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Theodor Storm – Walter Scott der Friesen

 

»Ich habe jeden Tag gebadet, und ich muss sagen, es ist das unvergleichlichste Wasser, in dem ich gewesen bin.« Auf Einladung des dänischen Königspaares besucht der Autor Hans Christian Andersen 1844 die Insel Föhr und sammelt Eindrücke von der Nordsee. Sie finden Eingang in den Roman Die beiden Baroninnen. »Angesichts der vielen Geschichten und Sagen des friesischen Volkes und des ganzen Lebens an dieser Küste und auf den Inseln bedauerte man, dass diese Gegend keinen Walter Scott hervorgebracht habe, dass sich unter den Friesen kaum ein Dichter finden lasse.«

Die Friesen werden ihren Dichter bekommen, denn bereits ein Jahr vor Andersens Badereise hatte Theodor Storm die literarische Bühne betreten. 1843 erscheint das Liederbuch dreier Freunde, eine gemeinsam mit den Mommsen-Brüdern verfasste Sammlung von Gedichten – auch Walter Scott, der als Autor historischer Romane in den 1820er Jahren zu einer europäischen Berühmtheit wurde, hatte seine literarische Laufbahn mit einer Lyriksammlung begonnen. Theodor Storm wird in den folgenden 45 Jahren ein literarisches Œuvre schaffen, das wie gemacht ist, um den von Andersen diagnostizierten Mangel zu beheben. Storm wird zum Walter Scott der Friesen.

Aus gegenwärtiger Perspektive verdienen bei der Beschäftigung mit Storms Werk drei Aspekte besondere Beachtung: erstens, seine Bedeutung für die Konstruktion kultureller Identität – eben jene Parallele zu Walter Scott, dessen historische Romane beispielgebend für das Paradigma einer Invention of Tradition waren –, zweitens, seine Diskreditierung durch eine zumindest zweifelhafte persönliche Orientierung in Richtung minderjähriger Mädchen sowie drittens, die sozio-historische und entwicklungstheoretische Dimension seiner Novellen, die als eine Phänomenologie des Scheiterns gelesen werden können.

 

Meeresstrand

Ans Haff nun fliegt die Möwe,

Und Dämmrung bricht herein;

Über die feuchten Watten

Spiegelt der Abendschein.

 

Graues Geflügel huschet

Neben dem Wasser her;

Wie Träume liegen die Inseln

Im Nebel auf dem Meer.

 

Ich höre des gärenden Schlammes

Geheimnisvollen Ton,

Einsames Vogelrufen –

So war es immer schon.

 

Noch einmal schauert leise

Und schweiget dann der Wind;

Vernehmlich werden die Stimmen,

Die über der Tiefe sind.

 

Theodor Storm hat nicht die Nordsee erfunden. Die gibt es, als Teil des Atlantischen Ozeans, seit 350 Millionen und in ihrer heutigen Gestalt seit gut achttausend Jahren. Seit dem vierten Jahrtausend vor Christus siedeln Menschen auf dem Geestland, seit gut zweitausend Jahren in der Marsch.

Die Nordsee gehört zusammen mit den Siedlungsgebieten an ihrer Küste und den dort lebenden Menschen zu einem unscharf umrissenen Vorstellungsraum, der im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch als der Norden bezeichnet wird. Die Entwicklung dieses Vorstellungsraums setzt bereits mit der Germania des antiken römischen Historikers Tacitus ein, erfährt im 19. Jahrhundert einen entscheidenden Schub und dauert bis heute an.

Ein von Bernd Henningsen herausgegebener Sammelband über Das Projekt Norden resümiert: »Ausgehend von den frühesten Beschreibungen des Nordens und seiner Bewohner, entwickelte sich ein Prozess, in dem das Konzept ‚Norden‘ mit bestimmten Bedeutungen besetzt wurde.« Es zeige sich »ausgehend von den klassischen Texten bis hin zur heutigen Literatur, eine deutlich nachweisbare Tendenz, ein bestimmtes Bild des Nordens zu zeichnen. Dies bedeutet, dass man in Bräuchen, Natur und Gesellschaft nach charakteristischen Elementen sucht, die man für typisch nordisch hält.«

Dieser Prozess intensiviert sich im Zeitalter Storms. Im 19. Jahrhundert wird »im Zuge von Romantik und Nationalstaatsbildung der kulturelle Aspekt vorherrschend: Der Norden wird zum Kulturraum.« Er wird es in zweifacher Weise: zum einen identitätsbildend im Hinblick auf die Selbstwahrnehmung der Küstenbewohner, die ihre Heimat als eine das Nationale transzendierende Makroregion verstehen, zum anderen wird er es nach außen, indem die Fremdwahrnehmung dessen, was als nordisch zu verstehen sei, von der Rezeption von Texten und Bildern aus dem Norden beeinflusst wird. Für beide Prozesse – und die Wechselwirkung, die zwischen ihnen besteht – ist Theodor Storm prägend.

Und eben das verbindet Storm mit Walter Scott, dessen literarisches Werk die kulturelle Identität seines, des schottischen Volkes in einer Zeit (re)konstruiert, in der die politische Unabhängigkeit verloren und Schottland unter englische Herrschaft geraten ist. Das beginnt schon an der Wende zum 19. Jahrhundert mit der Minstrelsy oft the Scottish Border, einer Volksliedsammlung, mit der Scott nach eigener Auskunft die Absicht verfolgt, »eine Reihe von Mitteilungen über den Aberglauben des Volkes und die Sagen zusammenzutragen, die, wenn sie nicht jetzt gesammelt würden, bald vergessen wären. Durch diese Bemühungen, so schwach sie sein mögen, kann ich möglicherweise einen Beitrag zur Geschichte meines Vaterlandes leisten, dessen besondere Bräuche und Merkmale sich täglich weiter auflösen«. In seinen historischen Romanen, vor allem den sogenannten Scotch Novels, entwirft Scott später dann immer wieder Bilder eines Schottischseins, das sich seiner selbst vergewissern und gegen äußere Bedrohungen behaupten muss. Diese literarischen Bilder erzeugen eine enorme Wirkungsmacht und haben großen Anteil daran, dass Geschichte zu einem bestimmenden Faktor der kulturellen Identität Schottlands wird und bis heute ist.

Offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Intensität, mit der sich regionale kulturelle Identitäten ausbilden und generationenübergreifend fortschreiben, und den Bedrohungen von außen, mit denen sie historisch konfrontiert sind. Auch der Norden, Nordfriesland zumal, war über Jahrhunderte das Objekt wechselnder politischer Herrschaftsansprüche und kulturellen Hegemoniestrebens: zwischen den Herzogtümern Schleswig und Holstein und dem Königreich Dänemark ging es einige Male hin und her, selten friedlich, und nach dem Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 wurde Schleswig-Holstein preußische Provinz. Den Nordfriesen ist es gelungen, inmitten oder vielleicht sogar aufgrund dieser ständig wechselnden Loyalitätsansprüche ihre kulturelle Identität zu behaupten. Diese Identitätsstabilität hat wohl maßgeblich dazu beigetragen, den Vorstellungsraum Norden dauerhaft zu etablieren und zu einer Art Marke zu machen.

Einer der prominentesten Markenbotschafter dieses Nordens ist Theodor Storm. Sein 1856 erschienenes Gedicht Meeresstrand zeugt davon. Es repräsentiert die Nordsee und das Leben an der Küste, indem es optische und akustische Phänomene aufruft sowie durch einen Hinweis auf die Beständigkeit ihres Auftretens: »So war es immer schon.«

Diese Kombination aus prototypischen Elementen eines regionalen Wahrnehmungsfundus und der Inszenierung ihrer geradezu zeitlosen Gültigkeit gehört zu den zentralen literarischen Motiven, mit denen Storm zur Konstruktion kultureller Identität beiträgt. So etwa in der frühen Novelle Im Saal: »Aus der Ferne konnte man ein dumpfes eintöniges Rauschen in der jetzt eingetretenen Stille vernehmen. Einige der Gäste horchten auf. ›Das ist das Meer‹, sagte die junge Frau. ›Ja‹, sagte die Großmutter, ›ich habe es oft gehört; es ist schon lange so gewesen.‹« Es sind bei Storm oft die Alten, die ihr Erfahrungswissen über das Leben im Norden an der Grenze vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis weitergeben. Zumeist situiert Storm das Überlieferungsnarrativ – und auch das verbindet ihn mit Walter Scott – im Übergang von einer mündlichen Erzähltradition zur modernen Schriftkultur. Das beste Beispiel dafür ist zugleich das berühmteste: seine letzte Novelle, den Schimmelreiter, oft als Nationalepos der Nordfriesen bezeichnet, stattet Storm mit einer doppelten erzählerischen Rahmung aus. Den äußeren Rahmen bildet eine Überlieferung von Urgroßmutter zu Urenkel mit Hilfe eines »in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes«, die aber – ohne »die Wahrheit der Tatsachen verbürgen« zu können – »aus dem Gedächtnis« rekonstruiert werden muss. In dieser Überlieferungsfiktion gibt es einen weiteren Rahmen: ein Reiter kehrt während eines nächtlichen Ritts bei stürmischem Wetter in einem Wirtshaus ein, in dem die Bewohner eines Küstendorfes sich versammelt haben, in Sorge vor einer möglichen Sturmflut. »Abseits hinter dem Ofen«, weiß er zu berichten, sitzt ein alter Schulmeister, der dann zum eigentlichen Erzähler der Geschichte vom Schimmelreiter wird, die sich »in der Mitte des vorigen Jahrhunderts« zugetragen habe. Mit dieser doppelten Rahmung stellt Storm das Erzählte in einen Zusammenhang oral tradierter Überlieferungen und charakterisiert die Küstenbewohner als ein Volk von Geschichtenerzählern. Ihre kulturelle Identität speist sich aus der Weitergabe des Vergangenen von Generation zu Generation.

Bei uns, die wir lesend Zeugen der von Storm inszenierten Wissenstransfers von Alt zu Jung werden, entsteht en passant ein Bild von Land und Leuten, eine, ethnologisch gesprochen, dichte Beschreibung regionaler Kultur, die bis heute Wirkung entfaltet und der bereits zu Lebzeiten Storms eine ethnografische Funktion zugeschrieben wurde.

So etwa von Theodor Fontane, der als erfolgreicher Reiseschriftsteller viele europäische Regionen bereist, beschrieben und dem deutschen Publikum nahegebracht hat. Bei einem Besuch in Nordfriesland im Herbst 1864 glaubt er, hier nichts mehr zu tun zu haben: »Szenerie. Die Stadt. Die Marsch, die Geest, der Deich, die Koogs oder Kroogs, die Polder, das Meer, das Watt, die Flut – ich zähle es nur auf, wer wollte es beschreiben, denn es gibt wohl keine Lokalität in Deutschland, die von derselben Hand so oft und so meisterhaft beschrieben worden wäre. Diese Hand ist die Th. Storms.«

Doch Fontane, der es gekonnt versteht, ein kulturelles Gemälde von jedem seiner Reiseziele in Europa zu entwerfen, erkennt auch die Begrenztheit Storms, der zwar diese eine Gegend »meisterhaft beschrieben« hat, aber eben auch nur diese eine darzustellen vermag. »Er war für den Husumer Deich, ich war für die Londonbrücke, sein Ideal war die schleswigsche Heide mit den roten Erikabüscheln, mein Ideal war die Heide von Culloden mit den Gräbern der Camerons und Mac Intosh«.

Was Fontane dem Kollegen unterstellt und wofür er ihn kritisiert, ist, dass Storm die eigene kulturelle Identität ideologisiert – die Vorstellung, »dass eine wirkliche Tasse Tee nur aus seiner Husumer Kanne kommen könne« – und ihre Kontur aus der Abwertung der anderen gewinnt. Der weit gereiste Preuße Fontane spricht von einer »das richtige Maß überschreitenden, lokalpatriotischen Husumerei, die sich durch seine ganze Produktion – auch selbst seine schönsten politischen Gedichte nicht ausgeschlossen – hindurch zieht. Er hatte für die Dänen dieselbe Geringschätzung wie für die Preußen.« Starker Tobak.

Einer, der Fontanes Vorwurf der »Provinzialsimpelei« energisch entgegen tritt, ist Thomas Mann: »Es ist nichts Rechtes damit, es stimmt nicht«, schimpft er. Zwar bemerkt auch Mann bei Storm einen »Tonfall, in dem ein nervöser und klagender Widerstand gegen alles nicht Heimatliche, auch das gleich hinter Husum und Hademarschen beginnende, sich auszudrücken scheint«, und attestiert ihm »Heimatliebe, Heimatbefangenheit, Heimatsmanie«. Aber die habe »nichts zu schaffen mit Simpelei und Winkeldumpfigkeit, nichts mit dem, was man wohl eine Zeitlang ›Heimatkunst‹ nannte.« Vielmehr sei Storms »Heimatlichkeit« nichts anderes als »Sehnsucht, Nostalgie, ein Heimweh, das durch keine Realität zu stillen ist.«

Der Lübecker macht es dem Husumer nicht zum Vorwurf, dass kein großer Gesellschaftsroman, kein »europäisches Meisterwerk« von ihm zu erwarten war, vielmehr feiert er in ihm eine »Urgewalt der Verbindung von Menschentragik und wildem Naturgeheimnis« und eine Sprache, die »die absolute Weltwürde der Dichtung« besitze. Es klingt hier etwas an, das mit Johann Gottfried Herders Stimmen der Völker in Liedern beginnt und in Goethes Vorstellung einer Weltliteratur mündet. Herder hatte in der 1770er Jahren den Gedanken entwickelt, die Poesie sei »die Blume der Eigenheit eines Volks, seiner Sprache und seines Landes, seiner Geschäfte und Vorurtheile, seiner Leidenschaften und Anmassungen, seiner Musik und Seele.«

Diese Idee, die Literatur eines Volkes beinhalte so etwas wie den genetischen Code seiner kulturellen Identität, hatte Goethe in Straßburg bei Herder kennengelernt und mehr als fünfzig Jahre später in seine Überlegungen zu einer aufkommenden Weltliteratur integriert. Es wird darin das Lokale, ethnisch Besondere zum Medium globaler Kommunikation. Weltliteratur meint nicht Weltbestenliste, sondern, so Goethe, ein »Zusammentreten«, ein Forum des Austausches und wechselseitigen Kennenlernens kultureller Identitäten, einen »freien geistigen Handelsverkehr«, bei dem es nicht darum gehe, »die Nationen sollen überein denken, sondern sie sollen nur einander gewahr werden, sich begreifen, und wenn sie sich wechselseitig nicht lieben mögen, sich einander wenigstens dulden lernen.«

Storms Werk, das hat Thomas Mann erkannt und gerühmt, ist Weltliteratur in eben diesem Sinne. Seine »ernste und spröde, in Nebelfeuchte gehüllte und gegen das Abergläubisch-Mystische nachgiebige Dichtung« entwirft ein Bild kultureller Identität des Nordens wie Walter Scott eines von Schottland – eine große Fiktion, die aus dem Künstlerischen heraus- und in die innere und äußere Wirklichkeit hineinwirkt und den Lesenden buchstäblich zu verstehen gibt, wie es da so ist.

 

So lange

So lange hab das Knösplein ich

Mit heißen Lippen gehalten,

Bis sich die Blättlein duftiglich

Zur Blume aufgespalten.

So lange hab ich das Kind geküßt,

Bis Du ein Weib geworden bist!

Um Künstler, die mit ihrem Werk die kulturelle Identität einer Gemeinschaft repräsentieren, entsteht oft ein Personenkult. Storm wird dafür schon zu Lebzeiten gefeiert. Zu seinem siebzigsten Geburtstag wollen einige Kieler Damen dem berühmten Autor ein besonderes Geschenk machen. Sie beauftragen den Flensburger Tischler Heinrich Sauermann mit der Herstellung eines mit Schnitzereien verzierten Schreibtisches. Sauermann beschäftigt zu dieser Zeit einen Lehrling, Emil Hansen, dem er einige Arbeiten an dem Möbel überträgt, so zum Beispiel vier »tiefsinnige Eulen«, die rechts und links auf dem Schreibtisch angebracht sind. Der Lehrling, der Storms Eulen schnitzt, wird später unter dem Namen seines Heimatortes ein bedeutender Maler des Expressionismus werden und entwickelt sich mit seinen Bildern vom Meer und der Küste ebenso zu einem Markenbotschafter des Nordens, wie Storm es war.

Doch es gibt ein Problem mit jenem Emil aus Nolde, dessen Bilder 1937 in der Ausstellung über Entartete Kunst von den Nazis diffamiert werden, der aber selbst Anhänger des Nationalsozialismus, Antisemit und Verfasser eines ›Entjudungsplans‹ ist. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben er – und später seine Erben – es verstanden, diesen Aspekt seiner Biografie vor der Öffentlichkeit weitgehend zu verbergen. Erst als vor einigen Jahren der gesamte Nachlass zugänglich gemacht und wissenschaftlich ausgewertet wurde, bemerkten die Kunstliebenden, wen sie da jahrzehntelang verehrt hatten.

Was tun? Verliert ein Kunstwerk seinen Reiz, büßt es seine Qualität ein, wenn die persönliche Integrität des Künstlers aufgrund neuer Erkenntnisse als beschädigt gelten muss? Ja, sagen die Befürworter einer Cancel Culture, die solchen Kunstwerken die öffentliche Aufmerksamkeit entziehen wollen. Ja, hat Angela Merkel gesagt, die ihren Nolde aus dem Arbeitszimmer des Kanzleramts entfernen ließ. Nein, sagen diejenigen, die bei der Wahrnehmung eines Kunstwerks von dessen Urheber abstrahieren und nicht davon ausgehen, dass ein guter Künstler auch ein guter Mensch sein müsse.

Als Theodor Storm den Schreibtisch mit Noldes Eulen geschenkt bekommt, ist er ein berühmter Schriftsteller mit untadeligem Leumund. Doch auch bei ihm stellt sich das heute anders dar. Eine stark autororientierte Storm-Forschung hat in den vergangenen Jahren einen Aspekt ausgeleuchtet, der die Biografie des Autors selbst glühenden Anhängern als heikel erscheinen lassen muss. Es gibt etwas zu besprechen.

Die Romantik hat in Deutschland das Bild des unschuldigen Kindes zu einem Sujet künstlerischer Darstellung gemacht, Kindheit zu einem für Erwachsene nicht mehr zugänglichen »Goldenen Zeitalter« (Novalis) verklärt. Insofern ist es zunächst nicht einmal ungewöhnlich, dass der in der Romantik sozialisierte Storm den Begriff Kind häufig verwendet. Doch Storm dient der Begriff nicht allein als Projektionsfläche für eine Idealisierung des Unschuldigen. Kind meint bei ihm oft konkret minderjähriges Mädchen und wird allzu häufig als Objekt eines nicht erst aus heutiger Sicht unangemessenen Begehrens angesprochen.

Schon Thomas Mann war nicht entgangen, dass Storms Verhalten als Mensch und vor allem als Mann mit den sozialen Normen nicht im Einklang steht. »Korrekt gerade ist eigentlich nichts bei Storm – als so begehrenswert ihm selbst das Bild des gemütvoll Korrekten möge vorgeschwebt haben und so versucht und bemüht er gewesen sein mag, sein Leben und Wesen nach diesem Wunschbilde zu stilisieren.« In der biografischen Wirklichkeit aber verliebt sich der neunzehnjährige Oberschüler des Lübecker Katharineums in ein zehnjähriges Mädchen aus Altona – und macht ihr, als sie sechszehn wird, einen Heiratsantrag. »Diese Kinderliebe erscheint jedenfalls nicht ganz korrekt«, befindet Mann. »Junge Leute pflegen sich eher in reife Frauen als in Zehnjährige zu verlieben.«

Auf das Unangemessene seines Verhaltens angesprochen, zeigt Storm zunächst kein Problembewusstsein: »Warum sollte ich sie nicht lieben, was doch so natürlich war«. Doch 1843 notiert er: »die Liebe zu diesem Kinde wird mein Leben noch schlimm verwüsten.«

Der Storm-Forscher Heinrich Detering nimmt kein Blatt vor den Mund: In »der Tat scheint das Drama, das sich da zwischen 1836 und 1842/43 zwischen Altona, Lübeck und Husum abgespielt hat, nicht ganz weit weg zu sein von einem Tatbestand, für den heute eben das Wort von der ›Pädophilie‹ bereitsteht.« Storms Gedichte aus dieser Zeit sind beredtes Zeugnis eines Lolitakomplexes. Die Ruhestörerin etwa wartet mit einer psychologisch aufschlussreichen Selbstrechtfertigungsstrategie auf: das lyrische Ich überträgt die Verantwortung für das, was da zumindest gedanklich vor sich geht, vom Subjekt auf das Objekt und stilisiert sich als Opfer. Es wendet sich in dem Gedicht an ein »süßes Kind« und schildert, wie dieses Kind ihn daran hindert, sich in »Ruhe« und »Gebet« der »heiligen Jungfrau« zuzuwenden. Denn »mächtiger als die Andacht ist die Liebe,/Und mächtiger als die Heilige bist Du./Dich denk ich nur, und dich nur bet‘ ich an. –/So steht’s mit mir, und das hast du getan,/Du böses Kind!«

In diesem und ähnlichen Texten zeige sich, so Detering, »die Psychopathologie eines bürgerlichen Intellektuellen«. Es sei darin zu beobachten, »wie das zunächst vor- und übergeschlechtlich imaginierte Sehnsuchtsbild sich konkretisiert und gleichsam zusammenzieht zu einem bestimmten Mädchen: Die verlorene und erträumte Kindheit wird zum weiblichen Objekt männlichen Begehrens.«

Ist der Verdacht des Unkorrekten einmal in der Welt, fällt auch auf Storms erste Begegnung mit seiner späteren zweiten Ehefrau ein fahles Licht. Noch einmal Thomas Mann: »Sie heißt Dorothea Jensen und kommt eines Tages während seiner Brautzeit, als dreizehnjähriges Mädchen, eine feine zarte Blondine, zusammen mit seiner Schwester Cäcilie auf sein Zimmer, wobei er mit Betroffenheit gewahr wird, dass dies Kind ihn liebt und dass sie auch ihrerseits ›einen eigentümlichen Reiz‹ auf ihn ausübt. Dieser eigentümliche Reiz, einem Bräutigam als Sensation nicht ganz zukömmlich«, vervollständigt in Manns Augen das Bild eines Mannes mit einer problematischen Neigung für (zu) junge Mädchen.

Storm hat einen solchen eigentümlichen Reiz auch literarisch gestaltet. In der 1874 entstandenen Novelle Waldwinkel zieht ein älterer Mann ein minderjähriges, elternloses Mädchen an sich, isoliert sich mit ihr in ebenjenem Waldwinkel und gerät »in den Bann dieses fremden Kindes«, dessen Augen »ein halbes Dutzend Jahre älter als das Mädchen selbst« sein mochten. Er löst sie bei ihrem Vormund aus und lebt mit ihr wie »Mann und Weib« in der Waldeinsamkeit. Der Text problematisiert den Altersunterschied ausschließlich aus der Perspektive des Mannes, der eine diffuse Eifersucht entwickelt und fürchtet, verlassen zu werden. Sein Versuch, diese ebenfalls nicht ganz korrekte Beziehung durch eine Ehe verbindlich zu machen, scheitert am Ende der Novelle.

In der historischen Wirklichkeit kommt es so weit nicht. Zwar wird man nicht behaupten können, Storms Umgang mit dem romantischen Konzept der Kindsbraut sei »ganz unanstößig gewesen« (Heinrich Detering), und moralisch mag er bedenklich sein. Kriminell war er nicht. Es bleibt daher zu hoffen, dass selbst diejenigen, die dem persönlichen Verhalten von Künstlern eine Bedeutung für die Wahrnehmung von Kunstwerken zuschreiben, zwischen dem Handeln, für das wir Verantwortung tragen, und den Neigungen und Phantasien, für die das nicht im gleichen Maß gelten kann, unterscheiden.

 

Geh schlafen, Herz!

Geh schlafen, Herz! Sie kommt nicht mehr,

Dereinst wohl wäre sie gekommen;

Doch hat die Zeit, wie manches sonst,

Auch dieses mir dahingenommen.

 

Nicht nur die Novelle Waldwinkel endet unglücklich. Scheitern ist bei Storm Programm. Das Wort scheitern hat seinen Ursprung in dem Bild eines in Scheite zerborstenen Stückes Holz. Voraussetzung für jedes Scheitern ist also eine Idee davon, wie es eigentlich sein sollte. Oder werden: ein Vorhaben, ein Plan, ein Ziel. Und der Wille, dieses Ziel zu verwirklichen. Das Leben eines jeden Menschen besteht aus einem Bündel solcher Ideen und Pläne. Es wird immer wieder neu geschnürt, verändert sich in Abhängigkeit von inneren und äußeren Faktoren, als Ganzes ist es ein Lebensentwurf, Vision einer wünschenswerten Zukunft. Scheitern ist, wenn es anders kommt.

Den Antrieb für Lebensentwürfe liefern individuelle Wünsche, die Grenzen für ihre Verwirklichung soziale Normen. Storms über fünfzig Novellen sind voll von beidem. Sie konstruieren konservative Gesellschaften, in denen es für die Realisierung von Lebensentwürfen normierte Korridore individuellen Handelns gibt, die soziale Homogenität herstellen sollen. Sie bestehen aus Normen, die miteinander korrespondieren und ineinander verwoben sind. Vier solcher Korridore sind in Storms Gesellschaftsentwürfen von wesentlicher Bedeutung:

Der erste wird durch eine Gruppe von Normen gebildet, die Forderungen an die persönliche Integrität stellen. Eine Figur, die in Storms fiktiven Welten einen Lebensentwurf erfolgreich verwirklichen will, sollte sich im Hinblick auf die persönliche Lebensführung nichts zuschulden kommen lassen: Ehre und Anstand, leben im Einklang mit Recht und Gesetz, norddeutsche Affektkontrolle und vernünftiges Handeln unter Beachtung der Primär- und Sekundärtugenden sind grundsätzliche Forderungen, die Storms Gesellschaften an die Persönlichkeit stellen.

Ein zweiter Korridor formiert sich aus Normen familiärer Bindung, die bei biographischen Weichenstellungen im Zweifel vor aller Individualität maßgeblich sind. Das Wohlergehen und Ansehen der Familie gilt es zu erhalten und zu fördern. In diesen Kontext gehört auch die Erwartung, ein Leben im Einklang mit der zugeschriebenen Geschlechterrolle zu führen. In Storms Gesellschaftsfiktionen sind Männer die Entscheidungsträger und als aktive Lebensgestalter für das Familieneinkommen verantwortlich. Frauen kommt die Rolle einer Mit-Wirkung zu, die der Haushälterin, fürsorglichen Mutter und Begleiterin, deren Leben sich auf den familiären Binnenraum konzentriert.

Ein dritter Korridor entsteht dadurch, dass Storms fiktive Gesellschaften innovationsfeindlich sind, durchdrungen von tradierten Prozessen, deren Langlebigkeit die Praxis selbst dann noch unangefochten leitet, wenn die Theorie sich über sie hinaus entwickelt hat. Seine Novellen konstruieren Kollektive, in denen unaufgeklärtes Erfahrungswissen und Aberglaube diskursbestimmend sind. Lebensentwürfe, die diesen Aspekt nicht integrieren oder gar leugnen, sind zum Scheitern verurteilt.

Der vierte Orientierungskorridor schließlich entsteht aus einer Bündelung von sozialen Normen, die wirtschaftliche und soziostrukturelle Erwartungen an die handelnden Figuren formulieren. Lebensentwürfe haben auf ökonomischen Erfolg ausgerichtet zu sein, darauf, die eigene finanzielle Lage sowie die Position in der sozialen Hierarchie zu verbessern oder zumindest zu halten. Zwei Faktoren sind dafür maßgeblich. Der erste ist die Berufswahl: bei Männern entspricht es der sozialen Norm am ehesten, wenn eine Familientradition fortgeführt und ausgebaut wird, wenn ein Hof, ein Handwerksbetrieb, ein Geschäft übernommen und vergrößert wird. Akademikersöhne erfüllen die Norm, wenn sie ein Studium für eine Karriere nutzen, die der ihres Vaters mindestens gleichkommt. Von Frauen wird erwartet, dass sie neben der Familienarbeit die jeweils passende Unterstützungsleistung für den Beruf des Mannes erbringen. Der zweite Faktor ist daher die Partnerwahl, die gute Partie, die den sozialen Status sichert oder verbessert. Soziale Mobilität ist kein Charakteristikum von Storms fiktiven Welten, soziale Kontrolle dafür umso mehr. Lebensentwürfe, die diesen vierten Orientierungskorridor verlassen, eröffnen zwar möglicherweise Aufstiegschancen, werden von der Gesellschaft aber kritisch beäugt und schnell als unpassend und anmaßend bewertet.

In dem sozialen Raum, den diese vier Korridore aufspannen, entwickeln Storms Protagonisten ihre Lebensentwürfe und in diesem Raum handeln sie, um ihre Pläne zu verwirklichen. Die Normen, die ihm seine Kontur verleihen, stellen komplexe Anforderungen an die handelnden Figuren, denn sie sind streng und starr und sie verzeihen keine Fehler. Scheitern ist, wenn es anders kommt. Und bei Storm kommt es anders. Auf ein Happy End hofft man bei ihm zumeist vergebens, und aus dem sozialen Abseits gibt es keinen Rückweg. Der Autor müsse sich den Vorwurf gefallen lassen – so der Storm-Biograph Jochen Missfeldt –, »er habe Geschichten geschrieben, die nur ein einziges Motiv behandeln: das der gescheiterten Liebe und des gescheiterten Lebens.« Und in der Tat entwerfen die Novellen eine Art Phänomenologie des Scheiterns. Storm spielt in ihnen durch, welche Ursachen es für das Misslingen von Lebensentwürfen gibt. Das reicht von einfachen Normabweichungen, die gesellschaftlich sanktioniert werden, über Handlungskonflikte aufgrund fehlender Normenklarheit bis hin zu tragischen Konstellationen, in denen Lebensentwürfe scheitern, obwohl oder gerade weil individuelle Wünsche der Normerfüllung untergeordnet werden. Das Problem von Storms Protagonisten liegt dabei häufig im Timing. Entweder sie verfolgen die Verwirklichung ihres Lebensentwurfs über eine lange Zeit, ohne rechtzeitig zu hinterfragen, ob eine realistische Chance des Gelingens besteht, oder sie verfolgen ihn nicht mit der erforderlichen Kontinuität und verpassen die Chance auf Erfüllung.

Immensee, erschienen 1850, erzählt von Reinhard und Elisabeth, die schon als Kinder befreundet sind. Sie verlieben sich ineinander und alles spricht für eine gemeinsame Zukunft. Doch Reinhard vernachlässigt während eines Studienaufenthalts in der Fremde die Kommunikation, und Elisabeth heiratet auf Drängen ihrer Mutter Reinhards gut situierten Schulfreund Erich. Reinhard besucht sie später noch einmal, aber es bleibt ihm nichts, als sich das Scheitern dieses Lebensentwurfs resigniert einzugestehen.

Die 1861 erschienene Novelle Drüben am Markt erzählt von dem Mediziner Christoph, der sich vornimmt, die Tochter des Zweiten Bürgermeisters zu heiraten. Er malt sich eine glückliche Zukunft mit ihr aus und baut mit großem Aufwand sein Haus zu einem Familiennest um. Als er sie schließlich fragt, lehnt sie ab, und er bleibt allein. Denn er hat sich nicht bewusst gemacht, dass er als äußerlich unattraktiver Sohn eines Schneiders keine standesgemäße Partie für eine Bürgermeistertochter darstellt.

Zwei Jahre später erscheint die Novelle Abseits. Sie erzählt von Meta und Ehrenfried, die durch Erbschaften zu etwas Geld gekommen sind, das sie durch Fleiß und Sparsamkeit vermehren. Die Novelle beschreibt, wie sie den Plan entwickeln, sich mit ihren Ersparnissen gemeinsam eine selbständige Existenz aufzubauen. Einige Jahre arbeiten sie darauf hin, und während dieser Zeit wandelt sich das Zweckbündnis zu einem liebevollen Miteinander. Doch kurz bevor die Beiden ihre Pläne bekannt machen wollen, erhält Meta einen Brief, in dem ihr Bruder um finanzielle Unterstützung bittet. Meta beschreibt den Zwiespalt zwischen individuellem Glück und Erfüllung der sozialen Norm mit dem Bild einer Waage: »auf der einen Schale war der Name ›Ehrenfried‹ und auf der anderen der meines Bruders«. Sie entscheidet sich für die Normerfüllung. Ohne ihren Anteil reicht es nicht für eine Existenzgründung, das ersehnte Miteinander mit Ehrenfried fällt zurück auf den Zustand eines Nebeneinanders.

Storms Novellen – sein Schweizer Kollege Gottfried Keller spricht von »Resignationspoesie« – fächern das Phänomen des Scheiterns breit auf: der gescheiterte Künstler, der sich als Musiklehrer verdingen muss (Der stille Musikant), der Bauernsohn, der einer femme fatale verfällt und sein Leben ruiniert (Draußen im Heidedorf), die misanthropische Alte, die steinreich, aber vereinsamt stirbt (Im Nachbarhause links), der missratene Sohn, der durch Spielsucht und riskante Geschäfte sein Leben vernichtet und die Familie in Armut stürzt (Carsten Curator) oder der überstrenge Vater, der mit seiner Sturheit den Sohn für immer aus dem Haus treibt (Hans und Heinz Kirch).

Dem Schimmelreiter, der als Storms novellistisches Meisterwerk gilt, kommt auch in der Phänomenologie des Scheiterns eine herausragende Bedeutung zu. In ihm präsentiert der Autor einen energiegeladenen Projektemacher, der getrieben von einem großen Willen gegen soziale Normen rebelliert. Hauke Haien ist ein sturköpfiger und aufbrausender Außenseiter, der auch schon mal einen Kater tötet, wenn er ihm einen am Strand gefangenen Vogel streitig macht. Seinen Aufstieg zum Deichgrafen verdankt er weder einer profunden Ausbildung noch einem Familienvermögen, sondern der Heirat mit der Tochter des bisherigen Amtsinhabers. Als diese lebensbedrohlich erkrankt, leugnet er die Allmacht Gottes und stellt sich in den Augen der Dorfgemeinschaft vollends ins soziale Abseits. Zu seinem Lebensentwurf gehört die Verwirklichung einer Vision von einem innovativen Deichprofil, für die er die Macht seines Amtes rabiat gegen die Überzeugung seiner Widersacher einsetzt. Über deren Traditionsbewusstsein und Aberglauben setzt er sich hinweg und zwingt ihnen seinen Willen auf. Am Ende ertrinkt er gemeinsam mit Frau und Kind in den tosenden Wassern, die den Deich brechen lassen. Mehr scheitern geht nicht.

Die sozialen Normen in Storms fiktiven Welten sind nicht unsere Normen. Seine Gesellschaften sind durch eine vormoderne Homogenität gekennzeichnet, die in der historischen Wirklichkeit unserer Gegenwart von einem sozialen Pluralismus abgelöst worden ist, der Raum bietet für individualistische Lebensentwürfe auf Zeit. Sie können korrigiert, verändert, fallengelassen und durch andere ersetzt werden. Das moderne Individuum erfindet sich selbst und kann sich immer wieder neu erfinden. Aber eben nur als Individuum, als – um es in der vom Storm-Freund Ferdinand Tönnies eingeführten modernen soziologischen Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft auszudrücken – zweckorientiertes Wesen in einem gesellschaftlichen Nebeneinander. Für dieses Individuum mag das modische Wort vom Scheitern als Chance gelten, als Durchlauferhitzer für einen neuen, besseren Lebensentwurf. Aber dort, wo das Individuum nicht Einzelwesen ist, sondern Mensch, affirmativ eingebunden in ein gemeinschaftliches Miteinander – sei es als Partner, Familienmitglied oder Freund – kennzeichnen auch heute Normen die Bedingungen des Gelingens. Und wenn es dort anders kommt, ist es mit dem Misslingen auch in unserer Gegenwart noch wie beim Meister der Novelle: Scheitern ist zerstörerisch. Es schreibt sich unumkehrbar ein in die Lebensgeschichte. Dieses Scheitern bleibt. Mit der literarischen Darstellung und kritischen Analyse dieses Phänomens ist Storm vielleicht sogar etwas mehr als ein Walter Scott der Friesen.