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Walter Scotts Aufheben mündlicher Überlieferung in den Scottish Borders

In der Form der Schrift ist alles Überlieferte für jede Gegenwart gleichzeitig.

Hans-Georg Gadamer 

 

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheint in Großbritannien und in Deutschland eine Reihe von Büchern, die alte, bis dahin oral tradierte Volkslieder in schriftlicher Form zugänglich machen. Thomas Percy veröffentlicht 1765 Reliques of Ancient English Poetry, James Mcpherson im selben Jahr die – später als fingiert durchschauten – Works of Ossian, 1767 folgt David Herd mit Ancient Scottish Songs, 1787 Joseph Ritson mit seiner Sammlung Ancient Songs. In Deutschland nimmt Johann Gottfried Herder diesen Trend auf und beschäftigt sich in den 1770er Jahren intensiv mit volkpoetischen Überlieferungen.

Das Sammeln und schriftliche Fixieren von Volksliedern geschieht zumeist in dem Bewußtsein einer Bedrohung. Und diese Bedrohung kann sich auf beide Teile des Kompositums beziehen: bedroht sein kann das Volk, dem die Lieder angehören, sowie das Lied als eine auf Mündlichkeit angewiesene literarische Gattung. In Deutschland steht die Sorge um das Lied zumeist im Vordergrund. Wenn etwa Herder in einer Vorrede zu seiner Sammlung Alte Volkslieder von 1775 warnt, »Wir sind eben am äußersten Rande des Abhanges: ein halb Jahrhundert noch und es ist zu spät!«[1], so wird die Dringlichkeit deutlich, mit der er meint, die »Reste aller lebendigen Volksdenkart« vor dem »Abgrund der Vergessenheit«[2] retten zu müssen.

Bewußtsein einer Bedrohung auch bei Achim von Arnim, der die Ursache für die Gefährdung des Volksliedes in einer allgemeinen Tendenz zur Künstlichkeit, einer wachsenden Kluft zwischen Kunst und Volk zu erkennen glaubt. In einer Nachschrift zu der, gemeinsam mit Clemens Brentano herausgegebenen Sammlung Des Knaben Wunderhorn fordert Armin die Leser auf, »die Wirkungen dieser allgemeinen Erscheinung im Volksliede zu beobachten, sein gänzliches Erlöschen in vielen Gegenden, sein Herabsinken in andern zum Schmutz und zur Leerheit der befahrnen Straße«.[3]

Versuche, der Bedrohung mündlich überlieferter Volkslieder durch schriftliches Fixieren zu begegnen, sind dazu verurteilt, erfolgreich zu scheitern: Die Ambivalenz, die derartigen Rettungsversuchen innewohnt, besteht darin, daß es zwar gelingt, den Inhalten, nicht aber der Form ihrer Überlieferung einen Zugang zur Gegenwart offen zu halten. Denn dieser Zugang wird durch Schriftlichkeit erschwert, wenn nicht verhindert. Schriftliches Fixieren weist volkspoetischer Oralität einen Platz in der Vergangenheit zu.

Diese Ambivalenz haben die Sammler und Herausgeber zum Teil erkannt und thematisiert. Einer von ihnen ist der schottische Autor Walter Scott, der mit einer literarischen Strategie versucht, auf die Ambivalenz schriftlichen Fixierens zu reagieren.

Der vorliegende Aufsatz möchte zeigen, auf welch faszinierende Weise sich in Scotts Projekt einer Verschriftlichung mündlicher Überlieferungen zwei Diskurse überschneiden, denen heute in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung viel Beachtung zuteil wird: zum einen der Diskurs über die Bedeutung oral tradierter Lieder für die kulturelle Identität eines Volkes, zum anderen der Diskurs über die Verschriftlichung mündlicher Überlieferungen und die Ambivalenz, durch die diese moderne literarische Strategie gekennzeichnet ist.

Im Jahr 2001 hatte ich Gelegenheit, mich als Gast von David Hewitt am Kings College der Universität von Aberdeen mit dem literarischen Werk des schottischen Autors Walter Scott zu beschäftigen.  

Walter Scott wurde 1771 in Edinburgh geboren und avancierte mit seinen historischen Romanen in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem der meistgelesenen Autoren in Europa. Den Beginn von Scotts Laufbahn als Schriftsteller markiert ein Werk, das im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen wird. Es trägt den Titel Minstrelsy of the Scottish Border, die ersten beiden Bände erschienen 1802, ein abschließender dritter Band 1803.

Minstrel heißen auf den britischen Inseln umherziehende Sänger, die - ihren Gesang mit einem Saiteninstrument begleitend - Lieder über bedeutende historische Ereignisse und Persönlichkeiten vortrugen, vergleichbar etwa mit den Barden des deutschen Mittelalters oder den Troubadours der Provence. Bei einer Minstrelsy handelt es sich um eine Sammlung solcher Lieder, und der Untertitel des Werks lautet: Historical and Romantic Ballads. Collected by Sir Walter Scott in the Southern Counties of Scotland; with a few of modern date, founded upon local Tradition.

Mit den Borders, dem schottischen Grenzgebiet zu England, verbindet Scott eine besondere Beziehung. Als Kind hält er sich zum ersten Mal für längere Zeit dort auf. Bei seinen Großeltern auf dem Land lernt er die Geschichten, Gedichte und Lieder der Border-Region kennen, und eine autobiographische Aufzeichnung berichtet, eine Tante »used to read these works to me with admirable patience until I could repeat long passages by heart.«[4]

Auf die Zeit seiner Kindheit zurückblickend, glaubt Scott in dieser literarischen Früherziehung einen Zusammenhang zu erkennen, den er später zu der programmatischen Vorstellung weiterentwickelt, die Identität einer Kultur sei in ihrer Literatur aufgehoben. »The local information which I conceive had some share in forming my future taste and pursuits I derived from the old songs and tales which then formed the amusement of a retired country family.« [5]

Auch später, zurück bei seinen Eltern in Edinburgh, zieht es Scott immer wieder in die Borders. Während seines Jurastudiums unternimmt er regelrechte Forschungsreisen - Volksliedexpeditionen, auf denen er mit, wie ein Biograph meint, geradezu »kleptomanischem Eifer«[6] Geschichten und Lieder sammelt. Hauptquelle ist die ländliche Bevölkerung, von der er sich die oral tradierten Lieder und Balladen vortragen läßt. Daneben beginnt er aber auch die in gedruckter Form vorliegenden Gedichtsammlungen zu studieren, etwa die berühmten Reliques of Ancient English Poetry von Thomas Percy, die Mitte der 1790er Jahre bereits in der vierten Auflage vorliegen.

All dies geschieht noch nicht in der Absicht, Material für eine Veröffentlichung zusammenzutragen. Scotts Motive sind eher die eines Sammlers sowie sein Interesse an den Auswirkungen, die der politische und in unzähligen Schlachten militärisch ausgetragene Dauerkonflikt zwischen England und Schottland auf die Grenzregion hat. Der letzte – vergebliche – Versuch, die englische Vorherrschaft mit Gewalt zu beenden und die schottische Unabhängigkeit wiederherzustellen, liegt zu diesem Zeitpunkt gerade mal 45 Jahre zurück, und viele der Lieder, die Scott zu hören bekommt, besingen die Helden des jakobitischen Aufstandes von 1745 

Es sind vor allem zwei Umstände, die dazu führen, daß aus Scotts Leidenschaft für das Sammeln literarischer Antiquitäten schließlich doch die Idee zu einem Buchprojekt entsteht: zum einen liefert die Ernennung zum Sheriff von Selkirkshire Scott ein beträchtliches Einkommen und einen willkommenen Anlaß, jeweils mehrere Monate eines Jahres in den Borders zuzubringen, zum anderen stellen sich erste literarische Erfolge ein, die eine Laufbahn als Schriftsteller zu einer realistischen Option werden lassen.

Von 1799 an entwickelt sich aus Scotts diffuser Sammelleidenschaft ein systematischeres Vorgehen. Er knüpft ein Netz von Zuträgern – Freunde und Bekannte aus den Borders, historisch interessierte Adlige sowie bezahlte Mitarbeiter, die ihm aufgestöberte Manuskripte, gedruckte Anthologien und eigene Aufzeichnungen oraler Überlieferungen zur Verfügung stellen. Scott sammelt und analysiert, vergleicht unterschiedliche Fassungen, bemüht sich, die Geschichten, die die Lieder erzählen, historisch zu verifizieren.

Es entstehen zunächst zwei Bände, der erste beinhaltet Lieder, die auf historische Begebenheiten zurückgehen, der zweite enthält Lieder über schottische Sagen und Legenden. Ein im darauffolgenden Jahr publizierter dritter Band versammelt zeitgenössische Texte, die den Stil historischer Volkslieddichtung nachahmen.

Das, was Scotts Sammlung von einer Anthologie à la Thomas Percy unterscheidet und sie aus heutiger Sicht besonders interessant macht, ist die Programmatik, der diese Sammlung folgt. Die Minstrelsy liefert zu jedem Text einen ausführlichen Kommentar, der Wort- und Sacherklärungen enthält, über lokalgeschichtliche Hintergründe aufklärt und dem Leser Informationen zu unterschiedlichen Fassungen und der Geschichte ihrer Überlieferung bietet. Hinzu kommen Essays und Einführungstexte, die die Sammlung begleiten.

Schon den ersten Band eröffnet Scott mit einer Einführung, die etwa 150 Buchseiten umfaßt. Der Text gliedert sich in drei Teile: eine politische Geschichte der Borders vom 6. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, eine Kultur- und Sozialgeschichte, die Auskunft über die regionalen Sitten und Gebräuche gibt, und eine kurze Einführung in die Struktur der Sammlung und die Absicht, die sie verfolgt. Scott arbeitet auch nach der Veröffentlichung der Minstrelsy weiter an den Kommentaren und an Erläuterungen. Noch zwei Jahre vor seinem Tod fügt er seiner Sammlung zwei Essays hinzu: Introductory Remarks on Popular Poetry und einen Essay on Imitations of the Ancient Ballad.

Für ein Gedicht- oder Liederbuch wäre ein solcher Aufwand nicht nötig. Wohl aber für ein Buch, dessen erklärtes Ziel es ist, die Identität einer lokalen Kultur aufzuheben – aufheben hier in jenem Hegelschen Sinn, der neben dem Beenden ein Bewahren und Steigern beinhaltet. Walter Scott hält das Sammeln und Editieren der in der Minstrelsy wiedergegebenen Volkslieder für notwendig, weil er meint, Zeuge eines historischen Prozesses zu sein, in dessen Verlauf die kulturelle Identität des schottischen Volkes aufgehoben zu werden droht – aufgehoben hier lediglich im Sinne einer Assimilation an eine englische Leitkultur.

 

Beenden.

Auf den gescheiterten Aufstand von 1745 hatte England mit einer Politik der Vertreibung und Unterdrückung reagiert. Während der so genannten Highland Clearances – der Begriff zeigt in seiner Verharmlosung durchaus Ähnlichkeiten mit dem bösen Wort von einer "ethnischen Säuberung" – wurde ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung gezwungen, das Land zu verlassen, Symbole schottischer Identität wie Tartan, Kilt oder Dudelsack wurden verboten.

Der von englischer Seite erhoffte Effekt dieser drastischen Maßnahmen trat in der Tat ein. Es hat seit 1745 keine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Schottland und England mehr gegeben, und das Vereinte Königreich hat auch in Walter Scott einen loyalen Bürger – einen jedoch, der in seinem Denken, Schreiben und Handeln von der Furcht getrieben wird, die kulturelle Identität seines Volkes könnte der Preis für die politische Einheit mit England sein. Schon in der Einführung zur Minstrelsy bringt Scott diese Sorge unmißverständlich zum Ausdruck. Und er erklärt auch, inwiefern sein Buchprojekt einen Beitrag dazu leisten will, das buchstäblich sang- und klanglose Untergehen einer eigenen kulturellen Identität zu verhindern – nämlich durch ein Aufheben im Sinne eines Bewahrens.

 

Bewahren.

»In the Notes and occasional Dissertations«, so Scott in der Einführung zur Minstrelsy, »it has been my object to throw together [...] a variety of remarks, regarding popular superstitions, and legendary history, which, if not now collected, must soon be totally forgotten. By such efforts, feeble as they are, I may contribute somewhat to the history of my native country; the peculiar features of whose manners and character are daily melting and dissolving into those of her sister and ally. And trivial as may appear such an offering to the mane of a kingdom, once proud and independent, I hang it upon her altar with a mixture of feelings which I shall not attempt to describe«[7]

Ähnlich hatte er sich bereits ein Jahr zuvor in einem Schreiben an Thomas Percy geäußert: »An early partiality to the tales of my country, and an intimate acquaintance with its wildest recesses, acquired partly in the course of country sports, and partly in pursuit of antiquarian knowledge, will, I hope, enable me at least to preserve some of the most valuable traditions of the south of Scotland, both historical and romantic.«[8]

Scotts Motiv für das Sammeln von Volksliedern und die Realisierung seines Minstrelsy-Projektes ist also der Wunsch, die kulturelle Identität des schottischen Volkes zu bewahren. Der Autor selbst hat darüber verschiedentlich Auskunft gegeben, zwei der markantesten Aussagen habe ich zitiert.

In der Hoffnung, mit der Verschriftlichung mündlicher Überlieferungen so etwas wie den genetischen Code kultureller Identität bewahren zu können, befindet sich Scott in programmatischer Nähe zu Johann Gottfried Herder, mit dessen zweibändiger Ausgabe der Volkslieder von 1778/79 er bestens vertraut ist.[9]

Der Wunsch, etwas von der kulturellen Identität des schottischen Volkes in eine neue Zeit hinüberzuretten, erklärt also, wodurch Scott angetrieben wird. Er erklärt noch nicht, warum die Minstrelsy geworden ist, wie sie ist. Warum nicht, wie es viele andere vor und nach ihm getan haben – allen voran Thomas Percy – ein Liederbuch, in einem handlichen Format, das hohe Auflagen verspricht, sondern ein dreibändiges Werk, das die abgedruckten Lieder mit enormem philologischen Aufwand kommentiert, erläutert und historisch verortet?

Bei der Beantwortung dieser Frage überschneidet sich der Diskurs über das Aufheben im Sinne eines Bewahrens kultureller Identität mit einem Diskurs über das Aufheben im Sinne eines Steigerns oral tradierter Literatur durch ihre Verschriftlichung. Der philologische Aufwand, den Scott betreibt, kennzeichnet den Wechsel von einer traditionellen zu einer modernen literarischen Strategie. Zugleich dokumentiert es das Misstrauen, mit dem Scott dieser modernen Strategie begegnet.

 

Steigern.

Auf das Mißtrauen, mit dem Walter Scott der modernen literarischen Strategie eines schriftlichen Fixierens begegnet, möchte ich im folgenden etwas näher eingehen und mit einem Exkurs in die moderne Medienwelt beginnen: Heute vor – auf den Tag genau – sechs Jahren ging ich nachmittags durch die Union Street in Aberdeen in Schottland. Vor einem Schaufenster hatte sich eine Menschentraube gebildet, und mir fiel auf, daß die Leute nicht, wie sonst üblich bei Sonderangeboten, Jongleuren oder südamerikanischen Folkloregruppen, wortlos nebeneinander standen, sondern lebhaft miteinander diskutierten. Das machte mich neugierig, und ich wechselte die Straßenseite. In dem Schaufenster wurden Fernsehgeräte angeboten. Doch es waren nicht die Geräte, die die Menschen fesselten und ins Gespräch brachten. Es waren die Bilder, die darin zu sehen waren, Bilder von Flugzeugen, die in Hochhäuser stürzten.

Wohl jeder kennt diese Bilder vom 11. September 2001, die weltweit multimedial verbreitet wurden, und die meisten Menschen werden sich, wie ich, daran erinnern können, auf welche Weise sie zuerst von den Ereignissen dieses Tages erfahren haben. Warum erinnern wir uns daran?

Es liegt nicht nur an dem Schrecken der Tat, es liegt ganz wesentlich auch an dem Schrecken der Bilder. Die Sprache einer sich als westlich verstehenden Moderne ist – man mag das als Literaturwissenschaftler bedauern – eine von Bildern dominierte Sprache. Wenn eine Information durch bewegte Bilder übermittelt wird, entsteht in uns der Eindruck unmittelbarer Gegenwärtigkeit. Die Subjektivität der Wahrnehmung ist – gegenüber derjenigen mündlich oder schriftlich überlieferter Informationen – erheblich eingeschränkt, denn Bilder lassen wenig Spielraum. Sie treffen unser Bewußtsein mit großer Wucht und hinterlassen tiefe Eindrücke.

Offensichtlich hat also die Art und Weise, wie wir von einer Sache erfahren, ganz wesentlichen Einfluß darauf, ob wir uns ihrer später erinnern. Nicht allein der Inhalt einer Information, sondern auch die Form ihrer Überlieferung entscheiden darüber, welchen Eindruck die Information in unserem Bewußtsein hinterläßt.

Dieser Umstand kommt in der Literatur auf besondere Weise zur Geltung. Denn in der Literatur wird Sprache in Form gebracht, und dieser Vorgang zielt zunächst einmal darauf, Eindruck zu machen, also einen Inhalt so zu überliefern, daß er eine Wirkung auf das Bewußtsein des Rezipienten ausübt.

Von grundlegender Bedeutung ist diese Funktion der Sprachformung für oral tradierte Inhalte, denn hier hängt ja die Existenz des tradierten Inhalts davon ab, ob er erinnert wird oder nicht. Eine frühe, und bis heute erfolgreich angewandte literarische Strategie, dem Problem eines in vielerlei Hinsicht beschränkten menschlichen Erinnerungsvermögens zu begegnen, besteht darin, Sprache mit einem oder mehreren zusätzlichen formgebenden Elementen zu kombinieren – etwa Rhythmus oder Reim -, um auf diese Weise den Prozeß des Sich-Erinnerns zu unterstützen und eine möglichst wortgetreue Wiederholbarkeit des überlieferten Inhalts zu ermöglichen. Das Volkslied verdankt dieser literarischen Strategie seine Existenz.

Es liegt mir fern, die Funktion sprachlicher Formgebung auf die einer Gedächtnisstütze zu reduzieren. Eine solche Sichtweise ließe die ästhetische Dimension auf fahrlässige Weise außer acht. Wie wir aber von Christian Morgenstern wissen, sitzt das Wiesel manchmal allein des Reimes wegen auf dem Kiesel, und auch Walter Scott macht mehrfach darauf aufmerksam, daß es nicht ästhetische Vorzüge seien, die die Volkslieder der Borders für den Leser interessant machten, als vielmehr »the interest in the stories themselves, and the curious picture of manners which they frequently present«.[10]

Eine andere literarische Strategie, die Verfügbarkeit einer Überlieferung langfristig zu sichern, besteht in ihrer Verschriftlichung. Es handelt sich dabei gewissermaßen um einen Outsourcing-Prozeß: Sprache wird außerhalb des Gedächtnisses fixiert und erhält jeweils durch den Vorgang der Rezeption Zugang zum Bewußtsein. Die wortgetreue Wiederholbarkeit eines Textes unterliegt dabei nicht den Bedingungen eines beschränkten Erinnerungsvermögens, und insofern tritt die Funktion der Form als Überlieferungsstütze in den Hintergrund. Die Überlieferung erhält eine personenunabhängige, eigene Existenz.

Die Ablösung des Überlieferten vom Überlieferer bildet also ein Charakteristikum, das die literarische Strategie der Verschriftlichung von anderen, diese Verbindung voraussetzenden literarischen Strategien unterscheidet. Der Begründer einer philosophischen Hermeneutik, Hans-Georg Gadamer, macht in seinem Buch "Wahrheit und Methode"[11] darauf aufmerksam, daß sich in der literarischen Strategie der Verschriftlichung das Problem des Verstehens von Texten in seiner reinsten Form präsentiert. »In Wahrheit ist die Schriftlichkeit für das hermeneutische Problem insofern zentral, als sich in der Schrift die Ablösung von dem Schreiber oder Verfasser ebenso wie von der bestimmten Adresse eines Empfängers oder Lesers zu einem eigenen Dasein gebracht hat. Was schriftlich fixiert ist, hat sich sozusagen vor aller Augen in eine Sphäre des Sinnes erhoben, an der ein jeder gleichen Anteil hat, der zu lesen versteht. […] Lesendes Verstehen ist nicht ein Wiederholen von etwas Vergangenem, sondern Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn.« Für Gadamer besteht der Vorzug der Schriftlichkeit in der Ablösung der Information »von allem Psychologischen«[12] sowie ihrer allgemeinen Verfügbarkeit.

Das bringt mich zurück zur Minstrelsy und zu der Vorstellung eines Aufhebens im Sinne eines Steigerns oral tradierter Literatur durch ihre Verschriftlichung.

Walter Scott lebt abwechselnd in zwei Welten, und er ist in beiden gleichermaßen zu Hause: Die eine Welt, Edinburgh, ein Zentrum europäischer Aufklärung, in dem Adam Smith und David Hume den Weg in die Moderne weisen, die andere Welt, die Borders, ein Transitland, in dem die Vergangenheit dutzender Invasionen und Gegeninvasionen eine entwicklungshemmende Wirkung entfaltet.

Mit seinem Minstrelsy-Projekt bringt Scott die Volkslieder aus den Borders nach Edinburgh, oder, mit anderen Worten, er überführt sie aus der Welt der Vergangenheit in die Welt einer modernen Gegenwart. Dazu ist es erforderlich, sie zu verschriftlichen, denn die Verschriftlichung ist die dominierende literarische Strategie einer europäischen Moderne.

Doch Scott begnügt sich nicht damit, Lieder vom phonischen ins graphische Medium zu übertragen,[13] also schriftliche Vorlagen für eine Fortsetzung mündlicher Überlieferung herzustellen, von der er nicht sicher sein kann, wie lange es sie noch geben wird. Mit dem philologischen Aufwand, den er betreibt, stellt er sich dem, was Hans-Georg Gadamer die »besondere Schwäche der Schrift« nennt, »ihre gegenüber der lebendigen Rede gesteigerte Hilfsbedürftigkeit«[14]

Scott ist sich offenbar der Tatsache bewußt, daß dem Überlieferten mit seiner Ablösung vom Überlieferer zwar eine personenunabhängige Existenz zuteil wird, daß ihm aber zugleich all das abhanden kommt, was im Vollzug mündlicher Überlieferung das Verstehen unterstützt – sei es Mimik, Gestik oder auch die Möglichkeit von Rede und Gegenrede, Frage und Antwort.

Diese immanente Schwäche schriftlicher Überlieferung versucht er zu kompensieren, indem er hinführt, kommentiert, erläutert und dem Leser auf diese Weise ermöglicht, einen historischen Horizont zu bilden und mit der je eigenen Gegenwart in ein Verhältnis zu setzen. Um ein Aufheben im Sinne eines Steigerns handelt es sich bei diesem Vorgang vor allem insofern, als das Verstehen sich in jeder Gegenwart unmittelbar auf die schriftliche Überlieferung zu richten vermag und nicht auf ein Weitersagen angewiesen ist.

Doch es handelt sich dabei um ein Steigern in jenem modernen Sinn, der durch Ambivalenz gekennzeichnet ist. Die durch Verschriftlichung gesteigerte Literatur ist beziehungsoffen und damit zugleich beziehungslos. Noch einmal Gadamer: »Was schriftlich fixiert ist, hat sich von der Kontingenz seines Ursprungs und seines Urhebers abgelöst und für neuen Bezug positiv freigegeben. Normbegriffe wie die Meinung des Verfassers oder das Verständnis des ursprünglichen Lesers repräsentieren in Wahrheit nur eine leere Stelle, die sich von Gelegenheit zu Gelegenheit des Verstehens ausfüllt.«[15]

Die aufwendige Kommentierung der Minstrelsy zeigt, daß Walter Scott sich dieser Ambivalenz bewußt ist und der modernen literarischen Strategie der Verschriftlichung nicht traut. Er will es nicht dem Zufall überlassen, auf welche Weise der Leser die leeren Stellen ausfüllt und in welchen historischen Kontext er sich begibt, wenn er mit den Liedern der Borders kommuniziert. Scott ist bemüht, diesen Kontext möglichst genau zu bestimmen, weil er möchte, daß es sein Kontext ist, in den sich der Leser begibt.

»Put quite simple, the ballads are the product of an oral, folk tradition and are mostly in Scots; the commentary is the product of a written, literary, and scholarly tradition and is in conventional English. […] In the Minstrelsy the two elements are thus held in balance: the significance of the Scots material is enhanced, its value celebrated by the prose commentary, while the historical and scholarly impulses behind that commentary are directly connected to the living oral culture. Two kinds of access to the past exist here side by side – that of the folk tradition and that of written history.«[16]

Es ist also das Nebeneinander, ja Miteinander zweier literarischer Strategien, was das Besondere im Werk des schottischen Autors ausmacht. Und man kann wirklich sagen Werk, denn diese Besonderheit findet sich nicht allein in der Minstrelsy. Walter Scott hat zwei Dutzend historische Romane geschrieben. In den meisten dieser Romane findet sich ein Rahmen inszenierter Mündlichkeit: ein Landgasthof, in dem ein Fremder eine Geschichte erzählt, ein Geistlicher, der ein Manuskript besitzt, aus dem er auswendig zitieren kann. Einige Erzähltexte hat Scott zu einem Band zusammengefasst, der den Titel trägt Tales of my Landlord – auch hier also eine Inszenierung oraler Überlieferung. Und selbst eine Geschichte Schottlands, die Scott verfasst hat, trägt den Titel Tales of a Grandfather und richtet sich in der Tat an den Enkel des Schriftstellers – Anlaß genug also, das Phänomen eines Miteinanders mündlicher Überlieferung und schriftlicher Fixierung im Werk des schottischen Autors gelegentlich einmal einer genaueren literaturwissenschaftlichen Betrachtung zu unterziehen.

Daß Scott, wie jeder gute Geschichtenerzähler, bei der Montage seiner Texte ganz eigene Schwerpunkte setzt und ein individuell gefärbtes Bild der Vergangenheit entwirft, hat ihm den Ruf eines »brilliant pioneer in the invention of tradition«[17] eingetragen. Doch das ist eine andere Geschichte.