Goethes
Wilhelm Meister - von Tönnies aus gelesen
Es gehört zur Dialektik des von der europäischen Aufklärung ausgehenden
Modernisierungsprozesses, daß mit der fortschreitenden Individualisierung ein
Verschwinden kollektiver Lebenszusammenhänge einhergeht, daß jeder Zugewinn an
individueller Autonomie von einem Verlust sozialer Bindungsmöglichkeiten
begleitet wird. Diese Dialektik von Freiheitsgewinn und Bindungsverlust ist seit
langem Gegenstand eines wissenschaftlichen Diskurses, der in der Hauptsache von
den Sozialwissenschaften sowie von interdisziplinären Forschungszweigen wie den
Cultural Studies und dem Kommunitarismus geführt wird.
Von zentraler Bedeutung ist dabei Ferdinand Tönnies. Mit der
Verwissenschaftlichung der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft liefert der
Soziologe gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Grundlage für die Analyse der in
unterschiedlichen Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens wirkenden
sozialen Bindungsenergien. Gemeinschaft steht für ein Miteinander von Menschen,
die auf begrenztem Raum zusammen wohnen und über eine kollektive Identität
verfügen. Gemeinschaftliche Lebens- und Kommunikationsformen befriedigen das
Bedürfnis nach Geborgenheit, Nähe, Liebe, Intimität - wie immer man den
Erfüllungszustand nennen will. Gesellschaft beschreibt demgegenüber ein
Netzwerk abstrakter, nutzenorientierter Beziehungen, in dem Individuen
interagieren, um ihre Einzelinteressen durch einen wie auch immer gearteten
Tausch zu befriedigen. In einem solchen Nebeneinander werde keiner "für
den anderen etwas tun und leisten, keiner dem anderen etwas gönnen und geben
wollen, es sei denn um einer Gegenleistung oder Gegengabe willen, welche er
seinem Gegebenen wenigstens gleich achtet". (Tönnies: 34)
Das Projekt der Moderne vollzieht sich als ein Rationalisierungs- und
Individualisierungsprozeß, der das gesellschaftliche Nebeneinander zur
Verkehrsform eines expandierenden öffentlichen Raumes macht, Ich-AG statt
Wir-Gefühl. Lokale Strukturen kollektiver Identität lösen sich auf und
hinterlassen ein Gemeinschaftsdefizit, das für ein modernitätstypisches
Gefühl der Unterintegration verantwortlich ist. Selbst die vorgestellten
nationalen Gemeinschaften vermögen angesichts einer ins Globale strebenden
Vergesellschaftung heute kein gemeinschaftliches Bewußtsein mehr zu generieren.
Die Gemeinschaft ist nicht mitmodernisiert worden.
Vor diesem Hintergrund gewinnt heute die Frage an Bedeutung, wie das Bedürfnis
nach einer kollektiven Identität unter Modernitätsbedingungen noch zu
befriedigen sei und wie eine moderne Gemeinschaft auszusehen hätte, die ein
kollektives Bewußtsein vermittelte, ohne daß die im Zuge des
Aufklärungsprozesses gewonnene individuelle Autonomie dadurch eingeschränkt
würde.
Der vorliegende Aufsatz richtet diese Frage an das literarische Werk Johann
Wolfgang Goethes und erkundet, inwieweit insbesondere die Wilhelm Meister-Romane
den dialektischen Zusammenhang von gesellschaftlichem Fortschritt und
Gemeinschaftszerstörung reflektieren und kommentieren und inwieweit sie
literarische Entwürfe kollektiver Identität beinhalten, deren Rekonstruktion
den Gemeinschaftsdiskurs zu befruchten vermag.
Die literarischen Texte gerade dieses Autors empfehlen sich für ein solches
Vorgehen, weil Goethe als "Superminister" in Weimar ein
Politikverständnis propagiert, das den Raum des Lokalen als genuines
Betätigungsfeld politischen Handelns betrachtet, zugleich aber für eine
kulturelle Öffnung ins Globale eintritt, wie sie etwa in der Vorstellung einer
Weltliteratur zum Ausdruck kommt.
Johann Wolfgang Goethe war fast 60 Jahre lang "in der Politik" aktiv,
und in dem von ihm "gelebten dialektischen Zusammenhang von Partikularität
und Universalität" (Krippendorff: 15) offenbart sich aus heutiger Sicht
ein Gegenentwurf zu jenem einseitig auf gesellschaftlichen Fortschritt
drängenden Modernisierungsprozeß, der von einer Erosion gemeinschaftlicher
Lebens- und Kommunikationsformen begleitet wird.
Im Hinblick auf die literarische Gestaltung kollektiver Lebensentwürfe ragen
zwei Texte aus dem Œuvre Goethes heraus: Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm
Meisters Wanderjahre. Die Gemeinschaftsentwürfe und -projekte, mit denen diese
Romane auf literarische Weise experimentieren, beleuchten aus unterschiedlichen
Perspektiven die Frage, ob Gemeinschaft sich unter modernen Bedingungen anders
als autoritär organisieren lasse. Sie können - ohne daß ein einzelner dieser
Entwürfe die Frage eindeutig beantworten würde oder gar als ein
"Modell" verstanden werden darf - in ihrer Gesamtheit und indem sie
sich wechselseitig in Frage stellen, für eine kritische Haltung gegenüber
einer Vorstellung von Modernität in Anspruch genommen werden, die meint, ohne
gemeinschaftliche Lebens- und Kommunikationsformen auskommen zu können.
Die modernitätstypische Auseinanderentwicklung von Gemeinschaft und
Gesellschaft findet sich bereits in dem 1795/96 erschienen Roman Wilhelm
Meisters Lehrjahre. Da ist auf der einen Seite die Familie des Titelhelden mit
der Mutter als Zentrum des gemeinschaftlichen Miteinanders und auf der anderen
Seite das vom Vater geführte Handelshaus, das die Ebene gesellschaftlichen
Nebeneinanders repräsentiert.
Nun hat aber Goethe mit den Lehrjahren nicht etwa - Ferdinand Tönnies
vorwegnehmend - gemeinschaftliche oder gesellschaftliche Integrationsräume
analysiert, sondern einen Roman verfaßt und eine fiktive moderne Wirklichkeit
entworfen. In der Praxis einer solchen Wirklichkeit überschneiden sich Innen-
und Außenwelt auf vielfältige Weise, und das zeigt sich exemplarisch an der
familiären Situation des Titelhelden. Goethe präsentiert Wilhelms Familie als
eine Art intermediären Raum, der zwar über eine gemeinschaftliche
Grundstruktur verfügt, der aber vom Vergesellschaftungsprozeß durchaus erfaßt
wird.
Die Richtlinienkompetenz des Vaters macht aus der Familie Meister eine
Sozialisationsinstanz für moderne Menschen, die allem Handeln eine
zweckrationale Analyse vorausgehen lassen und die - nach Meinung Wilhelms -
über ihr "Addieren und Bilanzieren das eigentliche Fazit des Lebens"
(HA, 7, 37) aus den Augen verlieren. Dieses väterliche Selbstverständnis, das
in Menschen lediglich konkurrierende Einzelwesen sieht, läßt in Wilhelm den
Wunsch rege werden, "sich aus dem stockenden, schleppenden bürgerlichen
Leben herauszureißen". (HA, 7, 35)
Beherrscht von einem Gefühl der Unterintegration wendet Wilhelm sich von seiner
Familie ab und baut sich das Theater zu einer kommunitären Gegenwelt auf. Er
flüchtet sich in die Vorstellung, Künstler besäßen eine kollektive
Identität, seien auf eine Art miteinander verbunden, die man mit einem Begriff
von Tönnies als geistige Freundschaft bezeichnen könnte - ein mentales
Netzwerk, das "eine Art unsichtbarer Ortschaft, eine mystische Stadt und
Versammlung" konstituiert, "die gleichsam durch eine künstlerische
Intuition, einen schöpferischen Willen lebendig ist"(Tönnies: 12f.).
Wilhelm stellt sich vor, die Mitglieder dieser ideellen Gemeinschaft verbinde
das Bewußtsein, durch ihr gemeinsames Wirken im Sinne einer ästhetischen
Erziehung korrigierend auf die defizitäre bürgerliche Gesellschaft einwirken
zu können.
Der Erzähler kennzeichnet diese Vorstellung von Beginn an als illusionär, als
ein "Gemälde auf Nebelgrund" (HA, 7, 35), das die Machtverhältnisse,
die den Modernisierungsprozeß prägen, gleichsam auf den Kopf stellt. Obwohl
Wilhelm am eigenen Leib bzw. an eigener Seele erfahren hat, wie der
Vergesellschaftungsprozeß selbst die Kernform gemeinschaftlichen Miteinanders,
die Familie, erfaßt und funktionalisiert, glaubt er daran, eine ideelle
Gemeinschaft von Kunsttreibenden sei in der Lage, sich dieser gesellschaftlichen
Dynamik zu widersetzen und deren zentrale Kategorie - den Nutzen - von sich
fernzuhalten. Mehr noch, er geht sogar davon aus, diese Gemeinschaft könne den
Impuls für eine Korrektur jener Fehlentwicklung geben und der Gesellschaft den
"richtigen" Weg weisen.
Goethe führt seinen Titelhelden durch das gesamte zeitgenössische Spektrum
theatraler Institutionen, von der Gauklertruppe über das Laienspiel- und das
Wandertheater bis zum festen Schauspielhaus, und er läßt ihn eine
desillusionierende Erfahrung nach der anderen machen. Es begegnen Wilhelm all
jene Phänomene, die er aus der bürgerlichen Welt nur zu gut kennt und denen er
glaubte ausweichen zu können: Materialismus, Egoismus, Rivalität, Berechnung
und Übervorteilung. Und diejenigen Künstler, die seinem Ideal zumindest
nahekommen, hat Goethe mit einer pathologischen mentalen Disposition
ausgestattet - wie etwa Mignon, den Harfner oder Aurelie.
Die Illusion einer kollektiven Identität, einer geistigen Gemeinschaft von
Berufenen scheitert an einer Wirklichkeit, in der Kunst nicht Berufung ist,
sondern Gewerbe. Wilhelm muß lernen, daß es unter den Bedingungen einer
Moderne, die den Menschen die Option eröffnet, alles Handeln am
"Majestätsrecht ihrer persönlichen Willkür" (HA, 7, 434)
auszurichten, ein von gesellschaftlichen Verkehrsformen unbeeinflußtes
Miteinander nicht geben kann, auch nicht in der Kunst.
Doch auch wenn Wilhelm den Glauben an die Kunst als eine kommunitäre Nische
schließlich aufgibt und bekennt, er habe "nichts zu erzählen als
Irrtümer auf Irrtümer, Verirrungen auf Verirrungen" (HA, 7, 446), so
bedeutet das nicht, er würde nun geläutert in den Schoß der Familie
zurückkehren. An seiner ablehnenden Haltung gegenüber jener bürgerlichen
Welt, die er vom Geist des Vaters regiert sieht, hat sich nichts geändert.
Seine Erfahrungen haben ihn allerdings gelehrt, daß die Flucht in eine
konstruierte Gegenwelt keine Alternative ist. Er weiß am Ende seiner Lehrjahre,
daß er Gemeinschaft nicht jenseits der Gesellschaft finden wird, und er hat
zumindest eine Ahnung davon, daß der Vergesellschaftungsprozeß nur von innen
heraus zu beeinflussen ist. In diesem Sinne ist wohl auch die Bemerkung
Schillers zu deuten, Wilhelm trete "von einem leeren und unbestimmten Ideal
in ein bestimmtes tätiges Leben, aber ohne die idealisierende Kraft dabei
einzubüßen". (Staiger: 239)
Wilhelm muß seinen Wiedereintritt in die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht
allein bewältigen. Er wird eingeschleust von der Turmgesellschaft, einer von
dem Adligen Lothario geleiteten Reformschmiede, die seinen Lebensweg die ganze
Zeit über verfolgt und offenbar nur darauf gewartet hat, daß er die
illusionäre Vorstellung vom Theater als einer Sphäre reiner Gemeinschaft
endlich aufgibt.
Goethe markiert den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt symbolträchtig
dadurch, daß Wilhelm im Rahmen einer feierlichen Initiierung in die
Turmgesellschaft aufgenommen wird und er bei dieser Gelegenheit die Bestätigung
erhält, er habe einen Sohn. "Heil dir, junger Mann! deine Lehrjahre sind
vorüber; die Natur hat dich losgesprochen." (HA, 7, 497) Als
alleinerziehender Vater und Mitglied der Turmgesellschaft kehrt Wilhelm in die
gesellschaftliche Wirklichkeit zurück. Seine Lehrjahre sind beendet, "mit
dem Gefühl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben"
(HA, 7, 502), die Erwartungen, die der Titel beim Leser weckt, sind erfüllt,
und der "Lektor" Friedrich Schiller teilt seinem Freund Körner mit,
der Roman sei, "was das innere Wesen und den eigentlichen Geist betrifft,
schon mit diesem 7. Buche aufgelöst" (Schiller, Briefe: 2, 84).
Wie aber steht es mit Wilhelms Gemeinschaftsbedürfnis? Kann die
Turmgesellschaft ihm bieten, was er weder in der Familie noch in der Welt der
Kunst hat finden können? Das Achte Buch verspricht Aufschluß darüber, welche
Rolle das Gemeinschaftsbedürfnis im Programm der Turmgesellschaft spielt und
inwieweit deren Führungspersonal ihr neues Mitglied bei dem Versuch
unterstützt, die gemeinschaftliche Integrationsform gegen den Prozeß einer
fortschreitenden Vergesellschaftung zu verteidigen.
Ein erster Hinweis darauf findet sich bereits im Siebenten Buch, in dem Lothario,
der Leiter der Turmgesellschaft, die Pläne zur Umstrukturierung seines
agrarwirtschaftlichen Unternehmens vorstellt. "Ich sehe sehr deutlich, daß
ich in vielen Stücken bei der Wirtschaft meiner Güter die Dienste meiner
Landleute nicht entbehren kann, und daß ich auf gewissen Rechten strack und
streng halten muß; ich sehe aber auch, daß andere Befugnisse mir zwar
vorteilhaft, aber nicht ganz unentbehrlich sind, so daß ich davon meinen Leuten
auch was gönnen kann. Man verliert nicht immer, wenn man entbehrt. Nutze ich
nicht meine Güter weit besser als mein Vater? Werde ich meine Einkünfte nicht
noch höher treiben? Und soll ich diesen wachsenden Vorteil allein genießen?
Soll ich dem, der mit mir und für mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen
Vorteile gönnen, die uns erweiterte Kenntnisse, die uns eine vorrückende Zeit
darbietet?" (HA, 7, 430)
Lothario beansprucht den Freiraum, den eine sich modernisierende Gesellschaft
hinsichtlich der Durchsetzung individueller Interessen gewährt, ohne sich
jedoch aus der Verantwortung für die lokale Gemeinschaft zu verabschieden.
Diese Verbindung von persönlichem Interesse und kollektivem Bewußtsein
kennzeichnet die Turmgesellschaft in den Lehrjahren. Die Legitimität
individuellen Handelns endet dort, wo der Handelnde den eigenen Nutzen nur um
den Preis einer Schlechterstellung oder Übervorteilung anderer zu steigern
vermag.
Das Achte Buch zeichnet die Konturen der Turmgesellschaft, indem es deren
programmatisch auf eine Beschränkung der individuellen Autonomie zielende
Haltung dem radikalen Liberalismus von Wilhelms Jugendfreund und Schwager Werner
entgegenstellt. Sowohl die Turmgesellschaft als auch Werner interessieren sich
für "wichtige Güter" (HA, 7, 492) in der Nähe von Lotharios
Landgut, und anstatt einander zu überbieten, beschließt man, das Geschäft
gemeinsam zu machen. Im Laufe der Verhandlungen kommt es zu einem Wortwechsel,
der die Unterschiede deutlich werden läßt.
Ihm komme "kein Besitz ganz rechtmäßig, ganz rein vor, als der dem Staate
seinen schuldigen Teil abträgt", erklärt Lothario. Seiner Ansicht nach
sind steuerliche Gleichbehandlung und Abschaffung des "Lehns-Hokuspokus"
(HA, 7, 507) die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Liberalisierung und
eine größere Verteilungsgerechtigkeit, von der er sich politische Stabilität,
Wahrung des Eigentumsrechts und ganz einfach "bessere Bürger" (HA, 7,
508) verspricht.
Werner, als Wirtschaftsliberaler, ist an solchen gesellschaftspolitischen
Überlegungen nicht im geringsten interessiert. Sein Bewußtsein
überindividueller Bindung beschränkt sich auf den familiären Innenbereich.
Sich "mit den Seinigen lustig gemacht und um die übrige Welt sich nicht
mehr bekümmert, als insofern man sie nutzen kann", (HA, 7, 287) heißt es
in seinem Glaubensbekenntnis, und davon rückt er auch jetzt nicht ab. "Ich
kann Sie versichern", bekennt er gegenüber Lothario, "daß ich in
meinem Leben nie an den Staat gedacht habe; meine Abgaben, Zölle und Geleite
habe ich nur so bezahlt, weil es einmal hergebracht ist."
Lothario widerspricht ihm und bringt damit zum Ausdruck, daß die
Turmgesellschaft sich in ihrem Handeln an einer instrumentellen Vernunft
orientiert, die zugleich eine soziale Vernunft ist. Ihr Programm integriert
Miteinander und Nebeneinander, indem es das autonome Handeln von Individuen bzw.
Gruppen auf ein kollektives Bewußtsein verpflichtet, ihm auf diese Weise eine
Selbstbeschränkung auferlegt. Lothario & Co. treten für eine Gesellschaft
ein, die man mit den Worten des amerikanischen Philosophen John Rawls als eine
"soziale Gemeinschaft sozialer Gemeinschaften" (Rawls: 572) bezeichnen
könnte.
Rawls verwendet diese Formel zur Kennzeichnung der (Ideal-) Vorstellung einer
wohlgeordneten Gesellschaft, der sein Entwurf einer Theorie der Gerechtigkeit
als Fairneß zugrunde liegt. Der Anspruch dieser Theorie ist es, "die
sozialen Werte, das an sich Gute institutioneller, gesellschaftlicher und
gemeinschaftlicher Tätigkeit durch eine Gerechtigkeitsvorstellung" zu
erklären, "deren theoretische Grundlage individualistisch ist" (Rawls:
297). Es geht vereinfacht ausgedrückt darum, individuelle Freiheit und soziale
Gerechtigkeit miteinander in Einklang zu bringen.
Im Mittelpunkt der gesellschaftstheoretischen Überlegungen der Turmgesellschaft
wie der Theorie der Gerechtigkeit steht die Vorstellung einer bedingten
Autonomie. Anders als die utilitaristische Ethik, der es primär um eine
Maximierung der Nutzensumme, nicht aber um die Frage einer Verteilung des
Nutzens geht, begrenzen sowohl Rawls' Theorie als auch das Programm der
Turmgesellschaft das individuelle Nutzenstreben, indem sie es einem Prinzip
sozialer Gerechtigkeit unterstellen.
Voraussetzung für eine wohlgeordnete Gesellschaft ist eine unbewußte
Übereinstimmung aller Teilnehmer, "ihre Vorstellungen vom Guten den
Grundsätzen der Gerechtigkeit anzupassen oder wenigstens keine Ansprüche zu
stellen, die ihnen unmittelbar entgegenstehen. [...] Die Grundsätze des
Rechten, und damit der Gerechtigkeit, setzen Bedingungen dafür, welche
Befriedigungen Wert haben, was vernünftige Vorstellungen vom eigenen Wohl sind.
Beim Planen und Entscheiden über ihre Ziele müssen die Menschen diese
Einschränkungen berücksichtigen." (Rawls: 49) Sowohl das Programm der
Turmgesellschaft als auch das Konzept einer wohlgeordneten Gesellschaft zeichnen
sich durch das Bemühen aus, das Gute und das Rechte in Übereinstimmung zu
bringen, und betrachten die Gesellschaft "als ein Unternehmen der
Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil" (Rawls: 105).
In Wilhelms Lehrbrief heißt es, nur "alle Menschen machen die Menschheit
aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im
Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur
zusammen und bringt sie wieder hervor. [...] Jede Anlage ist wichtig, und sie
muß entwickelt werden. Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das
Nützliche befördert, so machen beide zusammen erst einen Menschen aus."
(HA, 7, 552) Die Turmgesellschaft propagiert und beansprucht die Heterogenität
individueller Interessen, und sie versucht das Gemeinschaftsdefizit, das der
Individualisierungsprozeß verursacht, zu kompensieren, indem sie ihm ein
Projekt gesellschaftlicher Komplementarität entgegenstellt.
Der Titelheld der Lehrjahre bleibt mißtrauisch gegenüber diesem
sozialphilosophischen Programm, das zwar bemüht ist, gemeinschaftliche
Integrationsformen in die Moderne hinüberzuretten, indem es die individuelle
Autonomie durch ein Prinzip sozialer Gerechtigkeit begrenzt, das aber die
Bedeutung des Nutzens als zentrale Kategorie der Moderne nicht in Frage stellt.
Das wird ihm spätestens klar, als man ihm von den Globalisierungsplänen der
Turmgesellschaft berichtet, durch die man einander die Existenz "assekurieren"
wolle, weil "die Besitztümer beinahe nirgends mehr recht sicher sind"
(HA, 7, 563).
Wilhelm ist das zu ökonomisch argumentiert, ihn stört an den Plänen, daß sie
dem Primat des Nutzens folgen, und er kann sich eine zynische Bemerkung nicht
verkneifen. Er habe erst vor kurzem begonnen, sich um seine Besitztümer zu
kümmern, wirft er ein. "Vielleicht hätte ich wohl getan, sie mir noch
länger aus dem Sinne zu schlagen, da ich bemerken muß, daß die Sorge für
ihre Erhaltung so hypochondrisch macht." (HA, 7, 563) Es werde "sich
geschwind entscheiden", erklärt er, "ob ich Ursache habe, mich weiter
anzuschließen, oder ob nicht vielmehr Herz und Klugheit mir unwiderstehlich
gebieten, mich von so mancherlei Banden loszureißen, die mir eine ewige elende
Gefangenschaft drohen." (HA, 7, 568)
Selbst wenn die weitere Entwicklung Wilhelm mit der Turmgesellschaft versöhnt,
bleibt seine Haltung gegenüber ihrem Programm ambivalent, denn er scheint zu
spüren, daß dieses Programm zwar durchaus Elemente kommunitären Handelns in
den Modernisierungsprozeß integriert und eine friedliche Koexistenz fördert,
daß es aber das Gemeinschaftsbedürfnis nicht wirklich zu befriedigen vermag.
Der Antagonismus von Gemeinschaft und Gesellschaft, sozialer Gerechtigkeit und
individueller Freiheit, emotionaler Innenwelt und rationaler Außenwelt wird in
diesem Programm nicht durch eine Synthese aufgehoben, sondern in einem
Kompromiß organisiert. Dieser Kompromiß hat einiges für sich. Er kann das
Nebeneinander nach unten absichern und davor schützen, zu einem Gegeneinander
zu verkommen, er kann den Modernisierungsprozeß in eine Richtung steuern, die
dem Individuum erlaubt, seine rationalen Interessen zu verfolgen, ohne daß der
soziale Friede gefährdet ist, aber er kann das Miteinander nicht ersetzen. Der
Entwurf, den die Turmgesellschaft formuliert, ist und bleibt ein
Gesellschaftsentwurf. Wilhelm positioniert sich gegenüber diesem Entwurf auf
der Seite der Gemeinschaft.
Während die Lehrjahre den Beginn eines sich beschleunigenden
Vergesellschaftungsprozesses reflektieren und in einer historisch noch offenen
Situation fragen, wie denn ein gesellschaftlicher Fortschritt auszusehen hätte,
der gemeinschaftliche Kommunikationsformen integriert, ist für die Wanderjahre
das Rennen bereits gelaufen; der 1829 erschienene Fortsetzungsroman diskutiert,
wie Gemeinschaft innerhalb einer modernen Gesellschaft hergestellt werden könne
- und das, ohne die durch die Aufklärung errungene individuelle Autonomie
aufgeben zu müssen.
Gleichwohl beginnen auch die Wanderjahre mit einem Blick auf diejenige Form des
Zusammenlebens, die nach Ferdinand Tönnies den Ursprung aller Gemeinschaft
bildet, die Familie. "Die Theorie der Gemeinschaft", so Tönnies, gehe
"von der vollkommenen Einheit menschlicher Willen als einem ursprünglichen
oder natürlichen Zustande aus, welcher trotz der empirischen Trennung und durch
dieselbe hindurch, sich erhalte, je nach der notwendigen und gegebenen
Beschaffenheit der Verhältnisse zwischen verschieden bedingten Individuen
mannigfach gestaltet. Die allgemeine Wurzel dieser Verhältnisse ist der
Zusammenhang des vegetativen Lebens durch die Geburt; die Tatsache, daß
menschliche Willen, insofern als jeder einer leiblichen Konstitution entspricht,
durch Abstammung und Geschlecht miteinander verbunden sind und bleiben, oder
notwendigerweise werden." (Tönnies: 7)
Mit diesen Worten beginnt der Soziologe den Ersten Abschnitt seiner Theorie der
Gemeinschaft. Er vertritt und entwickelt dort die These, die natürliche
Verbundenheit, das Miteinander in der Familie sei Grundlage allen
gemeinschaftlichen Lebens. Dieser These zufolge bildet die "Gemeinschaft
des Blutes als Einheit des Wesens" den Kernbereich eines konzentrisch
strukturierten Systems gemeinschaftlicher Lebens- und Kommunikationsformen, das
über eine "Gemeinschaft des Ortes, die im Zusammenwohnen ihren
unmittelbaren Ausdruck hat", in eine "Gemeinschaft des Geistes"
mündet, "als dem bloßen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen
Richtung, im gleichen Sinne". Letztere bewertet Tönnies "in ihrer
Verbindung mit den früheren als die eigentlich menschliche und höchste Art von
Gemeinschaft, [...] eine Art unsichtbarer Ortschaft, eine mystische Stadt und
Versammlung, die gleichsam durch eine künstlerische Intuition, einen
schöpferischen Willen lebendig ist".
Damit ist das Terrain gemeinschaftlicher Lebensformen abgesteckt: Die
genealogische Verbindung als engste Einheit, als Kern des Miteinanders; die
Gemeinschaft des Ortes als mittlere Einheit, die noch persönliche Bekanntschaft
voraussetzt; die Gemeinschaft des Geistes als die am weitesten ausgreifende,
nurmehr mental vermittelte Form des Miteinanders. "Wo immer Menschen in
organischer Weise durch ihre Willen miteinander verbunden sind und einander
bejahen, da ist Gemeinschaft von der einen oder der anderen Art vorhanden, indem
die frühere Art die spätere involviert, oder diese zu einer relativen
Unabhängigkeit von jener sich ausgebildet hat." (Tönnies: 12)
Johann Wolfgang Goethe eröffnet seinen Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre mit
der Begegnung zweier Familien. Wilhelm und sein Sohn Felix treffen auf Joseph,
Maria und ihre Kinder, die in einem verfallenen Kloster in der Abgeschiedenheit
des Gebirges wohnen und ihr Leben als anachronistische Inszenierung der
"Heiligen Familie" (HA, 8, 12) gestalten. Wilhelm wird auf diese Weise
mit dem - freilich imitierten - Archetyp der traditionellen Familiengemeinschaft
konfrontiert.
Diese Begegnung bringt ihn dazu, die Erlebenswelt eines modernen Subjekts, also
seine eigene, unter Zuhilfenahme einer traditionellen Vorlage zu analysieren und
im Hinblick auf die Befriedigung des Gemeinschaftsbedürfnisses als defizitär
zu erkennen.
Wenn Joseph seine Lebensgeschichte erzählt, so erzählt er von einem Geflecht
gemeinschaftlicher Beziehungen. In diesem Geflecht wird er sozialisiert, aus ihm
schöpft er seine Identität. Bereits seine Ausgangsposition ist geprägt von
der Verwurzelung in eine mehrere Generationen währende Familientradition und
der Mitgliedschaft in einer sich lokal definierenden Gemeinschaft. Aus dieser
gemeinschaftlich fest verankerten Position heraus tritt Joseph ins Leben und
geht weitere Verbindungen ein, gründet eine eigene Familie, setzt die Tradition
fort.
Anders Wilhelm. Dessen Lehrjahre bestehen vornehmlich aus der Auflösung
gemeinschaftlicher Beziehungen. Wilhelm verläßt sein Elternhaus und kappt alle
familiären Bindungen. Die Liebe zu der Schauspielerin Mariane geht in die
Brüche, er entsagt dem Theater und gibt den Kontakt zu seinen Kollegen auf. Die
Freundschaft mit Werner löst sich, weil die Entwicklung der beiden in
unterschiedliche Richtungen verläuft. Mignon und der Harfner, die ihm eine Art
Familienersatz geworden waren, sterben. Selbst dort, wo Verbindungen neu
entstehen, etwa zur Turmgesellschaft oder zu Natalie, werden sie geographisch
wieder gelöst, bleiben "geistig". Die Turmgesellschaft erhebt dies
sogar zum Programm und nimmt Wilhelm ein Versprechen ab, das Sich-Trennen zum
Ordnungsprinzip seiner Wanderjahre zu machen.
Die einzige Beziehung, die zumindest zeitweise in ein unmittelbares
Zusammenleben mündet, ist diejenige zu Felix. Allein ihm und der Tatsache, daß
die geistige Verbundenheit mit der Turmgesellschaft und mit Natalie trotz der
räumlichen Trennung bestehen bleibt, ist es zu verdanken, daß Wilhelm nicht
haltlos umherirrt, als modernes Subjekt in die Welt geworfen, ohne
identitätsstiftendes gemeinschaftliches Gefüge.
Stellt man bei der Lektüre die Lebensgeschichten Josephs und Wilhelms
vergleichend nebeneinander, dann wird eines deutlich: Die
"Verwandtschaft", die Wilhelm zu Joseph empfindet, resultiert nicht
aus einer tatsächlich vorhandenen Ähnlichkeit der Lebensumstände - Wilhelm
selbst nennt als Gemeinsamkeiten lediglich die "Verehrung seines
Weibes" und "das Zusammentreffen dieser beiden Liebenden" (HA, 8,
28) -, sondern sie resultiert aus dem unglücklichen Bewußtsein einer
Differenz. Sie ist Ausdruck einer Sehnsucht, die Wilhelm verspürt und die eine
unübersehbar krisenhafte Nebenwirkung des gesellschaftlichen
Modernisierungsprozesses ist: die Sehnsucht nach einem gemeinschaftlichen
Miteinander.
Daß Joseph, so notiert Wilhelm, "mit seinem Familienzug abends in das alte
Klostertor eindringen kann, daß er unzertrennlich von seiner Geliebten, von den
Seinigen ist, darüber darf ich ihn wohl im stillen beneiden" (HA, 8, 28).
Der gesellschaftliche Modernisierungsprozeß befreit den Menschen von der
Zwängen der Tradition. Aber eben nicht nur von den Zwängen. Der Preis der
Modernisierung ist die Zerstörung von Tradition insgesamt, also der Verlust
auch solcher Optionen, die zumindest als Optionen erhaltenswert erscheinen -
Dialektik der Aufklärung. Eine dieser Optionen ist die eines gemeinschaftlichen
Miteinanders, und Wilhelms Begeisterung für Joseph und seine Familie ist nichts
anderes als ein Ausdruck seiner Trauer über den Verlust dieser Option. Er kann
ohne sie leben. Und er will nicht mit ihr leben müssen. Aber er will vielleicht
mit ihr leben können, wenn ihm danach zumute ist.
Ferdinand Tönnies' Theorie der Gemeinschaft unterscheidet drei Formen
gemeinschaftlichen Miteinanders: eine Gemeinschaft des Blutes, des Ortes und des
Geistes. Letztere ist in der Hauptsache bestimmt durch ein
"Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen Richtung" - ein
Kriterium, das die Turmgesellschaft, die in den Wanderjahren auch als
"Gemeinschaft der Entsagenden" (HA, 8, 84) bezeichnet wird, wohl
erfüllt. Man könnte also einwenden, Wilhelm sei ja Mitglied einer
Gemeinschaft, sogar einer von der höchsten Art. Warum sollte ausgerechnet er
sich nach einem gemeinschaftlichen Miteinander sehnen?
Nach Tönnies sind die genannten Gemeinschaftsformen aufeinander bezogen, gehen
auseinander hervor. Seine Theorie der Gemeinschaft ist eine Entwicklungstheorie.
Die aus genealogischen Verbindungen bestehenden Gemeinschaften formieren sich zu
einer Gemeinschaft lokalen Zusammenlebens, und diese beiden Formen gehen jeder
geistigen Gemeinschaft voraus, die erst "in ihrer Verbindung mit den
früheren" zur höchsten Art sich entwickelt. "Alle drei Arten von
Gemeinschaft hängen unter sich auf das engste zusammen." (Tönnies: 12)
Vor diesem Hintergrund wird Wilhelms Dilemma deutlich. Die Turmgesellschaft hat
sich entsprechend der Tönniesschen Theorie entwickelt. Ihre Mitglieder sind zum
großen Teil verwandtschaftlich miteinander verbunden. Lotharios Schloß mit dem
Turm, auf den der Name zurückgeht, ist der zentrale, gemeinschaftsstiftende
Ort. Mögen sich die Mitglieder nach und nach in alle Winde zerstreuen, dieser
gemeinsame Bezugspunkt bleibt ihnen.
Wilhelm ist von außen zur Gemeinschaft gestoßen, wurde von ihr rekrutiert. Die
Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Entsagenden, die Teilhabe am kollektiven
Bewußtsein der Turmgesellschaft bleibt Hülle ohne Kern, weil und solange er
weder über einen geographischen bzw. sozialen Lebensmittelpunkt verfügt noch
in eine zumindest familienähnliche Gemeinschaft eingebunden ist.
Zwar wird Wilhelm auf seiner Wanderschaft von Felix begleitet, aber selbst wenn
man zugesteht, daß ein alleinerziehender Vater und sein Sohn eine Familie
bilden, so bleibt doch das Faktum der Wanderschaft, die fehlende Einbindung in
eine lokale Gemeinschaft. Solange Wandern für Wilhelm ein Zustand ist, eine
wahl- und ziellose Bewegung im Irgendwo, und solange ein Bleiben ihm nicht
gestattet ist, so lange wird sich sein Bedürfnis nach einem gemeinschaftlichen
Miteinander nicht hinreichend befriedigen lassen.
Die Begegnung mit der Josephsfamilie rückt ihm das Gemeinschaftsbedürfnis ins
Bewußtsein, ohne eine geeignete Möglichkeit zur Befriedigung in Aussicht zu
stellen. Er weiß jetzt aber, was er sucht. "Einige Tage sind mir angenehm
vergangen, aber der dritte mahnt mich nun, auf meinen weitern Weg bedacht zu
sein." (HA, 8, 29)
Nachdem Wilhelm und sein Sohn die Josephsfamilie verlassen haben, kommen sie zum
Bezirk des Oheims, zu "jenen ausgedehnten Gütern des großen
Landbesitzers, von dessen Reichtum und Sonderbarkeiten man ihnen so viel
erzählt hatte. [...] Ein großer Garten, nur der Fruchtbarkeit, wie es schien,
gewidmet, lag, obgleich mit Obstbäumen reichlich ausgestattet, offen vor ihren
Augen, indem er regelmäßig, in mancherlei Abteilungen, einen zwar im ganzen
abhängigen, doch aber mannigfaltig bald erhöhten, bald vertieften Boden
bedeckte. Mehrere Wohnhäuser lagen darin zerstreut, so daß der Raum
verschiedenen Besitzern anzugehören schien, der jedoch [...] von einem einzigen
Herrn beherrscht und benutzt ward. Über den Garten hinaus erblickten sie eine
unabsehbare Landschaft, reichlich bebaut und bepflanzt. Sie konnten Seen und
Flüsse deutlich unterscheiden." (HA, 8, 44f.)
Was sich den Wanderern hier zunächst als ein fruchtbares Idyll inmitten der
kargen Bergwelt präsentiert, entpuppt sich kurz darauf als das durch eine
"hohe Mauer" und einen "tiefe[n] Graben" geschützte
Betriebsgelände eines land- und forstwirtschaftlichen Unternehmens. Ein
Mitarbeiter informiert sie über den Grund für die strengen
Sicherheitsvorkehrungen.
"Der Herr dieser Besitzung, im höhern Sinne wohltätig, daß er alles um
sich her zum Tun und Schaffen aufregte, hatte aus seinen unendlichen
Baumschulen, seit mehreren Jahren, fleißigen und sorgfältigen Anbauern die
jungen Stämme umsonst, nachlässigen um einen gewissen Preis und denen, die
damit handeln wollten, gleichfalls, doch um einen billigen, überlassen. Aber
auch diese beiden Klassen forderten umsonst, was die Würdigen umsonst
erhielten, und da man ihnen nicht nachgab, suchten sie die Stämme zu entwenden.
Auf mancherlei Weise war es ihnen gelungen. Dieses verdroß den Besitzer um so
mehr, da nicht allein die Baumschulen geplündert, sondern auch durch
Übereilung verderbt worden waren." (HA, 8, 48)
Beim Oheim bestimmt der Gebrauch, der von seinen Produkten gemacht wird, den
Preis, den der Käufer zu zahlen hat. Dieses Vorgehen empfinden die sich bereits
am modernen, wirtschaftsliberalen Denken orientierenden Landwirte und Händler
der Umgebung als eine Übervorteilung, und sie klagen Marktgerechtigkeit ein -
gleicher Preis für gleiche Ware. Als das nichts nützt, versuchen sie, diese
Marktgerechtigkeit selbst herzustellen und nehmen sich, was ihnen ihrer Meinung
nach zusteht. Ihr Eindringen in die Baumschule symbolisiert das Eindringen des
modernen Kapitalismus in eine überkommene Ordnung, die der Oheim auf seinem
Territorium zu bewahren sucht.
Bei der Mauer, die das Gelände sichert, handelt es sich demnach um den Prototyp
eines antikapitalistischen Schutzwalles. Allerdings umgibt er nicht ein
Gemeinwesen, das sich ideologisch jenseits eines bereits entwickelten modernen,
kapitalistischen Wirtschaftssystems wähnt, sondern er schützt ein vormodernes
Unternehmen, das sich in seiner Existenz bedroht sieht von einem Kapitalismus
ante portas, der sich in Stellung bringt, um seinen globalen Siegeszug
anzutreten.
Die Grenzbefestigung dient also nicht nur dem Schutz der Bäume. Sie trennt zwei
Welten voneinander. Den Unterschied zwischen diesen Welten macht Goethe an einem
Punkt deutlich, an dem scheinbar eine Gemeinsamkeit vorliegt: in ihrer
ökonomischen Ausrichtung auf den Nutzen - der Autor läßt keinen Zweifel
daran, daß auch im Bezirk des Oheims der Nutzen Ziel wirtschaftlichen
Tätigseins ist. Wilhelm findet "nichts, was einem älteren Lustgarten oder
einem modernen Park ähnlich gewesen wäre; gradlinig gepflanzte Fruchtbäume,
Gemüsefelder, große Strecken mit Heilkräutern bestellt, und was nur irgend
brauchbar konnte geachtet werden, übersah er auf sanft abhängiger
Fläche" (HA, 8, 49). Die nüchtern-praktische Einrichtung eines
plantagenartigen Nutzgartens bestimmt die Perspektive. Doch die Produktivität,
die hier angestrebt wird, ist weit davon entfernt, eine moderne zu sein.
Die Moderne formiert sich als ein in seinen Grundsätzen wirtschaftsliberales
Projekt, welches das Individuum als Subjekt wirtschaftlichen Handelns in den
Mittelpunkt rückt. Nutzen meint dort Eigennutz, schlägt sich nieder als der in
Zahlen meßbare Profit eines einzelnen, der dann mittelbar dem Wohle aller, d.h.
der Volkswirtschaft dienen soll.
Die Unternehmensphilosophie des Oheims ist eine andere. Der erwirtschaftete
Ertrag kommt unmittelbar den Menschen zugute. Gemeinwohl ist hier kein
sozialphilosophisch-abstrakter Begriff, der sich nur als buchhalterische Größe
angeben ließe, sondern meint "ganz aufs Praktische bezogen" (HA, 8,
66) das Wohlergehen der Gemeinschaft, für die der Oheim sich verantwortlich
fühlt; was er unternimmt, geschieht "dem großen, nahen Gebirg
zuliebe" (HA, 8, 67), und das heißt den dort lebenden Menschen.
Außerhalb seines Bezirks dominiert längst die moderne Ökonomie der
bürgerlichen Gesellschaft. Aus deren Perspektive stellt sich sein ökonomisches
Handeln als Mißwirtschaft dar, und dieser Vorwurf wird dem Oheim auch gemacht.
Er läßt jedoch außer acht, daß das, was aus der individualistischen Sicht
der modernen Ökonomie ein Fehlverhalten darstellt, die Ansprüche einer Ethik
lokalen, gemeinwohlorientierten Handelns aufs beste erfüllt. "Das Mindere
der Einnahme betracht' ich als Ausgabe, die mir Vergnügen macht, indem ich
andern dadurch das Leben erleichtere; ich habe nicht einmal die Mühe, daß
diese Spende durch mich durchgeht, und so setzt sich alles wieder ins
gleiche." (HA, 8, 69)
Die soziale Struktur im Bezirk des Oheims wird dominiert von gemeinschaftlichen
Kommunikationsformen: Die Zahl der Menschen ist nicht groß, man kennt sich
persönlich, fühlt sich einander verbunden, erwirtschaftet gemeinsam das zum
Leben Notwendige, verfügt über eine organisch gewachsene kulturelle
Identität. Diese gemeinschaftliche Struktur wirkt aber nicht deswegen so
stabil, weil die Menschen sich in freier Entscheidung für ihren Erhalt
ausgesprochen hätten, sondern weil ihnen genau diese Freiheit der Entscheidung
fehlt. Die kulturelle Identität ist eine von oben verordnete.
Die Menschen sind abhängig von einem in jeder Hinsicht privilegierten
Großgrundbesitzer und dessen Monopolstellung bei der materiellen Versorgung der
Region. Diese ökonomische Abhängigkeit begründet die politische
Alleinherrschaft des Oheims. Sein sich am Bedarf der Gemeinschaft orientierendes
unternehmerisches Handeln korrespondiert mit einer aufgeklärt-absolutistischen
Herrschaftsform, die den patriarchalen Anspruch auf "absolute [...]
Gewalt" (HA, 8, 69) uneingeschränkt aufrechterhält, ihn aber nicht mit
Gottesgnadentum legitimiert, sondern mit dem Bemühen um das Wohlergehen der zur
Gemeinschaft gehörenden Menschen. Was allerdings für dieses Wohlergehen
notwendig ist und was nicht, bestimmt niemand anders als der Oheim. Das
Miteinander in seinem Bezirk basiert nicht auf einer mehrheitlich und frei
getroffenen Entscheidung, eine gemeinsame kulturelle Identität gegenüber den
Einflüssen der rasant sich entwickelnden gesellschaftlichen Modernisierung zu
verteidigen. Es wird reguliert von einem Mechanismus sozialer Kontrolle und
politisch-ökonomischer Abhängigkeit.
Es mag Goethes Absicht gewesen sein, mit der Figur des Oheims das Bild eines
aufgeklärten, sich als Ersten Diener seines Volkes begreifenden Fürsten zu
zeichnen, er mag vielleicht sogar daran gedacht haben, am Ende der langjährigen
Zusammenarbeit mit dem Herzog Carl August seinem Freund und Gönner mit einem
literarischen Porträt noch einmal eine Reverenz zu erweisen - in der modernen,
bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts läßt sich das paternalistische
Gemeinschaftskonzept, das Goethe hier entwirft, nur noch als ein Anachronismus
darstellen. Weil diesem Gemeinschaftskonzept ein ungleichzeitig gewordenes
Politikverständnis zugrunde liegt, das in der Auseinandersetzung mit der
modernen Welt nicht mehr durchsetzungsfähig ist, kann es nur territorial
getrennt von ihr existieren, in einem Gemeinschaftsschutzgebiet, umgeben von
Mauer und Graben.
Was mit solchen vormodernen Formen gemeinschaftlichen Zusammenlebens geschieht,
wenn sie sich nicht durch Mauer und Graben vor dem Zugriff des
Modernisierungsprozesses schützen, das schildern die Wanderjahre am Beispiel
der Gemeinschaft der Spinner und Weber. In der Gebirgsregion. in der sie leben,
gehört die Arbeit noch zu jenen Faktoren, die die kulturelle Identität einer
Gemeinschaft ausmachen, wie Sprache, Religion, Kunst usw. Das charakterisiert
diese Gemeinschaft als vormodern. Denn die Moderne bricht die Arbeit aus der
Sphäre gemeinschaftlicher Lebenszusammenhänge heraus und ordnet sie der
gesellschaftlichen Ebene zu. In der modernen Welt bestimmt nicht mehr die
berufliche Tätigkeit die kollektive Identität einer lokalen Gemeinschaft,
sondern allenfalls eine berufliche Tätigkeit die individuelle Identität eines
Menschen - heute oft nicht einmal mehr die.
Lenardos Tagebuch dokumentiert die Bedrohung, die von einem bevorstehenden
Modernisierungsschub ausgeht, der die Hand(werks)arbeit durch Maschinenarbeit
ersetzen und eine große Zahl der Spinner und Weber aus dem Produktionsprozeß
vertreiben wird. Er wird die Arbeit aus der gemeinschaftlichen Sphäre
heraustrennen und das lokale Miteinander in ein Nebeneinander auflösen.
Gemeinschaft setzt voraus, daß man etwas gemeinsam schafft, nicht, daß man
miteinander um Gewinne und Arbeitsplätze konkurriert. Der Fortschritt, der
über die von Lenardo beschriebenen Menschen hinweg fortschreitet, wird aus der
Gemeinschaft der Spinner und Weber, aus einem "lebendigen Ganzen" (HA,
8, 337) eine Masse von Arbeitern einerseits, eine "industrielle
Reservearmee" von Arbeitslosen andererseits machen. Als Lenardo die
Menschen in den Bergen kennenlernt, hat sie der Fortschritt noch gar nicht
erreicht. Aber er ist präsent als Bedrohung, und schon die Bedrohung entfaltet
eine gemeinschaftszerstörende Wirkung.
Das Tagebuch zeigt davon einen Ausschnitt. Es zeigt die Menschen bei der Arbeit
und begleitet den Produktionsprozeß von der Rohstoffverteilung über
verschiedene Zwischenstufen bis zum fertigen Produkt. Dem entspricht eine
Bewegung von der Peripherie zum Zentrum, von den entlegenen Häusern im Gebirge
zu den Fabrikanten im Tal. Das Gewerbe ist in Form eines Verlages organisiert,
als ein Netzwerk. Die einzelnen Schritte der Produktion werden dezentral in den
Häusern der Spinner und Weber durchgeführt - Wohnstätte und Arbeitsplatz sind
nicht getrennt, die zugewiesene Arbeit wird unter allen Mitgliedern einer
Familie aufgeteilt -, der gesamte Herstellungsprozeß bleibt jedoch auf einen
Knotenpunkt, die sogenannten Fabriken, bezogen. Von dort aus wird das
Rohmaterial an die Spinner verteilt, dorthin gelangt das gesponnene Garn, von
dort wird es an die Weber weitergegeben, dort landet der gewebte Stoff und von
dort wird er an den Großhandel verkauft bzw. gegen neues Rohmaterial
eingetauscht.
Das Tagebuch zeigt sieben Tage im Leben der Spinner und Weber, als wären sie
wie alle Tage - mit den immer gleichen Arbeitsabläufen, den immer gleichen
Sozialkontakten, mit all den Ritualen, die das Leben der Menschen strukturieren.
Zugleich weist es aber darauf hin, daß diese Tage gezählt sind, daß nichts so
bleiben wird, wie es ist. Für die Menschen, die im Gebirge leben und arbeiten,
deren kulturelle Identität sich aus der Zugehörigkeit zu ihrem Handwerk
ableitet, bedeutet dies, daß ihnen nicht nur die ökonomische Basis entzogen,
sondern auch eine wesentliche Grundlage ihrer lokalen Kultur geraubt werden
wird.
Von heute aus betrachtet, vor dem Hintergrund eines allenthalben beklagten
Gemeinschaftsdefizits, liegt der Reiz des Tagebuches besonders darin, daß es
eine Welt reinen Miteinanders entwirft, eine Welt, in der die Arbeit der
gemeinschaftlichen Sphäre angehört, sie geradezu konstituiert.
Hundert Jahre nach Erscheinen der Wanderjahre hat Helmuth Plessner die Grenzen
der Gemeinschaft von einem sozialphilosophischen Standpunkt aus erörtert. Seine
Ausführungen können zum Verständnis von Goethes Roman beitragen, weil sie
davor warnen, die gemeinschaftliche Lebensform zu verklären und sie als
Gegenutopie der gesellschaftlichen Öffentlichkeit vorzuhalten. Die moderne
Gesellschaft als fehlentwickelt abzutun und "ein idealistisches Gebilde,
die reine Kultur, als das Höhere hinzustellen, ist verhältnismäßig billig,
doch um so gefährlicher, als der Gemeinschaftsradikalismus an dem Widerspiel
der Wertbegriffe Zivilisation - Kultur Unterstützung seiner Antithese
Gesellschaft - Gemeinschaft findet. Kultur wird dann ein
sentimental-oppositioneller Begriff des zu Höherem bestimmten Menschen, dessen
eigentliches Wesen nach Gemeinschaft oder vielleicht sogar nach einer Synthese
von Gemeinschaft und Gesellschaft strebt." (Plessner: 93)
Inmitten einer völkisch-nationalistisch aufgeladenen Atmosphäre beklagt
Plessner, daß die Gemeinschaft zum "Idol dieses Zeitalters" (Plessner:
28) geworden sei, und hebt demgegenüber "die der Gemeinschaft überlegene
Größe" (Plessner: 38) des Gesellschaftlichen hervor. Ihm gehe es nicht
darum, "gegen das Recht der Lebensgemeinschaft, ihren Adel und ihre
Schönheit" zu Felde zu ziehen. "Aber es geht gegen ihre Proklamation
als ausschließlich menschenwürdige Form des Zusammenlebens; nicht gegen die
communio, wohl aber gegen die communio als Prinzip, gegen den Kommunismus als
Lebensgesinnung, gegen den Radikalismus der Gemeinschaft." (Plessner: 41)
Plessners Hinweise auf die dem Gemeinschaftsleben immanente Tendenz, die
Individuen so zu vereinnahmen, daß ihre individuelle Autonomie auf der Strecke
bleibt und sie gar nicht mehr als Individuen zu erkennen sind, können den Leser
der Wanderjahre für die Wahrnehmung jener Zwänge und Einschränkungen
sensibilisieren, denen die Mitglieder der in Lenardos Tagebuch beschriebenen
"abgeschlossenen Kreise" (HA, 8, 337) ausgesetzt sind. Diese Zwänge
und Einschränkungen markieren jene Punkte, an denen eine Modernisierung
gemeinschaftlicher Lebens- und Kommunikationsformen anzusetzen hätte.
Die Familien- und Arbeitsgemeinschaften der Spinner und Weber gewähren nur
einen minimalen Spielraum für individuelle Neigungen und Affinitäten, begrenzt
durch den engen Rahmen, den das Berufsbild vorgibt. Jedes Familienmitglied
übernimmt die Arbeit, die seiner körperlichen und charakterlichen Eignung am
ehesten entspricht. Die Kinder - an Winterabenden auch die Brüder und
Ehemänner - reinigen die Baumwolle und bereiten sie für den nächsten
Arbeitsschritt vor, die Frauen und Mädchen spinnen sie zu Garn, die einen am
Spinnrad zu Rädligarn, die anderen, "ruhigen, bedächtigen", (HA, 8,
342) mit einer Handspindel zum höherwertigen Briefgarn. Individuelle Kriterien
wie Alter, Körpergröße, Geschicklichkeit, Charakter werden bei der
familieninternen Arbeitsteilung berücksichtigt, doch suchen nicht die Menschen
sich eine Arbeit aus, sondern die Arbeit sucht sich die passenden Menschen.
Die Gemeinschaft der Spinner und Weber konstituiert sich aus der Zugehörigkeit
zu einem Handwerk, aber eben nur zu einem. Der gewerblichen Monokultur entkommt
niemand. Eine zweite Einschränkung erfährt die individuelle Autonomie dadurch,
daß Arbeit und Leben nicht voneinander zu trennen sind. Ein persönlicher
Freiraum jenseits des Handwerks existiert nicht. Jeder, der Neigungen
entwickelte, die mit den Anforderungen des Berufes nicht in Einklang zu bringen
sind, geriete, sofern er diesen Neigungen folgte, ins soziale Abseits. Das wird
sich aber niemand antun, denn es gibt nichts außerhalb der Gemeinschaft. Eine
gesellschaftliche Ebene, in die man sich retten könnte - und sei es nur so
lange, bis man sich einer anderen Gemeinschaft anzuschließen wünschte -, nach
einer solchen gesellschaftlichen Ebene sucht man bei den Spinnern und Webern der
Wanderjahre vergebens.
Anhand von Lenardos Tagebuchaufzeichnungen zeigt sich, daß mit einer Kehrtwende
niemandem geholfen ist. Heute müßte es darum gehen, moderne Formen von
Gemeinschaft zu entwickeln, die sich neben und innerhalb einer hochentwickelten
Gesellschaft behaupten können. Eine moderne Gemeinschaft hätte sich mit der
Frage auseinanderzusetzen, wie sich die Anforderungen, die das
Gemeinschaftsleben an den einzelnen stellt, mit dem Wunsch nach individueller
Autonomie vereinbaren ließen. Nur wenn die relative Unabhängigkeit des
Individuums gewährleistet ist, wird Gemeinschaft sich auch innerhalb einer
modernen Gesellschaft multipler beruflicher und sonstiger Kulturen behaupten
können - und das, ohne die Beteiligten an sich zu ketten.
Moderne Gesellschaften erfordern moderne Formen gemeinschaftlichen
Zusammenlebens, eine neue Ethnizität etwa, die sich, folgt man darin dem
Kulturwissenschaftler Stuart Hall, durch "eine neue kulturelle
Politik" auszuzeichnen hätte, "die Differenzen eher unterstützt als
unterdrückt" und die "den Begriff der Ethnizität [...] von seinen
Äquivalenzen mit Nationalismus, Imperialismus, Rassismus und dem Staat zu
entkoppeln" (Hall: 22) vermag. Ein solcher Begriff von Ethnizität bliebe
ein Begriff räumlicher Orientierung und Positionierung, würde sich aber nicht
über die - woraus auch immer - konstruierte Homogenität einer Gemeinschaft
definieren, sondern über das Zusammenleben auf lokaler, individuell erfahrbarer
Ebene.
Während sich in Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein modernes
System großflächiger Nationalstaaten konsolidiert und man auch im
zersplitterten Deutschland erste Schritte unternimmt auf dem Weg, einmal eine
verspätete Nation zu werden, während sich also im Politischen eine Entwicklung
durchzusetzen beginnt, die die Bedeutung lokaler und regionaler kultureller
Identität herunterspielt, Unterschiede homogenisiert oder zu Nuancen einer
nationalen Identität erklärt, eröffnen die Wanderjahre einen Diskurs über
die Zukunft lokaler Gemeinschaftsformen unter den Bedingungen einer sich
ausbreitenden Moderne.
Goethe inszeniert diesen Diskurs, indem er zwei soziale Konstruktionen - ein
nordamerikanisches und ein binneneuropäisches Siedlungsprojekt - und mit ihnen
zwei unterschiedliche Formen sozialer Integration gegeneinander montiert. Liest
man diese beiden Entwürfe vor dem Hintergrund von Goethes
entwicklungstheoretischer Leitidee von Polarität und Steigerung, dann wird
erkennbar, daß sie den defizitären Charakter eines Modernisierungsprozesses
dokumentieren, der Entwicklung allein auf der Grundlage fortgesetzter
Differenzierung, mithin als Auseinanderentwicklung betreibt.
Zwar sieht auch Goethe in einem analytischen Trennen die Voraussetzung für
Entwicklung - darin stimmt seine Vorstellung durchaus mit dem
Fortschrittskonzept der Moderne überein. Im Unterschied dazu liegt Goethes
Entwicklungsdenken aber die aus der Naturbeobachtung gewonnene Einsicht
zugrunde, daß die getrennten Teile sich in einem polaren Bezug zueinander
befinden und nach erfolgter Steigerung auf einen Ausgleich drängen.
"Was in die Erscheinung tritt, muß sich trennen, um nur zu
erscheinen. Das Getrennte sucht sich wieder, und es kann sich wieder finden und
vereinigen; im niedern Sinne, indem es sich nur mit seinem Entgegengestellten
vermischt, mit demselben zusammentritt, wobei die Erscheinung Null oder
wenigstens gleichgültig wird. Die Vereinigung kann aber auch im höhern Sinne
geschehen, indem das Getrennte sich zuerst steigert und durch die Verbindung der
gesteigerten Seiten ein Drittes, Neues, Höheres, Unerwartetes
hervorbringt." (Leopoldina: 56)
Folgt man dieser Vorstellung Goethes, dann liegt die Ursache für die
pathologische Qualität der modernen Fortschrittsideologie darin, daß sie den
polaren Bezug der getrennten Seiten ignoriert, Entwicklung allein auf der
Grundlage stetiger Trennung betreibt und ein Zusammenführen des Getrennten,
eine Synthese nicht für nötig hält. An den Siedlungsprojekten der Wanderjahre
läßt sich zeigen, inwieweit das Auseinanderdriften jener beiden Pole sozialer
Integration - des gemeinschaftlichen Miteinanders auf der einen Seite, des
gesellschaftlichen Nebeneinanders auf der anderen - das Ergebnis einer auf diese
Weise fehlgeleiteten Entwicklung ist.
Odoards binneneuropäisches Kolonisierungsprojekt steigert einseitig den Pol
sozialer Kohärenz und gemeinschaftlichen Miteinanders, Lenardos
Auswanderungsvorhaben entwickelt, nicht weniger einseitig, den
gesellschaftlichen Pol, der das Individuum von allen gemeinschaftlichen
Bindungen zu emanzipieren bemüht ist. Beide Siedlungsprojekte präludieren eine
moderne Fehlentwicklung, die die polare Trennung sozialer Integration
radikalisiert anstatt aufhebt. In der fiktiven Wirklichkeit der Wanderjahre ist
ein gemeinsames Drittes nicht in Sicht. Opfer dieser Fehlentwicklung sind die
vom Modernisierungsschub der Industrialisierung bedrohten Handwerker, die Goethe
mit dramaturgischem Geschick zwischen den Siedlungsprojekten plaziert. Sie
müssen sich für eines der Projekte entscheiden - und das heißt, gegen das
andere.
In einer Situation existentieller Bedrohung sehen sie sich mit dem
modernitätstypischen Phänomen der Ambivalenz konfrontiert, denn beide Optionen
befriedigen nur einen Teil ihrer Wünsche und Bedürfnisse. Schließen sie sich
Odoard an und nehmen an seinem europäischen Siedlungsprojekt teil, dann
bewahren sie sich die Vorzüge einer lokal verankerten kollektiven Identität,
verlieren aber die Bindung an die Moderne und damit die Aussicht auf einen
Zugewinn an individueller Autonomie. Kehren sie Europa den Rücken und begleiten
die Auswanderer in die Neue Welt, dann locken ökonomischer Erfolg,
Ungebundenheit und Freiheit, doch der Preis dafür ist der Verlust eines
gemeinschaftlichen Bewußtseins.
Die Gegenüberstellung dieser beiden Entwürfe sozialer Integration
konkretisiert ein Dilemma, in dem sich der moderne Mensch befindet, der beides
will - Teil eines Wir sein und Ich sein -, der aber nicht beides haben kann. Von
heute aus betrachtet, besteht die Modernität von Goethes Roman unter anderem
darin, daß er keine Lösung anbietet, daß er die Ambivalenz nicht auflöst,
sondern reflektiert. In einer Monographie über das literarische Werk Goethes
weist Peter Matussek darauf hin, daß Goethe mit dieser literarischen
Gegenüberstellung "die Situation von Menschen verdeutlicht, die nur
zwischen einer fluchtartigen Mobilität und einer ebenso unfreiwilligen
Beharrung wählen können. [...] Eine Antwort auf dieses Dilemma gibt der Roman
nicht, aber er vertieft das Verständnis des Problems, indem er es - nach dem
Prinzip der wiederholten Spiegelung - unter den verschiedensten Perspektiven
betrachtet, um entsprechende Verstärkungseffekte zu erzielen." (Matussek:
200)
Wirtschaftsflüchtlinge haben bei einer Auswanderung ökonomisch nicht viel zu
verlieren. Trotzdem fällt es den Handwerkern schwer, sich zu einer Teilnahme am
Migrationsprojekt durchzuringen. "Ein Gebirg halte seine Leute fest"
(HA, 8, 351), bekommt Lenardo auf seiner Reise zu hören, und nur eine
existentielle Notlage könne sie dazu veranlassen, ihrer Heimat für immer den
Rücken zu kehren. Auszuwandern bedeutet für die Handwerker nicht nur,
vertraute Menschen, Strukturen und Gewohnheiten zurücklassen zu müssen und
woanders neu zu beginnen. Es ist vielmehr gleichbedeutend mit dem Verlust ihrer
Identität, denn diese Identität stützt sich primär auf ein lokales
Bewußtsein.
Daher müssen die Gebirgsbewohner - trotz der Schwierigkeiten, unter den
gegebenen Umständen weiterhin ihre Existenz zu sichern - erst motiviert werden,
ihre vertraute Umgebung zu verlassen. Auf sie konzentrieren sich die
strategischen Überlegungen des Auswandererbundes. Man will sie davon
überzeugen, daß die Fremde ihnen nicht lange fremd sein wird, eine
Auswanderung sie nicht dauerhaft entwurzelt und sie in der amerikanischen
Kolonie eine neue Identität entwickeln werden.
Als Höhepunkt und Abschluß seiner diesbezüglichen Bemühungen organisiert der
Auswandererbund eine Großveranstaltung mit allen potentiellen Teilnehmern, auf
der entschieden werden soll, "wer denn wirklich in die Welt hinaus gehen,
oder wer lieber diesseits, auf dem zusammenhangenden Boden der alten Erde,
verweilen und sein Glück versuchen wolle." (HA, 8, 383f.)
Die Handwerker, die zu der Abschlußveranstaltung eingeladen sind, kommen mit
gemischten Gefühlen. Ein Lied macht die Runde.
Denn die Bande sind zerrissen,
Das Vertrauen ist verletzt;
Kann ich sagen, kann ich wissen,
Welchem Zufall ausgesetzt
Ich nun scheiden, ich nun wandern,
Wie die Witwe trauervoll,
Statt dem einen mit dem andern
Fort und fort mich wenden soll!
Das Lied von den zerrissenen Banden und dem verletzten Vertrauen bringt nicht
nur zum Ausdruck, daß, sondern auch, warum die Handwerker um ihre Identität
fürchten. Die Mitgliedschaft in einer geschlossenen Gemeinschaft, das
Dazugehören verleiht ihnen ein starkes Gefühl ontologischer Sicherheit - so
bezeichnet der britische Soziologe Anthony Giddens das "Zutrauen der
meisten Menschen zur Kontinuität ihrer Selbstidentität und zur Konstanz der
sie umgebenden sozialen und materialen Handlungsumwelt". (Giddens: 118)
In prämodernen Gemeinschaften, wie jener der Handwerker, basiert die
ontologische Sicherheit im wesentlichen auf "vier lokal fundierten
Kontexten des Vertrauens": dem Verwandtschaftssystem, das ein Netz stabiler
sozialer Beziehungen bildet; der Lokalität des Miteinanders, seiner
"ortsgebundenen Fundierung"; der Religion als einer verläßlichen
Doktrin zur Erklärung der Welt; der Tradition, die "das Vertrauen in die
Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufrechterhält und dieses
Vertrauen mit routinemäßigen sozialen Praktiken verbindet" (Giddens:
129ff.).
Erst die Entwicklung einer auf den Prinzipien der Aufklärung, also im
wesentlichen auf Rationalisierung, Säkularisierung und Individualisierung
basierenden Moderne sorgt für einen fortschreitenden Bedeutungsverlust jener
Vertrauenskontexte und betont demgegenüber die Autonomie des einzelnen.
"Keiner der unter vormodernen Verhältnissen gegebenen vier Brennpunkte des
Vertrauens und der ontologischen Sicherheit spielt unter Modernitätsbedingungen
eine vergleichbar wichtige Rolle. Verwandtschaftsbeziehungen bleiben zwar für
die Masse der Bevölkerung und besonders innerhalb der Kernfamilie von
Bedeutung, aber jetzt sind sie nicht mehr Träger inniger sozialer Bindungen.
[...] Die lokale Gemeinschaft ist keine in sich erfüllte Umwelt aus vertrauten
und als selbstverständlich vorausgesetzten Sinnelementen, sondern in hohem
Maße eine lokal situierte Äußerung auf Abstand gebrachter Beziehungen. [...]
An die Stelle der Religion tritt das reflexiv organisierte Wissen, das von
empirischer Beobachtung und logischem Denken bestimmt und auf materielle Technik
und sozial angewandte Kodes ausgerichtet ist. Religion und Tradition sind immer
schon eng miteinander verbunden gewesen, und letztere wird von der in
unmittelbarem Gegensatz zu ihr stehenden Reflexivität des modernen sozialen
Lebens sogar noch gründlicher untergraben." (Giddens: 136ff.)
Während die Entwicklung der Moderne mit der ihr immanenten Zerstörung der
Vertrauenskontexte als ein allmählich sich vollziehender, auf mehrere
Generationen verteilter Prozeß verläuft, müssen die migrationsbereiten
Handwerker der Wanderjahre sich darauf vorbereiten, diesen Wandel im
Schnellverfahren zu durchleben. Von den Vertrauenskontexten, auf die sich ihre
ontologische Sicherheit bisher stützt, wird nach einer Auswanderung nicht viel
übrigbleiben. Der Weg in die Neue Welt wird für sie zu einer Radikalkur in
Sachen Modernisierung werden.
Das Bemühen, Ängste abzubauen und den Handwerkern die Trennung zu erleichtern,
kennzeichnet denn auch eine vom Auswandererbund organisierte Großveranstaltung.
Im Mittelpunkt dieses Bemühens steht der Versuch, die potentiellen Teilnehmer
davon zu überzeugen, daß das Neue, das sie erwartet, den Verlust des Alten
schnell vergessen machen wird.
Es gelingt Lenardo, die Handwerker dazu zu bringen, ein Wanderlied anzustimmen,
das Mobilität mit jugendlicher Heiterkeit verbindet und so die Haltung des
Auswandererbundes zum Ausdruck bringt.
Bleibe nicht am Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften,
Überall sind sie zu Haus;
Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jede Sorge los:
Daß wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß.
Dieses Lied erklärt die mit dem Auswandern verbundenen Verlustängste für
unbegründet. Es fordert dazu auf, das Verwachsensein mit dem Boden aufzugeben
und den Weg nach "draußen" zu wagen, dort warte ein sorgenfreies
Leben auf all diejenigen, die - wie die Handwerker - über spezialisierte
Kenntnisse verfügen: Kopf und Arm mit heitern Kräften, Überall sind sie zu
Haus.
Lenardo stellt den Handwerkern eine neue Gemeinschaft als Ersatz für die alte
in Aussicht - eine, in der nicht lokales Bewußtsein und gegenseitiges
persönliches Vertrauen die Mitglieder aneinander bindet, sondern die durch
Taten bezeugte Bereitschaft, einen Nutzen zu erbringen.
Im Anschluß daran hält er eine Wanderrede, die mit einer Beschwörung dessen
beginnt, was bei Ferdinand Tönnies Gemeinschaft des Blutes und Gemeinschaft des
Ortes heißt. "Betrachten wir, meine Freunde, des festen Landes bewohnteste
Provinzen und Reiche, so finden wir überall, wo sich nutzbarer Boden hervortut,
denselben bebaut, bepflanzt, geregelt, verschönt und in gleichem Verhältnis
gewünscht, in Besitz genommen, befestigt und verteidigt. Da überzeugen wir uns
denn von dem hohen Wert des Grundbesitzes und sind genötigt, ihn als das Erste,
das Beste anzusehen, was dem Menschen werden könne. Finden wir nun, bei
näherer Ansicht, Eltern- und Kinderliebe, innige Verbindung der Flur- und
Stadtgenossen, somit auch das allgemeine patriotische Gefühl unmittelbar auf
den Boden gegründet, dann erscheint uns jenes Ergreifen und Behaupten des
Raums, im großen und kleinen, immer bedeutender und ehrwürdiger. Ja, so hat es
die Natur gewollt! Ein Mensch, auf der Scholle geboren, wird ihr durch
Gewohnheit angehörig, beide verwachsen miteinander, und sogleich knüpfen sich
die schönsten Bande." (HA, 8, 384)
Alles, was Lenardo sagt, dient dem einen Ziel, seinen Zuhörern die Angst vor
dem Verlust ihrer ontologischen Sicherheit zu nehmen, um sie zur Teilnahme am
Auswanderungsprojekt zu bewegen. Er holt die Handwerker, angesprochen als
"meine Freunde", in der vormodernen Welt ab und führt sie in die
moderne. "Wenn das, was der Mensch besitzt, von großem Wert ist, so muß
man demjenigen, was er tut und leistet, noch einen größern zuschreiben. Wir
mögen daher bei völligem Überschauen den Grundbesitz als einen kleineren Teil
der uns verliehenen Güter betrachten. Die meisten und höchsten derselben
bestehen aber eigentlich im Beweglichen und in demjenigen, was durchs bewegte
Leben gewonnen wird." (HA, 8, 385)
Lenardo verkauft den Handwerkern eine Zerstörung ihrer lokalen Gemeinschaft als
deren Weiterentwicklung und versucht, sie von den Vorteilen eines mobilen
kollektiven Bewußtseins zu überzeugen. Um den Eindruck zu erwecken, als sei
dies nichts radikal Neues, präsentiert er seinen Zuhörern eine kleine Galerie
der Beweglichkeit - mobile Gemeinschaften, Gruppen, Bevölkerungsteile, die er
als Zeugen für diese Tendenz aufruft. Anstatt ihnen reinen Wein einzuschenken
und sie auf die wesentlichen Implikationen des Auswanderns aufmerksam zu machen,
hält er sie mit einer Phänomenologie des Wanderns bei Laune und erweckt den
Eindruck, globale Mobilität sei die Fortsetzung traditionalen Wanderns mit
anderen Mitteln.
Er verhindert auf diese Weise, daß den Handwerkern die Widersprüche auffallen,
die sich hinter der Vorstellung einer im Globalen verankerten Gemeinschaft
verbergen. Identität braucht Nicht-Identität, von einem Ort zu sprechen, ist
nur dann sinnvoll, wenn es noch mindestens einen weiteren Ort gibt. Wer, wie
Lenardo, die ganze Welt zu einem Ort erklärt, der setzt die
identitätsstiftende Funktion des Lokalen außer Kraft.
Für die Handwerker bringt Lenardo das Programm des Auswandererbundes auf eine
griffige Formel. "‚Wo ich nütze ist mein Vaterland!' Zu Hause kann einer
unnütz sein, ohne daß es eben sogleich bemerkt wird; außen in der Welt ist
der Unnütze gar bald offenbar. Wenn ich nun sage: ‚Trachte jeder, überall
sich und andern zu nutzen!', so ist dies nicht etwa Lehre noch Rat, sondern der
Ausspruch des Lebens selbst." (HA, 8, 385f.) Daß es sich dabei um das
Leben einer modernen Gesellschaft handelt, verschweigt Lenardo allerdings. Denn
ein Zuhause, eine traditional und lokal fundierte Gemeinschaft, zeichnet sich ja
gerade dadurch aus, daß sie auch das Unnütze zu integrieren imstande ist, weil
der Nutzen eine ihr fremde Kategorie ist. Um Mitglied einer solchen, vormodernen
Gemeinschaft zu sein, muß man nichts leisten. Man wird hineingeboren und
gehört ihr an, ob man will oder nicht. Der Gemeinschaft Lenardos muß man
beitreten, man muß erklären, ihr angehören zu wollen, muß eine Leistung
erbringen, um ihr angehören zu können.
Die Modernität dieses Konzepts besteht darin, daß es die
Eigenverantwortlichkeit des Individuums in den Mittelpunkt stellt. Das Leben in
der geplanten Kolonie wird nicht von einem kollektiven Gedächtnis, also einem
sozialen Deutungsprozeß reguliert, sondern von einem einzelnen, eindeutigen
Prinzip, das jedem bekannt ist und an das sich jeder zu halten hat, der sich in
der Kolonie niederläßt. Durch diese Modernisierung gewinnt der einzelne
gegenüber der Gemeinschaft an Autonomie, gegenüber jenem Prinzip hat er sie
aufzugeben. Im Gespräch mit Wilhelm bemerkt Lenardo, daß "jeder, der
unter uns leben will, sich von einer gewissen Seite bedingen muß, wenn ihm nach
anderen Seiten hin die größere Freiheit gewährt ist" (HA, 8, 353).
In seiner Rede vor den Handwerkern präsentiert Lenardo die Nutzenkonvention als
Basis einer ontologischen Sicherheit neuer Art. "Alle brauchbaren
Menschen", heißt es, "sollen in Bezug untereinander stehen, wie sich
der Bauherr nach dem Architekten und dieser nach Maurer und Zimmermann umsieht.
Und so ist denn allen bekannt, wie und auf welche Weise unser Bund geschlossen
und gegründet sei; niemand sehen wir unter uns, der nicht zweckmäßig seine
Tätigkeit jeden Augenblick üben könnte, der nicht versichert wäre, daß er
überall, wohin Zufall, Neigung, ja Leidenschaft ihn führen könnte, sich immer
wohl empfohlen, aufgenommen und gefördert, ja von Unglücksfällen möglichst
wiederhergestellt finden werde." (HA, 8, 391)
Lenardo erklärt die Handwerker zu Auserwählten, die den Weg in die Neue Welt
nicht fürchten müssen, weil der Bund ihnen ihre Brauchbarkeit, die
Nützlichkeit ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse attestiert. Das muß
insbesondere auf die Spinner und Weber, deren Brauchbarkeit in ihrer Heimat vom
Industrialisierungsprozeß in Frage gestellt wird, sehr ermutigend wirken. Warum
sollten sie, wenn man sie für nützlich hält, nicht den Nutzen als eine
Kategorie akzeptieren, auf die sich in Zukunft ihre ontologische Sicherheit
stützen wird.
Lenardo läßt keinen Zweifel daran, daß die corporate identity des
Auswandererbundes ein stabileres Fundament für diese Sicherheit bereitstellt
als die kulturelle Tradition, die man zurücklassen werde. Denn die
Interessengemeinschaft Auswanderung basiert nicht auf dem Gefühl emotionaler
Verbundenheit, sondern auf dem Primat der Vernunft. Was "wir auch sinnen
und vorhaben, geschehe nicht aus Leidenschaft, noch aus irgendeiner andern
Nötigung, sondern aus einer dem besten Rat entsprechenden Überzeugung"
(HA, 8, 386). Weder "beschränkter Trübsinn" noch
"leidenschaftliche Dunkelheit" solle über die Auswanderer walten.
"Die Zeit ist vorüber, wo man abenteuerlich in die weite Welt rannte;
durch die Bemühungen wissenschaftlicher, weislich beschreibender, künstlerisch
nachbildender Weltumreiser sind wir überall bekannt genug, daß wir ungefähr
wissen, was zu erwarten sei." (HA, 8, 390)
An die Stelle eines kollektiven Gedächtnisses tritt ein globale Geltung
beanspruchendes modernes Fachwissen, das die gesellschaftliche Entwicklung
beschleunigen und - so kann man annehmen - dem Unternehmen Auswanderung
zumindest ökonomisch den erwarteten Erfolg bescheren wird.
Die materielle Sicherheit der Migranten wäre damit gesichert, und die
Handwerker werden dies zu schätzen wissen, aber wie steht es um die
ontologische? Die Handwerker sind sich darüber im klaren, daß eine
Auswanderung in die Neue Welt ihnen den Boden unter den Füßen entzieht - in
jeder Hinsicht und mit allem, was sie mit diesem Boden verbindet: Heimatgefühl,
kulturelle Identität, Tradition, Verwandtschaftsbeziehungen etc. Wie könnte
ein solcher Verlust kompensiert werden?
Eine Gemeinschaft von Individuen, die sich daraus konstituiert, daß ihre
Mitglieder einander innerhalb der Grenzen verbindlicher, aber wenig verbindender
Wertvorstellungen ihre individuelle Autonomie garantieren, vermag wohl
schwerlich das Bedürfnis nach einem Miteinander zu befriedigen. Eine corporate
identity, die weder über einen Kern kultureller Homogenität noch über ein
lokales Zentrum verfügt, wird über den Status einer Interessengemeinschaft
nicht hinauskommen. Sie verbindet nicht Menschen miteinander, sie bindet
nebeneinander lebende Menschen an eine Vorstellung, ein Prinzip oder eine Idee.
Das ist mehr als nichts und auch mehr als eine bindungslose Gesellschaft, in der
"jede Person ihren eigenen Vorteil erstrebt und die übrigen nur bejaht,
soweit und solange als sie denselben fördern mögen", (Tönnies: 45) aber
es ist kein Ersatz für eine Gemeinschaft, die ihren Mitgliedern das Gefühl
ontologischer Sicherheit vermittelt.
Aber was ist die Alternative? Um das Auseinanderdriften jener beiden Formen
sozialer Integration - auf der einen Seite die Erosion lokaler
Gemeinschaftsstrukturen und die Entwicklung einer ins Globale strebenden
Gesellschaft ungebundener Individuen, auf der anderen Seite die Entstehung
großflächiger Nationalstaaten, die den Gemeinschaftsgedanken verabsolutieren
und territorialisieren - auf literarische Weise abbilden zu können, stellt
Goethe dem "zentrifugalen" Migrationsprojekt des Auswandererbundes das
"zentripetale" Gemeinschaftskonzept einer binneneuropäischen Kolonie
entgegen.
Als der Anführer des Auswandererbundes seine Programmrede beendet hat und
"ein großer Teil der Anwesenden" (HA, 8, 392) ein Wanderlied singend
den Saal verläßt, wendet sich Odoard an die übrigen Zuhörer und macht ihnen
das Angebot, an einem binneneuropäischen Siedlungsprojekt teilzunehmen.
"Diese hier in Ruhe verbliebenen, dem Anblick nach sämtlich wackern
Männer geben schon durch ein solches Verharren deutlich Wunsch und Absicht zu
erkennen, dem vaterländischen Grund und Boden auch fernerhin angehören zu
wollen. Sie sind mir alle freundlich gegrüßt, denn ich darf erklären: daß
ich ihnen sämtlich, wie sie sich hier ankündigen, ein hinreichendes Tagewerk
auf mehrere Jahre anzubieten im Fall bin." Das klingt vielversprechend. Da
stellt ihnen einer eine gesicherte Existenz in Aussicht, ohne daß sie den
Kontinent verlassen müssen - eine Neue Welt in der Alten.
Odoard ist über die ambivalente Situation der Handwerker bestens im Bilde. Er
weiß, daß ihnen in der Heimat Beschäftigungslosigkeit und Existenzverlust
drohen und daß sie gezwungen sind, ihr Zuhause aufzugeben, um ihr Überleben zu
sichern. Er weiß auch, daß sie sich vor genau diesem Schritt fürchten, denn
das Verlassen der Heimat ist gleichbedeutend mit der Auflösung jenes
gemeinschaftlichen Miteinanders, das bisher ihr Vertrauen in die Integrität der
eigenen Lebenswelt, ihre ontologische Sicherheit begründet hat. Diesen
Zwiespalt macht Odoard sich zunutze.
Er setzt darauf, daß es nicht allzu schwierig sein werde, die Handwerker zu
politischen Zugeständnissen zu überreden, wenn er ihnen ermöglicht, die
wirtschaftliche Grundlage ihres Lebens zu sichern, ohne die ontologische
Sicherheit zu verlieren. Der Vorschlag, den er den Handwerkern unterbreitet,
stützt sich denn auch auf diese beiden Pfeiler: Sicherung der ökonomischen
Existenz und Bewahrung eines kollektiven Bewußtseins. Zugleich kündigt er den
Handwerkern an, daß noch zu besprechen sein werde, "mit welchen Leistungen
sie mein stattliches Anerbieten zu erwidern gedenken" (HA, 8, 392).
Später wird er dann etwas deutlicher. Der Preis für die ontologische
Sicherheit, die Odoards Gemeinschaftsprojekt bietet, besteht in einer von oben
verordneten kulturellen Homogenität und einem weitreichenden Verzicht auf
individuelle Autonomie. Die Gemeinschaft, wie Odoard sie sich vorstellt, ist
absolut, und wer dazugehören will, muß sich unterordnen. Liest man Odoards
Siedlungspläne im Lichte der gesellschaftlichen Erfahrung des 20. Jahrhunderts
und nimmt man ihn beim Wort, dann fällt auf, daß sein binneneuropäisches
Kolonisierungsprojekt in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeiten mit totalitären
Gesellschaftssystemen dieses Jahrhunderts aufweist.
Dies soll nicht über die bestehenden Unterschiede hinwegtäuschen. Odoards
Programm mit einer historischen Gesellschaftskonstellation zu identifizieren
oder mit einer bestimmten Totalitarismustheorie zu Leibe zu rücken, wäre nicht
nur ein Kurzschluß von der Fiktion auf die Realität, es käme einer
überzogenen Aktualisierung gleich und würde dem Text, der eher andeutet als
ausspricht, Gewalt antun. Gleichwohl sind totalitäre Tendenzen unübersehbar,
und es lohnt sich, dieser Beobachtung im weiteren Verlauf der Lektüre
nachzugehen.
Ähnlich wie beim Migrationsprojekt des Auswandererbundes geht es bei Odoards
Projekt um Mobilität, um eine Bewegung nach außen. Aber Odoard will das Außen
zu einem Innen machen. Während die Auswanderer bereit sein müssen, ihre
kulturelle Identität zugunsten einer Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse
aufzugeben bzw. fremden Bedingungen anzupassen, verspricht Odoard allen, die an
seinem binneneuropäischen Kolonisierungsprojekt teilnehmen, daß ihre
kulturelle Identität sich unverändert erhalten werde.
Odoard plant keine Auswanderung, sondern eine Expansion, er will die Fremde
einnehmen und vereinnahmen. In seiner Rede spricht er daher bewußt die Angst
seiner Zuhörer vor einem Identitätsverlust an und versucht, das dieser Angst
innewohnende aggressive Potential zu aktivieren. Odoard will die Handwerker
davon überzeugen, daß man, um die eigene Identität zu behaupten, die
"Anderen" einem kulturellen Homogenisierungsprozeß unterziehen
müsse.
Dieses Denken, das in allem Fremden eine Bedrohung der eigenen Identität sieht,
kommt in einer drastischen Sprache zum Ausdruck. Odoard geht es bei seinem
"bedeutenden Werk" darum, "Räume" zu erobern, den
"Kampf" gegen "Hindernisse" aufzunehmen und
"Riegel" zu beseitigen. Es geht darum, "durch Gewalt oder
Überredung zu nötigen" (HA, 8, 408).
Und Odoard weiß auch, wen man zu nötigen habe. Er beherrscht nicht nur das
entsprechende Vokabular, sein Denken weist auch deshalb Ähnlichkeiten mit
totalitären Ideologien auf, weil es für die Übel der Welt einen Verursacher
verantwortlich macht und den Kampf gegen diesen zum Hauptinhalt der Politik zu
erklärt, wohl wissend, daß die Bereitschaft, sich mit der Bewegung zu
solidarisieren, durch die Existenz eines gemeinsamen Feindes erhöht wird.
Odoard hat eine soziale Gruppe als hauptverantwortlich für die krisenhafte
Situation der Handwerker ausgemacht, jene Grundeigentümer, die "starr und
gegen jede Veränderung widerwillig" sind, die sich an ihr Land klammern,
weil ihnen ihr Besitz heilig ist, sei es durch "Gewohnheit, jugendliche
Eindrücke, Achtung für Vorfahren" oder "Abneigung gegen den Nachbar
[...] Je älter dergleichen Zustände sind, je verflochtener, je geteilter,
desto schwieriger ist es, das Allgemeine durchzuführen, das, indem es dem
Einzelnen etwas nähme, dem Ganzen und durch Rück- und Mitwirkung auch jenem
wieder unerwartet zugute käme." (HA, 8, 409) Was hier verschwommen als
"das Allgemeine" angekündigt wird, entpuppt sich bei genauem Hinsehen
als eine Landnahme, zu deren Durchführung - von Odoard vorsichtig im Konjunktiv
annonciert - Zwangsenteignungen notwendig sein werden.
Odoard schwört die versammelten Handwerker auf ein gemeinsames Ziel ein, er
fordert sie auf, ins Ganze zu stimmen und die Wahl der Mittel getrost seiner
Führung zu überlassen. Unnötigen Vernunfterwägungen erteilt er eine Absage:
"Das Jahrhundert muß uns zu Hülfe kommen, die Zeit an die Stelle der
Vernunft treten und in einem erweiterten Herzen der höhere Vorteil den niedern
verdrängen." (HA, 8, 410) Das Projekt Aufklärung - die Autonomisierung
des Individuums durch die Vernunft - steht der Verwirklichung von Odoards
Programm im Wege, dessen Intention sich insofern als antiaufklärerisch erweist,
als es an eine Sehnsucht anknüpft zurück in eine Zeit, in der die Entscheidung
darüber, was für die Gemeinschaft erstrebenswert sei, einer autoritären
Führung überlassen blieb - "denn es gehört freilich mehr dazu, seinen
Vorteil im Großen als im Kleinen zu übersehen". Diesem Programm geht es
nicht darum, jedem Individuum die Mittel an die Hand zu geben, seinen Vorteil
auch im Großen erkennen zu können, sondern darum, den alleinigen Anspruch des
Führers auf diese Kompetenz zu manifestieren.
Während der Auswandererbund bemüht ist, sich an die Spitze eines
Vergesellschaftungsprozesses zu setzen, den einzelnen aus gemeinschaftlichen
Bindungen zu lösen und auf einen abstrakt-gesellschaftlichen Nutzen- und
Fortschrittsbegriff zu verpflichten, versucht Odoard, einen residualen Raum
gemeinschaftlichen Miteinanders zu schaffen, indem er sein Herrschaftsgebiet
gegen Einflüsse von außen immunisiert und das Leben im Inneren totalitär
organisiert. Kulturelle Homogenität ist Pflicht, jede Abweichung wird als ein
aggressiver Akt aufgefaßt, der die kollektive Identität (zer-)stört.
Dieser totalitären Organisationsform ist es gemäß, daß Odoard die
Entwicklung der internen Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen nicht als einen
für alle offenen und noch unentschiedenen Prozeß darstellt, wie es der Bund
der Auswanderer macht, sondern daß er ein fertiges Konzept mit prinzipiellem
Geltungsanspruch präsentiert. Ein dirigistisches Wirtschaftsprogramm soll den
ökonomischen Erfolg sicherstellen. "Genaue Vermessungen sind geschehen,
die Straßen bezeichnet, die Punkte bestimmt, wo man die Gasthöfe und in der
Folge vielleicht die Dörfer heranrückt. Zu aller Art von Baulichkeiten ist
Gelegenheit, ja Notwendigkeit vorhanden. Treffliche Baumeister und Techniker
bereiten alles vor; Risse und Anschläge sind gefertigt; die Absicht ist,
größere und kleinere Akkorde abzuschließen und so mit genauer Kontrolle die
bereitliegenden Geldsummen, zur Verwunderung des Mutterlandes, zu verwenden: da
wir denn der schönsten Hoffnung leben, es werde sich eine vereinte Tätigkeit
nach allen Seiten von nun an entwickeln." (HA, 8, 410f.)
Da es sich bei der Zielgruppe, die Odoard umwirbt, um Handwerker handelt und
Handwerker für den geplanten Aufbau dringend gebraucht werden, hat er noch ein
besonderes Lockmittel parat. Odoard verspricht den Handwerkern eine Aufwertung
ihrer sozio-strukturellen Position, indem er per Dekret die Nomenklatur ändert.
"Sobald wir jenen bezeichneten Boden betreten, werden die Handwerke
sogleich für Künste erklärt und durch die Bezeichnung ‚strenge Künste' von
den ‚freien' entschieden getrennt und abgesondert." (HA, 8, 411) Die
traditionell hierarchische Zunftordnung wird allerdings beibehalten, und
angesichts der folgenden, ins Sentenzenhafte gleitenden Aussage kann man davon
ausgehen, daß dem Leben in Odoards Kolonie auch über den handwerklichen
Bereich hinaus eine hierarchische Ordnung zugrunde liegt. "Die Stufen von
Lehrling, Gesell und Meister müssen auf strengste beobachtet werden; auch
können in diesen viele Abstufungen gelten, aber Prüfungen können nicht
sorgfältig genug sein. Wer herantritt, weiß, daß er sich einer strengen Kunst
ergibt, und er darf keine läßlichen Forderungen von ihr erwarten; ein einziges
Glied, das in einer großen Kette bricht, vernichtet das Ganze. Bei großen
Unternehmungen wie bei großen Gefahren muß der Leichtsinn verbannt sein."
(HA, 8, 411f.) Ein besseres Bild, als das einer aus gleichartigen Gliedern
bestehenden Kette, hätte Odoard für die Homogenität, die sein
Gemeinschaftsprojekt zusammenhalten soll, gar nicht finden können. Eigensinn
ist Schwäche. Wer mitmacht, soll sich dem Willen des Führers überlassen,
Abweichler werden nicht geduldet. Odoards Programm ist antiindividualistisch und
minderheitenfeindlich - zwei konstitutive Bestandteile totalitären Denkens.
Die Handwerker werden die schmeichelnden Worte des Demagogen mit Freude zur
Kenntnis nehmen - endlich jemand, der ihre gesellschaftliche Bedeutung zu
schätzen weiß. Womöglich aber hält ihre Begeisterung sie davon ab, auch
weiterhin genau zuzuhören, denn jetzt kommt das Kleingedruckte. Odoard fordert
lebenslange Gefolgschaft von den Umworbenen. "Wer sich einer strengen Kunst
ergibt, muß sich ihr fürs Leben widmen. Bisher nannte man sie Handwerk, ganz
angemessen und richtig; die Bekenner sollten mit der Hand wirken, und die Hand,
soll sie das, so muß ein eigenes Leben sie beseelen, sie muß eine Natur für
sich sein, ihre eignen Gedanken, ihren eignen Willen haben, und das kann sie
nicht auf vielerlei Weise." (HA, 8, 412f.) Odoard will die Hände seiner
"Bekenner", nicht ihren Kopf; das Denken sollen sie ihrem Führer
überlassen.
Wer sich auf Odoards Programm einläßt, wird zwar scheinbar von einem
Handwerker zu einem Künstler befördert, in Wirklichkeit jedoch von einem
Handwerker zu einem Werkzeug instrumentalisiert, einem Werkzeug zur
Verwirklichung von Odoards monomaner Vision.
Die Zuhörer erliegen Odoards Einflüsterung, und "anstatt abzuziehen"
(HA, 8, 413) "richteten die sämtlichen Anwesenden sich auf, und die
Gewerke [...] bildeten einen regelmäßigen Kreis vor der Tafel der anerkannten
Oberen" - der richtige Moment für Odoard, um sich außer als gewiefter
Rhetor auch als Propagandist zu betätigen. Er zaubert "ein zutrauliches
Lied" aus der Tasche, das die Handwerker auf "Führer, Volk und
Vaterland" einschwört und einem Leser des beginnenden 21. Jahrhunderts den
Atem stocken läßt.
Bleiben, Gehen, Gehen, Bleiben
Sei fortan dem Tücht'gen gleich,
Wo wir Nützliches betreiben,
Ist der werteste Bereich.
Dir zu folgen, wird ein Leichtes,
Wer gehorchet, der erreicht es,
Zeig' ein festes Vaterland.
Heil dem Führer! Heil dem Band!
Du verteilest Kraft und Bürde
Und erwägst es ganz genau,
Gibst dem Alten Ruh' und Würde,
Jünglingen Geschäft und Frau.
Wechselseitiges Vertrauen
Wird ein reinlich Häuschen bauen,
Schließen Hof und Gartenzaun,
Auch der Nachbarschaft vertraun.
Wo an wohlgebahnten Straßen
Man in neuer Schenke weilt,
Wo dem Fremdling reicher Maßen
Ackerfeld ist zugeteilt,
Siedeln wir uns an mit andern.
Eilet, eilet, einzuwandern
In das feste Vaterland.
Heil dir Führer! Heil dir Band!
Diese Verse haben nie den Sprung in die Lyrikabteilungen der Werkausgaben
Goethes geschafft, man wird sie in keiner Anthologie finden. Das formal
anspruchslose Lied mit den Heilswünschen, die von so viel Unheil künden,
läßt den Leser zurück mit dem Unbehagen, Zeuge einer demagogischen
Verführung geworden zu sein, sowie mit dem Wissen, daß die Handwerker, die
sich Odoard anschließen, "Entsagende" in einem umfassenden Sinne sein
werden, denn ihre Entsagung bedeutet in letzter Konsequenz die
"totale" Aufgabe ihrer Individualität.
Die von Goethe zwischen diesen beiden Zukunftsprogrammen plazierten Handwerker
befinden sich in großer Entscheidungsnot. Entweder sie schließen sich Lenardos
Migrationsbewegung an, die ihnen die individuelle Autonomie eines modernen (Wirtschafts-)Subjekts
in Aussicht stellt - dann müssen sie auf eine kollektive Identität verzichten;
die Amerikafahrer haben mobil und flexibel zu sein, also ort- und haltlos. Oder
sie folgen Odoard, der ein ausgeprägtes kollektives Bewußtsein zur Grundlage
seines binneneuropäischen Siedlungsprojekts macht - dann werden sie ihre
persönliche Freiheit einbüßen und sich einer Diktatur der Kollektivität
überantworten, die die Befriedigung ihres Gemeinschaftsbedürfnisses totalitär
organisiert. Was für eine Wahl.
Goethe stattet beide Projekte mit dem modernitätstypischen Phänomen der
Ambivalenz aus, mit dem Paradigma des Entsagen-Müssens. Ihre Gegenüberstellung
macht deutlich, daß die Ambivalenz aus einer Fehlentwicklung hervorgeht, deren
Ursache in der Mißachtung der Polarität von Gemeinschaft und Gesellschaft zu
suchen ist. Die Wanderjahre desavouieren das Phänomen der Ambivalenz als
Ergebnis einer modernen Entwicklungslogik, derzufolge Fortschritt allein aus dem
Prozeß analytischen Trennens hervorgehen könne. Diese Logik widerspricht der
entwicklungstheoretischen Leitidee Goethes, deren Grundlage - aus der
Naturbeobachtung gewonnen und ins Geschichtsphilosophische übertragen - ein
harmonisches Wechselspiel von Analyse und Synthese ist. Für Goethe muß der
Vorgang des Trennens grundsätzlich auf eine Synthese ausgerichtet sein, denn
der gemeinsame Ursprung des Getrennten erhält sich in einer wechselseitigen,
polaren Anziehungskraft, die auf einen Ausgleich drängt. Eine Entwicklung
allein auf der Basis von Trennung, ein stetiges Steigern isolierter Pole, führt
dazu, daß mit jedem Erreichten zugleich das Nicht-mehr-Erreichbare wächst,
daß mit jedem Fortschritt das Ausmaß des ihm immanenten Verlusts größer
wird. Dieser aus der Perspektive Goethes verfehlten Fortschrittsideologie, die
Entwicklung ausschließlich durch Trennung produziert, folgt die Moderne seit
über zweihundert Jahren. Sie bringt auf diese Weise beeindruckende Erfolge und
enorme Zerstörungen hervor.
Der Soziologe Zygmunt Bauman interpretiert den Modernisierungsprozeß als einen
Diskurs über das Bemühen, Ordnung zu erzeugen. Aus diesem Bemühen entstehe,
so Bauman, als "Abfall der Moderne" Ambivalenz. Sie stelle
"unstrittig die genuinste Beunruhigung und Sorge für die Moderne dar, da
sie, anders als andere Feinde, geschlagen und versklavt, mit jedem Erfolg der
modernen Mächte an Stärke zunimmt." (Bauman: 26)
Bauman fragt nach der Ursache für diesen paradoxen Zusammenhang von Ordnung und
Ambivalenz, und er findet sie in der modernen Entwicklungslogik. "Die
Moderne rühmt sich der Fragmentierung der Welt als ihrer bedeutendsten
Leistung. Fragmentierung ist die primäre Quelle ihrer Stärke. Die Welt, die in
eine Fülle von Problemen auseinanderfällt, ist eine handhabbare Welt. [...]
Aber die Fragmentierung verwandelt das Problem-Lösen in eine Sisyphusarbeit und
macht es als Werkzeug des Ordnung-Schaffens untauglich." Der Versuch, durch
Trennung Ordnung zu erzeugen, schafft Ordnung und - immer neue Unordnung.
"Undurchsichtigkeit entsteht am anderen Ende des Kampfes um Transparenz.
Verwirrung entsteht aus dem Kampf um Klarheit. Kontingenz wird an der Stelle
entdeckt, wo viele fragmentarische Werke der Bestimmung sich treffen,
zusammenstoßen und sich miteinander verwirren. [...] Je gründlicher die
anfänglichen Probleme gelöst worden sind, um so weniger handhabbar sind die
Probleme, die sich daraus ergeben."
Die Paradoxie entsteht aus der Perpetuierung einer Entwicklungslogik, derzufolge
Fortschritt allein auf Trennung basiert. "Die lokale, spezialisierte
Leistungsfähigkeit, die moderne Methoden, Dinge zu tun, ermöglicht haben, hat
die Trennungspraktiken zu ihrer einzigen - wenngleich empfehlenswert soliden -
Grundlage. Der zentrale Rahmen sowohl des modernen Intellekts wie der modernen
Praxis ist die Opposition - genauer, die Dichotomie. Intellektuelle Visionen,
die baumähnliche Bilder fortschreitender Zweiteilung schaffen, reflektieren und
durchdringen die Verwaltungspraxis des Aufsplitterns und der Trennung: Mit jeder
weiteren Zweiteilung wächst die Distanz zwischen Abzweigungen von dem
ursprünglichen Stamm, ohne horizontale Glieder, um die Isolierung
auszugleichen." (Bauman: 26ff.)
Was Bauman hier als das Fehlen horizontaler Glieder beschreibt, ist nichts
anderes als die Mißachtung von Polarität, jenes stetige Steigern isolierter
Pole, das der Entwicklungstheorie Goethes als Ursache für den pathologischen
Verlauf des Modernisierungsprozesses gilt. An den Siedlungsprojekten der
Wanderjahre läßt sich diese Pathologie veranschaulichen. Ohne daß horizontale
Glieder in Sicht wären, die eine Verbindung aufrechterhalten würden, werden
die im Verlauf des Modernisierungsprozesses gebildeten Pole sozialer Integration
getrennt voneinander weiterentwickelt: Das Migrationsprojekt der Auswanderer
steigert ein gesellschaftliches Nebeneinander - zumindest der Tendenz nach - zu
einem Ohneeinander; das binneneuropäische Siedlungsprojekt entwickelt ein
gemeinschaftliches Miteinander im Inneren zu einer totalitären Kollektivität,
nach außen zu einem Gegeneinander.
Daß Odoard mit seinem Versuch überhaupt Erfolg hat, hängt damit zusammen,
daß den Handwerkern angesichts der bevorstehenden Auswanderung und
irreversiblen Zerstörung ihrer kollektiven Identität das Bedürfnis nach einem
gemeinschaftlichen Miteinander grell ins Bewußtsein rückt. Indem der
Auswandererbund der Wanderjahre die Haupttendenzen einer von der europäischen
Aufklärung ausgehenden Moderne - Liberalisierung, Rationalisierung und
Individualisierung - radikalisiert, schafft er die Voraussetzungen dafür, daß
Odoard mit seinem totalitären Gemeinschaftskonzept offene Türen einrennt. Die
Moderne schafft sich ihre Fundamentalismen selbst.
Der - fiktive - Entwurf einer Gesellschaft ungebundener Wirtschaftssubjekte, die
im Stile eines homo oeconomicus alles Handeln auf die Maximierung ihres
individuellen Nutzens ausrichten und deren kollektives Bewußtsein sich allein
dadurch konstituiert, daß sie einander garantieren, sich nicht zu behindern,
liest sich aus heutiger Sicht wie eine prophetische Vorausdeutung. Heute
beansprucht das Nebeneinander globale Geltung. Die Moderne ist die moderne
Gesellschaft. Es wird so getan, als sei das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach
einer kollektiven Identität, die in der Lage ist, ein Gefühl ontologischer
Sicherheit zu vermitteln, eine atavistische Regung, die in der modernen Welt
nichts zu suchen und erst recht nichts zu finden habe. Unter Hinweis auf eine
ihm innewohnende totalitäre Tendenz wird das gemeinschaftliche Miteinander
dämonisiert und seine Verdrängung betrieben.
Bekanntermaßen ist eine Verdrängung keine dauerhafte Entsorgung. Das
Verdrängte wird lediglich in einen Zustand der Latenz transformiert, in dem es
auf seine Aktualisierung lauert. Das gilt auch für das Bedürfnis nach einer
kollektiven Identität. Je größer die Erfolge sind, die die Moderne
hinsichtlich einer globalen Ausdehnung der gesellschaftlichen Lebensform feiern
kann, je umfassender es ihr gelingt, kollektive Identitäten zu verdrängen,
desto stärker macht sich dieses Bedürfnis im Bewußtsein des Individuums
bemerkbar.
Die zwischen den Zukunftsprogrammen Auswanderung und Binnenwanderung nach
Orientierung suchenden Handwerker haben noch eine "Wahl", ihnen
vermittelt sich der Ambivalenzkonflikt als Entscheidungszwang und -möglichkeit.
Heute gibt es eine solche Möglichkeit zu (re-)agieren nicht mehr, für den
modernen Menschen scheint das Rennen gelaufen zu sein. Die Ambivalenz ist aus
der Welt, und das heißt: in ihm. Sie ist Teil des Unbehagens in der Kultur.
Das Gemeinschaftsbedürfnis gelangt auf die Ebene des individuellen Bewußtseins,
weil es nicht mehr zu befriedigen ist, als Bewußtsein eines Mangels. Dieser
Mangel, dieses Gemeinschaftsdefizit gehört heute zu den konstanten
Erfahrungsinhalten, aus denen sich das Bewußtsein eines modernen Menschen
konstituiert.
Der Zusammenhang von Gemeinschaftszerstörung und dem Bewußtwerden eines
Gemeinschaftsbedürfnisses behält, wie Zygmunt Bauman ausführt, selbst als
Umkehrschluß seine Gültigkeit. "Gemeinschaften nach Art von Tönnies
verdunsten in dem Augenblick, wo sie sich selbst als Gemeinschaften wissen. Sie
verschwinden (wenn sie nicht schon vorher verdunstet sind), sobald wir sagen:
‚wie nett ist es, in einer Gemeinschaft zu sein.' Von diesem Augenblick an ist
eine Gemeinschaft nicht mehr der Ort, wo man sicher wohnt; sie ist nur noch
harte Arbeit und ein Kampf bergauf, ein stetig zurückweichender Horizont des
niemals endenden Weges." (Bauman: 305)
Unter den Bedingungen der Moderne werden die "wirklichen"
Gemeinschaften - organisch entwickelte, lokale Lebenswelten, die "durch
eine dichte Soziabilität charakterisiert" (Bauman: 83) sind - aufgelöst,
alte Identitäten verschwinden. Um so wichtiger wird die Idee der Gemeinschaft,
die Gemeinschaft als Idee. Die Zerstörung lokaler kollektiver Identität ist
die Grundlage für die Entstehung - oder soll man sagen, Erfindung - nationaler
Identitäten. "Eine Nation ist eine symbolische Gemeinschaft", ein
imaginärer Ersatz für die im Verlauf des Modernisierungsprozesses destruierten
gemeinschaftlichen Identifikationsräume. "Nationale Kulturen sind eine
eindeutig moderne Form. Die Untertanentreue und Identifikation, die in
vormodernen Zeiten oder in traditionellen Gesellschaften dem Stamm, dem Volk,
der Region oder der Religion galt, wurde in westlichen Gesellschaften
allmählich auf die nationale Kultur übertragen." (Hall: 200)
Odoards festes Vaterland repräsentiert so eine "vorgestellte
Gemeinschaft". Besser als man dies an der historischen Wirklichkeit belegen
könnte, zeigt sich an jener Fiktion aus den Wanderjahren der Projektcharakter
einer vaterländischen Identität. "Eine nationale Kultur ist ein Diskurs -
eine Weise, Bedeutungen zu konstruieren, die sowohl unsere Handlungen als auch
unsere Auffassungen von uns selbst beeinflußt und organisiert. Nationale
Kulturen konstruieren Identitäten, indem sie Bedeutungen der ‚Nation'
herstellen, mit denen wir uns identifizieren können." (Hall: 201)
Im Lichte heutiger Erfahrung reflektieren die Entwürfe kollektiver Identität,
mit denen Goethe in den Wilhelm Meister-Romanen auf literarische Weise
experimentiert, eine doppelte Fehlentwicklung. Aus der Mißachtung des polaren
Verhältnisses von Gemeinschaft und Gesellschaft resultiert eine Dynamik, die
beide Pole ins Pathologische steigert. Gesellschaft als ein friedliches
Nebeneinander heterogener Kulturen entwickelt sich zu einem globalen
Ohneeinander von eindimensional auf einen ökonomischen Nutzenbegriff hin
homogenisierten Individuen. Gemeinschaft als ein intimes Miteinander entwickelt
sich zu einem Gegeneinander nationaler Kulturen, die ihre Mitglieder auf eine
konstruierte kollektive Identität verpflichten.
Diese doppelte Fehlentwicklung führt zu merkwürdig schizophrenen Ergebnissen.
So wird heute der Globalisierungsdiskurs von einer nationalen Plattform aus
geführt, und niemand scheint daran interessiert zu sein, diese Plattform zu
verlassen. Da geht es um Chancen und Risiken für die hiesige Wirtschaft, um
Auswirkungen auf den heimischen Arbeitsmarkt, um den Verlust an nationaler
Souveränität durch die Übertragung von Kompetenzen an supranationale
Institutionen und um den Verlust nationaler Identität durch
"Überfremdung".
Jenseits dieser Plattform haben sich längst globale Unternehmen entwickelt, die
Ferdinand Tönnies darin bestätigen, "daß die Ausbildung nationaler
Staaten nur eine vorläufige Beschränkung der schrankenlosen Gesellschaft
ist" (Tönnies: 203), und die - wie die Interessengemeinschaft Auswanderung
in den Wanderjahren - ihre Mitglieder auf Mobilität, Flexibilität und auf eine
atopische corporate identity verpflichten.
Das Movens der globalen Gesellschaft ist eine ökonomische Verfügbarmachung der
Welt, und auf lange Sicht werden durch diesen weltumspannenden
Homogenisierungsprozeß die vorgestellten nationalen Gemeinschaften
dekonstruiert. Die Anfänge sind gemacht, und die Tatsache, daß mit dem
interdisziplinären Forschungsprojekt des Kommunitarismus die Frage nach der
Zukunft der Gemeinschaft auf die Agenda wissenschaftlichen Forschens gerückt
ist, kann als Beleg dafür gelten, daß die konstruierten nationalen
Identitäten schon heute nicht mehr in der Lage sind, ein kollektives
Bewußtsein zu generieren, das das Gemeinschaftsbedürfnis der Menschen
befriedigen würde. Insofern befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie
die Handwerker in den Wanderjahren, nur daß sich heute die Frage stellt: Was
kommt nach der Nation?
"Liberale demokratische Gesellschaften mit ihren verrechtlichten
Institutionen und Verfahren produzieren keinen Sinn; sie haben keine
Verheißungen im Sinne ganzheitlicher Utopien zu bieten, sondern sind, wie Ralf
Dahrendorf einmal treffend bemerkt hat, cold projects. Das ist ihr Vorteil, aber
zugleich ihre Schwäche. - Der im Selbstverständnis des liberalen Modells
angelegte und immer wieder neu generierte Individualismus fördert zwangsläufig
die Dissoziation und Fragmentierung der Gesellschaft und untergräbt die für
das Funktionieren eines politischen Gemeinwesens notwendigen Formen der
Solidarität. Deshalb bedarf auch das liberal-rationalistische
Gesellschaftsmodell der Konfrontation mit seinen eigenen Pathologien. Oder
anders ausgedrückt: Es geht um ein reflexives Nachdenken über die andere,
gleichsam mitlaufende Seite des Rationalismus, die die Vertreter eines rein
rationalistischen Liberalismus nur allzu gern vernachlässigen - also um die
Frage, wo das menschliche Bedürfnis nach Orientierung, Sinn und Geborgenheit in
einer durch und durch säkularisierten und rationalen Welt überhaupt noch eine
Zufluchtsstätte findet. Andernfalls wird das Wunschbild einer Gesellschaft, der
jede Form einer kollektiven Identität suspekt ist und in der - um zwei
Formulierungen von Peter Sloterdijk aufzugreifen - ‚kosmische Singles' durch
Raum und Zeit gleiten und das Einzimmerapartment als ‚Fluchtpunkt des
Universums' fungiert, zur Schreckensvision einer vollkommen atomisierten und
partikularisierten Gesellschaft." (Probst: 32f.)
In den Wanderjahren wird das liberal-rationalistische Gesellschaftsmodell mit
seinen Pathologien konfrontiert. Die Projektion einer neuen Welt, in der das
Individuum im Mittelpunkt steht und ohne eine lokale kulturelle Identität wird
auskommen müssen, schafft die Voraussetzungen dafür, daß ein totalitärer
Führer Teilnehmer für sein aggressives Vaterlandsprojekt gewinnen kann.
Wenn heute der Prozeß einer Globalisierung der Moderne nationale Identitäten
allmählich auflöst, so liegt darin die Chance, eine zweihundert Jahre
währende Fehlentwicklung zu beenden. Sollte dieser Prozeß allerdings betrieben
werden - und einiges deutet darauf hin -, um "die Polarität von
Gemeinschaft und Gesellschaft" endgültig "nach einer Seite hin
auflösen" (Probst: 33) zu können, dann stellt sich die Frage, ob damit
nicht der Boden bereitet wird für ein neues Gegeneinander aggressiver
Kollektivismen.
Indem die Wanderjahre darauf aufmerksam machen, daß die Ursache für die
Fehlentwicklung in einer Mißachtung der Polarität von Gemeinschaft und
Gesellschaft besteht, weisen sie den Weg in eine andere Moderne. Der Roman tritt
diesen Weg nicht an, doch sein Autor hat gezeigt, in welche Richtung er führen
müsse, wenn er die dialektische Beziehung von Miteinander und Nebeneinander
berücksichtigen wolle.
Einem sich "veloziferisch" (HA, 8, 289) beschleunigenden ökonomischen
Fortschritt, der auf eine globale Homogenisierung zusteuert, und einer
konfliktreichen politischen Entwicklung, die homogene nationale Identitäten
konstruiert, stellt Goethe sein Konzept einer kulturellen Globalisierung
entgegen. Wenn Goethe von 1827 an immer wieder von einer herannahenden, sich
bildenden, anmarschierenden, sich einleitenden Weltliteratur spricht, dann
bringt er damit ein Entwicklungskonzept auf einen Begriff, dem es nicht um die
Beseitigung von Diversität geht, sondern darum, eine wechselseitige
Kenntnisnahme und Anerkennung der verschiedenen Kulturen zu befördern.
Die Vorstellung einer kulturellen Globalisierung über das Medium der Literatur
und durch "die lebendigen und strebenden Literatoren" (HA, 12, 363)
selbst fußt auf einer Einsicht in die Beziehung von Literatur und Kultur, die
Goethe bereits in jungen Jahren in der Zusammenarbeit mit Johann Gottfried
Herder gewinnt, später weiterentwickelt und ausdifferenziert. Dieser Einsicht
zufolge kommt die kulturelle Identität einer Gemeinschaft in deren Literatur
zum Ausdruck, und von dorther versucht Goethe sie zu verstehen. Sein
Weltliteraturkonzept ist ein Konzept kultureller Heterogenität.
Es integriert die Polarität von Gemeinschaft und Gesellschaft, indem es das
Globale als einen Raum für den Diskurs des Lokalen entwirft. Es begreift
Fortschritt nicht als eine fortgesetzte Steigerung durch Trennung, sondern als
ein Aufeinander-zu-Bewegen von Menschen aus lokal verschiedenen kulturellen
Identifikationsräumen. Diese kulturelle Globalisierung strebt eine Synthese an,
die das Universale herstellt, ohne das Partikulare zu homogenisieren und außer
Kraft zu setzen. "Eine wahrhaft allgemeine Duldung", so Goethe in
einer Rezension der Anthologie German Romance, "wird am sichersten
erreicht, wenn man das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften auf
sich beruhen läßt, bei der Überzeugung jedoch festhält, daß das wahrhaft
Verdienstliche sich dadurch auszeichnet, daß es der ganzen Menschheit
angehört." (HA, 12, 351ff.) Und an anderer Stelle hebt er hervor, daß
nicht davon "die Rede sein könne, die Nationen sollen überein denken,
sondern sie sollen nur einander gewahr werden, sich begreifen und, wenn sie sich
wechselseitig nicht lieben mögen, sich einander wenigstens dulden lernen."
(HA, 12, 362f.)
In der Praxis seiner Tätigkeit als ein Weimarer Minister für (fast) alles
hält Goethe mit beharrlichem Eigensinn - auch und gerade gegenüber seinem
Regierungschef - an einem Politikverständnis fest, das sich am
gemeinschaftlichen Nahbereich orientiert, das politisches Handeln als einen
Dienst am Miteinander versteht. Dieser Selbstbeschränkung des Politischen
stellt Goethe eine kulturelle Öffnung ins Globale an die Seite, die das Lokale
über das Provinzielle erhebt. Eine kulturelle Globalisierung, wie Goethe sie
mit seinem Weltliteraturkonzept entwirft, ermöglicht es, kollektive Identität
in den Globalisierungsprozeß zu integrieren - nicht ohne daß sich die
Identität dadurch veränderte, aber jedenfalls ohne daß sie sich darin
verlieren würde.
Im Lichte heutiger Erfahrung muß dieses Konzept als ein überlegenswerter
Gegenentwurf betrachtet werden, Gegenentwurf zu einem Modernisierungsprozeß,
der, indem er das gemeinschaftliche Miteinander als unmodern bekämpft, immer
wieder Formen fundamentalistischer Kollektivität hervorbringt. Erst wenn die
Menschen lernen, das Bedürfnis nach einem solchen Miteinander in den
Modernisierungsprozeß zu integrieren - und an Goethe anschließend heißt das,
seine Realisierung auf lokaler Ebene zu ermöglichen -, hat es vielleicht mit
diesen Fundamentalismen ein Ende.
Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg
1991
Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt/M. 31999
Goethe, Johann Wolfgang: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Herausgegeben im
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Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 91996
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Staiger, Emil (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Frankfurt/M.
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen
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