höfischen Inszenierung des Burgherrn zur Huldigung seines Gastes ist. Vorstellbar ist sogar, dass es hier Mephisto ist, der in der Rolle des Turmwächters auftritt und Faust so mehrfach Gelegenheit gibt, vor Helena zu glänzen. Dies könnte zugleich eine Erklärung dafür sein, dass Phorkyas auf der Burg nicht auftaucht.

[xvi] Klaus J. Bade: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2002, S. 11

[xvii] Heute finden Zugangskontrollen oft bereits weit vor den Grenzen nationaler Territorien statt, Grenzlinien werden von Grenzräumen abgelöst. Vgl. Julia Schulze Wessel: Grenzfiguren. Zur politischen Theorie des Flüchtlings. Bielefeld 2017

[xviii] Vgl. z.B. Thomas Grundmann und Achim Stephan (Hg.): "Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?". Philosophische Essays. Stuttgart 2016