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Goethes Urworte. Orphisch

Wie wir werden, wie wir sind

 

Urworte. Orphisch – eine etwas ungewöhnliche Wortstellung, der man am ehesten wohl beim Gang durch den Louvre, das British Museum oder das Pergamonmuseum begegnet. Neben Tongefäß. Attisch und Hieroglyphen. Ägyptisch könnten dort auch Urworte. Orphisch ausgestellt sein, das nachgestellte Attribut jeweils als eine zunächst grobe kulturelle Verortung des präsentierten Objekts.

So verstanden handelte es sich bei den Urworten um ein historisches Dokument, ein vermeintliches Fundstück aus alter Zeit. Der bildungshungrige Museumsbesucher würde an die Infotafel herantreten und sich Aufklärung darüber erhoffen, was es denn mit diesem Orphisch auf sich habe. Bei der Orphik, so würde er informiert, handele es sich um eine seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland bezeugte religionsähnliche Strömung, die sich mit der Entstehung des Kosmos, der Herrschaft der Götter und der Existenz des Menschen auseinandersetzt. Die orphischen Texte, die größtenteils verloren sind, gehen zurück auf den mythischen Dichter und Musiker Orpheus, den »hochgepriesenen Vater der Gesänge« (Pindar, Pythische Oden), den »Mozart der antiken Welt« (Stephen Fry, Helden). Dem Mythos zufolge wird Orpheus von Apollon eine Lyra verliehen, die er so einzigartig zu spielen versteht, dass er mit Musik und Gesang »die Wälder, die Herzen der wilden Tiere und die Steine, die ihm folgen, in seinen Bann zieht« (Ovid, Metamorphosen). Seine Kunst bewahrt die Argonauten um Jason vor dem todbringenden Gesang der Sirenen und ermöglicht es Orpheus sogar, in den Hades hinabzusteigen und, bemerkenswerter noch, auch wieder zurückzukehren – wenngleich ohne seine geliebte Eurydike, die er aus dem Totenreich befreien wollte. Nach dem endgültigen Verlust seiner Frau versinkt Orpheus in Trauer und Gram und verliert alles Interesse am weiblichen Geschlecht. Ironischerweise wird er schon bald darauf von einem Mob thrakischer Frauen, die ein Fest zu Ehren des Dionysos feiern und sich von ihm abgewiesen fühlen, erschlagen und verstümmelt. In der Forschungsgeschichte ist umstritten, ob eine Person namens Orpheus je existierte. Und die Frage, ob es sich bei der Orphik um eine echte Erlösungsreligion oder lediglich um eine Schnittmenge verschiedener, regional verstreuter Traditionen und Heilsideen handelt, ist aufgrund der schlechten Quellenlage ebenfalls ungeklärt.

In Wirklichkeit gibt es diese Infotafel nicht. Man findet die Urworte. Orphisch in keiner Altertumssammlung und sie sind auch kein antikes Fundstück. Vielmehr handelt es sich um den Titel eines vor zweihundert Jahren erschienenen Gedichts von Johann Wolfgang Goethe.

Urworte. Orphisch.

ΔΑΙΜΩΝ, Dämon

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen,
Nach dem Gesetz wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

ΤΥΧΗ, Das Zufällige

Die strenge Grenze doch umgeht gefällig
Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;
Nicht einsam bleibst Du, bildest Dich gesellig,
Und handelst wohl so, wie ein andrer handelt:
Im Leben ist’s bald hin- bald widerfällig,
Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.
Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet,
Die Lampe harrt der Flamme die entzündet.

ΕΡΩΣ, Liebe

Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder,
Wohin er sich aus alter Öde schwang,
Er schwebt heran auf luftigem Gefieder
Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,
Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder,
Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.
Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen.

ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung

Da ists denn wieder wie die Sterne wollten:
Bedingung und Gesetz und aller Wille
Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten,
Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille;
Das Liebste wird vom Herzen weggescholten,
Dem harten Muß bequemt sich Will
ʼ und Grille.
So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren
Nur enger dran als wir am Anfang waren.

ΕΛΠΙΣ, Hoffnung

Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer
Höchst widerwärt’ge Pforte wird entriegelt,
Sie stehe nur mit alter Felsendauer!
Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:
Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer
Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt,
Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen;
Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!

Der Auslegungsdiskurs dieses Gedichts ist weitgehend bestimmt von der Auseinandersetzung mit dem orphischen Bezugsrahmen. Das liegt zum einen an dem nachgestellten Attribut im Titel, zum anderen an einer weiteren Besonderheit: noch im Jahr des Erstdrucks, 1820, veröffentlicht der Autor den Text ein zweites Mal. In der Zeitschrift Über Kunst und Altertum erscheint das Gedicht, eingebettet in einen von Goethe selbst verfassten Kommentar.

Der Autor weist darin auf die »älteren und neueren orphischen Lehren« hin, die das Gedicht in komprimierter Form enthalte. Und das, »was sich hier nur ahnen lässt«, will er »auch einem klaren Sinn gemäß und einer reinen Erkenntnis übergeben«. Motiviert seien die Erläuterungen durch Freunde, die sich gewünscht hätten, »dass zum Verständnis« des Gedichts »einiges geschähe«. Mit diesem Hinweis auf die orphischen Lehren und deren Erklärungsbedürftigkeit stellt Goethe das Gedicht in einen Vergangenheitskontext und bereitet den Boden für seine Wahrnehmung in einem historischen Bezugsrahmen (das Goethe-Handbuch beklagt noch 1996 eine unterentwickelte Auslegungshistorie).

Urworte. Goethe hat ein Faible für das Präfix Ur und kann offenbar davon ausgehen, dass Freunde und Leser damit vertraut sind. Kein Wort dazu im Kommentar. Dabei – und das mag zunächst paradox klingen – verbindet gerade dieses Ur das Gedicht mit der Gegenwart, denn es meint nicht weit zurück in der Zeit, sondern es meint immer noch da. So wie die Urpflanze, die Goethe 1787 in Italien begegnet war, in jeder existierenden Pflanze aufgehoben ist, so ist der Inhalt, der in Urworten schriftlich fixiert ist – hier in orphischer Fassung – auch in unsere Gegenwart eingeschrieben. Für Goethe kommt in Urphänomenen die Idee selbst, im Sinne von Platons Ideenlehre zur Erscheinung, Urphänomene besitzen zeitlose Verbindlichkeit.

Goethe verfügt auch über einen »Urfreund« – Karl Ludwig von Knebel, den er mit diesem Attribut versieht, weil er 1775 den Kontakt mit Weimar vermittelt hatte. Knebel veröffentlicht im Jahr 1815 anonym eine Sammlung kleiner Gedichte. Eines davon trägt den Titel Nach dem Griechischen und ähnelt Goethes, fünf Jahre später erscheinenden Urworten. Es beschreibt »vier besondre Mächte« – Dämon, Glück, Liebe und Not –, die das Leben des Menschen bestimmen.

Goethe dürfte das Gedicht gekannt haben, das sich mit Titel und Text auf eine Lehre aus der Vergangenheit beruft, ein »alter Spruch der Weisen« wird als Quelle bemüht. Knebels Gedicht fehlt das Ur, fehlt die Verbindung in die Gegenwart. Anders bei Goethe, der den philosophischen Topos in einer Weise bearbeitet, die weit mehr ist als eine Nachdichtung historischer Weisheitslehren. Seine Urworte sind Urworte für immer, also auch für die moderne Gegenwart.

Goethes Gedicht beginnt mit einem prominenten Bild: die Stellung von Himmelskörpern bei der Geburt eines Menschen konstituiert ein »Gesetz«, das für das Leben dieses Menschen bestimmend ist. Das kennt man. Aber ist das wirklich noch ein Bild für unsere Zeit, ein Urphänomen mit zeitloser Gültigkeit? Wohl kaum. Wir würden den Einfluss von Sternenbildern heute als esoterisch abtun. Doch wollte man die Urworte so wörtlich nehmen, wären sie – wie Knebels Gedicht – nicht mehr als eine Reminiszenz an vergangene Zeiten.

Next Level: Das Wesen des Menschen wird von einem komplexen System unendlich vieler interdependenter Faktoren beeinflusst, deren kausale Zusammenhänge wir nicht vollständig durchdringen. Bis in die Goethezeit hinein galt die kosmologische Stellung der die Erde umgebenden Himmelskörper als ein solches System. Inzwischen wurde diese Vorstellung externer Einflussfaktoren abgelöst von einem Modell, das die modernen Naturwissenschaften zur Verfügung stellen: es ist nicht weniger komplex, verlegt aber die Wirkungsursachen in das Innere des Organismus. Diesem System zufolge übernehmen Gene die Aufgabe des Daimons und prägen den unveränderlichen Teil des Wesens, den Genotyp. Er kann weder evolutionär (»Zeit«) noch revolutionär (»Macht«) »zerstückelt« werden. Trotzdem ist das Wesen nicht vollkommen starr, sondern aktualisiert sich im Wechselspiel mit dem Erleben und den Umweltbedingungen, die auf es wirken, – epigenetisch – zu einem Phänotyp: »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«. Eine Formel zum Merken.

Mit den Faktoren, die jenseits der »strengen Grenze« genotypischer Prägung den phänotypischen Teil des menschlichen Wesens beeinflussen, beschäftigt sich die zweite Strophe von Goethes Gedicht. Aus dem being wird ein becoming: das von einem komplexen natürlichen Ursachengeflecht prädisponierte Wesen entwickelt sich fortan in einem dynamischen Veränderungsprozess. Und damit kommen dann doch jene Kategorien ins Spiel, die dem Genotyp nichts anhaben können: Zeit und Macht. Und mit ihnen das Zufällige – eine nicht erkenn- und nachverfolgbare Menge an Kausalitäten, die im Lauf des Lebens von außen auf das Wesen einwirken. Das Zufällige begegnet dem Menschen von Geburt an in der Form des Anderen: »nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig«. Dieser Prozess wird seit Ende des 19. Jahrhunderts als Sozialisation bezeichnet: In der Sprache der Soziologie ist sie »Persönlichkeitsentwicklung im sozialen und kulturellen Kontext und eine Form der stets spannungsreichen Konstruktion der Biografie und der Behauptung der Identität in der Umwelt« (Hurrelmann/Bauer, Einführung in die Sozialisationstheorie). Goethes Urworten zufolge verläuft dieser Prozess nach einem, allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Muster. Das Gedicht beschreibt es auf einem hohen Abstraktionsniveau und beschränkt sich auf wesentliche Prozessabschnitte.

Um den Übergang zum nächsten zu vollziehen, müssen nun Innen und Außen, Gene und Gesellschaft zusammenwirken. »Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet.« Das klingt nach Bereitschaft, ja Ungeduld. Das genetisch geprägte Wesen, das sich durch Sozialisation zu einer Persönlichkeit entwickelt hat, benötigt einen Impuls, der ihm die Welt der Liebe, Sexualität und Partnerschaft aufschließt. Die dritte Strophe verspricht Erfüllung: »Die bleibt nicht aus!« Das Gedicht verwendet für diesen Impuls das Bild des Gottes Eros, der sich mit Pfeil und Bogen bewaffnet im Sturzflug nähert und buchstäblich den Startschuss abgibt. Wir gehen heute davon aus, dass es Hormone sind, die den Code bereitstellen, der die Tür zu dieser Welt öffnet. – Welches Bild ist schöner? In dieser neuen Welt gilt es sodann, sich zu orientieren und mit den emotionalen und sozialen Anforderungen zurecht zu kommen, mit denen das Wesen hier konfrontiert ist. Dass diese Anforderungen zeitgleich in größter Gegensätzlichkeit auftreten können, macht die Sache nicht eben leicht. »Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.« Und noch komplizierter wird es dadurch, dass das Auswählen mit einem Ausgewähltwerden in Übereinstimmung gebracht werden muss. Wie mit dieser emotionalen Achterbahn umgehen? Empirisch sind dem Gedicht zwei Strategien bekannt, normativ positioniert es sich eindeutig: die eine Strategie besteht in einer Verstetigung der Suchbewegung – »Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen« – die andere darin, eine Bindung einzugehen, den Selektionsmodus ein für alle Mal zu verlassen und die Verbindlichkeit des Resultats anzuerkennen – »Doch widmet sich das edelste dem Einen.« Das in hochindividualisierten Gesellschaften verbreitete Konzept der seriellen Monogamie folgt diesem in den Urworten aufgerufenen Ideal – wenn auch alltagspraktisch mit einem Notausgang versehen – bis heute.

Nur dem edelsten Herz schenkt das Gedicht weitere Aufmerksamkeit und entwickelt am Beispiel von Partnerwahl und Bindungsdrang einen philosophischen Exkurs über den menschlichen Willen. Bei der Suche nach einem Partner existiert Handlungsfreiheit – »handelst wohl so, wie ein andrer handelt«, hatte es in der zweiten Strophe geheißen, das »wohl« signalisiert eine gewisse Lizenz, es auch anders zu machen, also Freiheit. Der Bindungswille hingegen ist nicht frei, er ist durch Naturkausalität determiniert: wir können entscheiden, welchen Partner wir wollen, aber nicht, dass wir einen wollen. »Da« – also im Anschluss an die Partnerwahl, »ists denn wieder wie die Sterne wollten«, die Mission ist erfüllt. Der Wille ist im Genotyp verankert, er ist wesentlich: »Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten«. In den Jahren 1813/14 steht Goethe in einem engen persönlichen Austausch mit dem jungen Arthur Schopenhauer. Zwar verlaufen ihre Wege, als Goethe 1817 an den Urworten arbeitet, bereits wieder in unterschiedliche Richtungen, aber ist es vielleicht kein Zufall, dass die vierte Strophe jene Vorstellung aufgreift, die den Philosophen sein Leben lang beschäftigt und die er später in die berühmte Formel bringt, der Mensch könne zwar tun, was er will, nicht aber wollen, was er will (Arthur Schopenhauer, Grundprobleme der Ethik). Hundert Jahre später kommt die Psychoanalyse ebenfalls zu dem Ergebnis, der Mensch sei nicht Herr im eigenen Haus (Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse). Und heute ist es die Hirnforschung, die uns überzeugen möchte, dass der freie Wille eine Illusion sei. Goethes  Urworte erklären den Menschen für »scheinfrei«. Und sie tun es mit Bedauern und beschreiben die »Grenze«, durch die das Wesen seine kränkende Bedingtheit erfährt, als »höchst widerwärt‘ge Pforte« einer »ehrnen Mauer«.

Doch für Fatalismus sieht das Gedicht keinen Anlass. Aus zwei Gründen: zum einen kann der Mensch zu der bewussten Einsicht gelangen, dass er die uneingeschränkte Herrschaft über seinen Willen niemals besitzt. Diese Einsicht bringt ihn bestenfalls dazu, auf Widerstand zu verzichten, wo Widerstand zwecklos wäre: »Dem harten Muß bequemt sich Willʼ und Grille« – Goethe wird diese Vorstellung später an anderer Stelle unter dem Begriff Entsagung weiter ausarbeiten –, zum anderen verfügt der Mensch über eine Fähigkeit, die ihn über seine Beschränktheit »erhebt« und ihn »beflügelt«: als einziges Lebewesen ist er in der Lage, mentale Zeitreisen (Thomas Suddendorf, Der Unterschied) zu unternehmen und die eigene Biographie gedanklich in die Zukunft zu extrapolieren. Diese einzigartige Option, fiktive Vorstellungen der Zukunft zu imaginieren, ist für jede Gegenwart – egal ob »Wolkendecke, Nebel, Regenschauer« sie verdüstern – und »durch alle Zonen« hindurch grenzenlos verfügbar. Hoffnung als Flucht nach vorn: »Ein Flügelschlag und hinter uns Äonen.« Hören Sie Orpheus singen?