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Die neue Melusine
Ein Märchen vom Scheitern einer interkulturellen Beziehung

 

»Märchen: das uns unmögliche

Begebenheiten unter möglichen

oder unmöglichen Bedingungen

als möglich darstellt.«

 

Goethe, Maximen und Reflexionen

Im ersten Teil seiner Jugendautobiographie Dichtung und Wahrheit berichtet Goethe von frühen Leseerfahrungen. Neben der Bibel und einigen historischen Kompendien habe er als Kind Ovids Metamorphosen, den Robinson Crusoe, die Insel Felsenburg gelesen. Aber auch eine Reihe von Texten, »die zwar in ihrer gegenwärtigen Gestalt nicht vortrefflich genannt werden können, deren Inhalt jedoch uns manches Verdienst voriger Zeiten in einer unschuldigen Weise näher bringt.« Goethe meint damit Volksbücher, »auf das schrecklichste Löschpapier fast unleserlich gedruckt« und »für ein paar Kreuzer zu bekommen.«[1]

Eines davon trägt den Titel Die schöne Melusine, ein Märchen, das auf eine altfranzösische Sage zurückgeht.[2] Die Meerjungfrau Melusine willigt in eine Heirat mit dem Grafen Raimund ein, knüpft allerdings, um zu verhindern, daß er hinter das Geheimnis ihrer Identität kommt, einige Bedingungen an ihre Einwilligung. Graf Raimund verspricht, sich an alles zu halten. Doch nach einigen Jahren Ehe bricht er sein Versprechen und beobachtet Melusine in ihrer Nixengestalt. Sie verzeiht ihm und warnt ihn vor weiteren Regelverletzungen. Als der Graf einige Zeit später erneut sein Versprechen bricht und Melusine in Gegenwart von Bediensteten als bösen Geist beschimpft, kehrt sie in das Reich der Nixen zurück.

Dieses Volksbuch aus der Kindheit liefert die Vorlage für Goethes eigene Melusinendichtung, die er – wiederum laut Dichtung und Wahrheit – mündlich bereits 1770 bei den Brions in Sesenheim vorgetragen habe.[3] Mit der Verschriftlichung läßt Goethe sich Zeit. 1797 erwähnt er in einem Brief an Schiller, das Märchen lache ihn »manchmal auch wieder an, es will aber noch nicht recht reif werden.«[4] Reif ist es dann zehn Jahre später, und veröffentlicht wird es nach weiteren zehn Jahren – in zwei Teilen, 1817 und 1819 – im Taschenbuch für Damen. Für die erste Fassung der Wanderjahre ändert Goethe den Rahmen, läßt er das Märchen von einem Barbier aus Lenardos Wandergemeinschaft erzählen. In dieser Gestalt wird es in die zweite Fassung übernommen.

Zwischen der Lektüre des Volksbuches und dem Erscheinen jener zweiten Fassung der Wanderjahre liegen mehr als 70 Jahre, das Melusinenmärchen begleitet Goethe durch sein ganzes Leben. Die­ser Umstand hat dazu geführt, daß es zumeist in einem autobiographischen Kontext gelesen wird, und in der Tat lassen sich aufschlußreiche Zusammenhänge auf diese Weise herstellen.[5]

Im Kontext der Wanderjahre jedoch, vorgetragen von einem Mitglied des Auswandererbundes unmittelbar vor dem Aufbruch in eine neue Welt, läßt sich die Bedeutung der Melusinendichtung nicht auf autobiographische Bezüge zu ihrem Autor beschränken. Es steckt mehr dahinter. Goethe macht aus dem Märchen von der schönen Melusine die Geschichte zweier Wesen aus unterschiedlichen Welten, deren Beziehung daran scheitert, daß sie sich nicht aufeinander zu bewegen, daß sie nicht willens oder in der Lage sind, die Grenzen ihrer Identität kommunikativ zu überschreiten und miteinander zu leben.

Dem Autor liegt offenbar daran, sein Melusinenmärchen als eine Bearbeitung kenntlich zu machen, er nennt es Die neue Melusine. Und wie so oft bei Goethe steckt in den Abweichungen von der Vorlage das Besondere, auf das es sich beim Lesen zu achten lohnt.

Im Mittelpunkt von Goethes Bearbeitung steht ein Ich-Erzähler, der alles andere als ein Graf ist. Vielmehr handelt es sich um einen bürgerlichen Lebenskünstler, einen »Taugenichts«[6], der ein geradezu modernes Leben führt: ohne Lebensmittelpunkt, mobil und flexibel, egozentrisch und bindungsscheu, im Umgang mit anderen Menschen berechnend, ansonsten kein guter Rechner, daran gewöhnt, die eigene Identität immer wieder neu zu entwerfen. Ein Individualist par excellence.

Ihm gegenüber, eine junge Frau aus einer anderen Welt. Eine »Prinzessin aus dem königlichen Hause« (368) eines traditionsbewußten, feudal regierten Volkes. Sie ist reich, vornehm, ernsthaft und maßvoll, zurückhaltend und gütig. Ein Märchen.

Die beiden interessieren sich füreinander. Er wird von ihrer Schönheit und, mehr noch, von ihrem Reichtum angezogen. Sie sucht einen Mann, der nicht viel fragt, denn sie hat etwas zu verbergen – ihre Identität.

Man kann das Melusinenmärchen der Wanderjahre als einen Geschlechterdiskurs lesen, als eine Allegorie über die Ehe. Man kann es als einen Diskurs über soziale Milieus lesen, als Geschichte einer Mesalliance zwischen einem Bürgerlichen und einer Prinzessin.[7]

Man kann es aber auch als einen Diskurs über kulturelle Identität lesen, denn Goethe läßt in seiner Melusinendichtung nicht nur Mann und Frau, Bürgertum und Hochadel aufeinandertreffen. Er beschreibt darüber hinaus eine Begegnung zweier Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft.[8]

Dieser Aspekt von Goethes Melusinenmärchen ist bisher nur unzureichend wahrgenommen worden, kann aber wesentlich zu dessen Verständnis beitragen. Erst eine Auslegung, die alle drei einander überschneidenden Diskurse integriert, kommt dem Besonderen auf die Spur, das Goethes Bearbeitung von früheren Versionen dieses Märchens unterscheidet.

Bei Goethe ist Melusine keine Meerjungfrau. Vielmehr gehört sie dem mythischen Zwergenvolk des Königs Eckwald an, das sich einem existentiellen Problem gegenüber sieht. Die durchschnittliche Körpergröße seiner Angehörigen nimmt von Generation zu Generation ab, und insbesondere die Königsfamilie ist aufgrund »ihres reinen Blutes« von dem Phänomen bedroht. Dieser genetische Defekt läßt sich innerhalb der ethnischen Gemeinschaft nicht beheben, das Zwergenvolk ist darauf angewiesen, ihn mit Hilfe einer Beimischung fremder Gene zu kompensieren. Aus diesem Grund hat man beschlossen, »daß von Zeit zu Zeit eine Prinzessin aus dem königlichen Hause heraus ins Land gesendet werde, um sich mit einem ehrsamen Ritter zu vermählen, damit das Zwergengeschlecht wieder aufgefrischt und vom gänzlichen Verfall gerettet sei«. (368) Man plant eine ›interkulturelle‹ Zeugung.

Mit militärischen Ehren und priesterlichem Zeremoniell verabschiedet, mischt sich die auf eine entsprechende Größe gezauberte Prinzessin Melusine unter das Volk der Menschen, auf der Suche nach einem zeugungsbereiten Mann, dessen Aufgabe es ist, »den Stamm des herrlichen Eckwald zu erneuern und zu verewigen«. (370)

Um die Existenz der eigenen Kultur zu sichern, täuscht Melusine die Zugehörigkeit zu einer fremden Kultur vor. Ihr gelingt eine nahezu perfekte Täuschung, und sie macht sich auf die Suche. Die Kandidaten werden genau geprüft, und bislang haben sie sich allesamt als ungeeignet erwiesen. Jetzt bekommt der Ich-Erzähler seine Chance. Gerade mal wieder in Zahlungsnöten, geht er gleich in die Offensive und macht sich an die Schöne heran. Melusine weist ihn nicht ab, gibt ihm aber zu verstehen, er möge doch seine Bemühungen in einer weniger aufdringlichen Art fortsetzen, wenn er »ein Glück nicht verscherzen« wolle, das ihm »sehr nahe liegt, das aber erst nach einigen Prüfungen ergriffen werden kann«. (356) Auf diese Weise beginnt eine Beziehung zwischen zwei Wesen unterschiedlicher kultureller Herkunft. Um eine interkulturelle Beziehung handelt es sich allerdings insofern noch nicht, als die Prinzessin ja ein Geheimnis aus ihrer Identität macht und ein Doppelleben führt.

Der Zauber, der Melusine eine menschliche Gestalt verleiht, entfaltet offenbar keine dauerhaft anhaltende Wirkung. Zwischendurch verschwindet sie immer mal wieder und kehrt zurück in den Palast der königlichen Zwergenfamilie, den sie in einem Kästchen bei sich führt. Damit die Sache nicht auffliegt, präsentiert sie ihrem Bewerber einen Aufgabenkatalog, von dessen Erfüllung sie eine gemeinsame Zukunft abhängig macht. Ziel dieser Aktion ist es, ihn zu einem tugendhaften Menschen zu machen, der sich während ihrer Abwesenheit mit Zuverlässigkeit und Sorgfalt um das Palastkästchen kümmert, den seine Tugendhaftigkeit aber davon abhält, dieses zu öffnen und ihrer Identität nachzuspüren.

Für den Ich-Erzähler ist die Erfüllung dieser Aufgaben mit einer radikalen Veränderung seiner Lebensgewohnheiten verbunden, denn Melusine verlangt nichts Geringeres, als daß aus einem Taugenichts ein ehrsamer Ritter werden solle. Sie fordert von ihm die Bereitschaft, sich einem höfisch-feudalen Milieu zu assimilieren.

Der Plan scheint zunächst aufzugehen, auch wenn der Bewerber sich bei der Einhaltung der Vereinbarungen wenig diszipliniert erweist. Doch die Prinzessin verzeiht ihm seine Übertretungen ein ums andere Mal, und beide bekommen letztendlich, was sie wollen. »Sie drückte mir zuletzt einen Beutel mit Gold in die Hand, und ich meine Lippen auf ihre Hände.« (356) Es bleibt nicht beim Kuß, und schon bald ist der Fortbestand des Zwergenvolkes gesichert.

Doch es gibt Probleme. Der Ich-Erzähler, als erklärter Individualist »nicht gewohnt, ohne Gesellschaft zu leben« (357), sieht sich von der trauten Zweisamkeit mit der Prinzessin und den daran geknüpften Bedingungen in zunehmendem Maß in seiner individuellen Autonomie eingeschränkt. Für Melusine ist die Verwandlung von der Zwergen- in die Menschengestalt nur eine Mimikry, ihre kulturelle Identität als Prinzessin eines Zwergenvolkes legt sie nicht ab. Von ihrem Verehrer aber verlangt sie eine Änderung seines Wesens, eine Assimilation an ein ihm fremdes Milieu. Er soll nicht anders aussehen, er soll jemand anders sein. Und ihm wird auch noch vorgeschrieben, wer.

Dem entzieht er sich. Schwer zu sagen, ob er nur sie oder ob er auch sich selbst belügt, jedenfalls täuscht auch der Ich-Erzähler von nun an eine Identität vor, die er nicht besitzt. In Wirklichkeit geht es ihm allein darum, sein genußorientiertes Leben in geselliger Runde fortzusetzen – und das, dank ihres scheinbar unerschöpflichen Reichtums, ausschweifender als zuvor. Doch die gegenseitige Täuschung fliegt auf. Melusine bleibt das »Freudenleben« (359), für das er ihre vorübergehende Abwesenheit jeweils nutzt, nicht verborgen, und ihr Verehrer kommt durch eine Kombination von Zufall und Neugier hinter das Geheimnis ihrer Identität, erfährt, daß sie dem »Geschlecht der Nixen und Gnomen« (362) angehört.

Das Aufdecken der Täuschung und die damit einhergehende Desillusionierung führen jedoch nicht zum Abbruch der Beziehung. Melusine ist zwar hinsichtlich einer gemeinsamen Zukunft skeptisch und fordert ihren Liebhaber auf, sich zu prüfen, »ob diese Entdeckung deiner Liebe nicht geschadet habe, ob du vergessen kannst, daß ich in zweierlei Gestalten mich neben dir befinde, ob die Verringerung meines Wesens nicht auch deine Neigung vermindern werde« (363), ihm gelingt es jedoch, sie zu beschwichtigen, und die beiden beschließen, es weiterhin miteinander zu versuchen. Melusine nimmt ihm allerdings das Versprechen ab, der »Entdeckung niemals vorwurfsweise zu gedenken«, denn der Zauber, der es der Zwergenprinzessin ermöglicht, sich unter das Menschenvolk zu mischen, verliert zwar dadurch, daß sie als Fremde identifiziert wurde, nicht seine Wirkung, sollte sie aber wegen dieser Fremdheit diffamiert werden, wäre sie gezwungen, zu ihrem Volk zurückzukehren. Der Ich-Erzähler, der nichts mehr fürchtet, als daß ihm seine Geldquelle abhanden kommt, kann Melusine auch diesbezüglich beruhigen. »Ich versprach, was sie begehrte, ich hätte zu und immer zu versprochen [...] und alles war im vorigen Gleise.« (363f.) Eine interkulturelle Beziehung wird trotzdem nicht daraus. Man arrangiert sich nebeneinander. Die Prinzessin verschweigt ihm weiterhin, warum sie eine Zugehörigkeit zum Volk der Menschen vortäuscht, und ihn interessiert das auch nicht. Er wittert vielmehr eine Chance, die Beziehung nach seinen – patriarchalen – Vorstellungen umzugestalten.

 Abb. 1

 

»Ist es denn ein so großes Unglück, eine Frau zu besitzen, die von Zeit zu Zeit eine Zwergin wird, so daß man sie im Kästchen herumtragen kann? Wäre es nicht viel schlimmer, wenn sie zur Riesin würde und ihren Mann in den Kasten steckte?« Dem Ich-Erzähler geht es allein um die Aufrechterhaltung seiner individuellen Autonomie, zu einem wirklichen Miteinander ist er nicht fähig, weil er sich für ihr Anderssein nicht im geringsten interessiert. Ihn reizen Schönheit und Geld, an einer interkulturellen Erfahrung ist ihm nicht gelegen.

 

Im Zweiten Teil des Faust liefert Goethe ein Beispiel dafür, wie das Aufeinanderzugehen von Menschen unterschiedlicher Herkunft sich gestalten kann. Im Faust spielt es sich auf der Ebene der Sprache ab, als ein interkulturelles Lernen.

 

Im Dritten Akt begegnen sich im Inneren Burghof Faust und Helena, deutsches Mittelalter und griechische Antike. Fremde Kulturen, fremde Sprechweisen, fremde Versformen und Metren. Goethe hat die Szene als ein behutsames, aber stetiges Sich-Aufeinander­zubewegen gestaltet. Es beginnt mit feinen Annäherungen im Metrum[9] und findet seinen Höhepunkt in einem Miteinander-Reimen, als Helena sich nach dem ihr fremden Phänomen des Endreimes erkundigt, den der Turmwächter Lynkeus verwendet, um die Wirkung ihrer Schönheit zu beschreiben.

HelenA

Vielfache Wunder seh’ ich, hör’ ich an,

Erstaunen trifft mich, fragen möchte’ ich viel.

Doch wünscht’ ich Unterricht, warum die Rede

Des Mann’s mir seltsam klang, seltsam und freundlich.

Ein Ton scheint sich dem andern zu bequemen,

Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt,

Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.

Faust meint, learning by doing sei der beste Weg, die »Sprechart unserer Völker« kennenzulernen.

Faust    

Doch ist am sichersten wir übens gleich,

Die Wechselrede lockt es, ruft’s hervor.

 

Und dann beginnen Faust und Helena, dialogisch miteinander zu reimen, interkulturell zu kommunizieren.

Helena   

So sage denn, wie sprech’ ich auch so schön?

Faust   

Das ist gar leicht, es muß vom Herzen gehn.

Und wenn die Brust von Sehnsucht überließt,

Man sieht sich um und fragt

Helena                                           

Wer mitgenießt.

Faust    

Nun schaut der Geist nicht vorwärts nicht zurück,

Die Gegenwart allein –

Helena

                                       Ist unser Glück

Faust

Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand;

Bestätigung wer gibt sie?

Helena

                                       Meine Hand.

In der Neuen Melusine kann es zu einer solchen Annäherung nicht kommen, weil die Distanz zwischen der Prinzessin und dem Ich-Erzähler nicht allein durch die unterschiedliche kulturelle Identität bestimmt ist, sondern darüber hinaus durch eine soziale Ungleichheit. Faust und Helena gehören in ihren Kulturen jeweils einer privilegierten Oberschicht an. Sie sind daher über die kulturellen Grenzen hinweg sozial ›kompatibel‹ und finden auf der sprachlichen Ebene zueinander. Melusine und ihrem Liebhaber bietet sich zwar ebenfalls die Chance einer interkulturellen Kommunikation auf sprachlicher Ebene – der Sprache der Musik – aber für diese beiden wird die Sprache zu einem Medium, das, anstatt sie zusammenzuführen, sie nur weiter voneinander entfernt. Der Ich-Erzähler ist nicht in der Lage, sich höfisch-feudale Verhaltensformen zuzueig­nen, und Melusine kann das soziale Bewußtsein einer Prinzessin nicht ablegen.

»Ein gutes, einschmeichelndes Betragen, mit einer gewissen Hoheit verknüpft, machte sie jedermann lieb und ehrenwert. Überdies spielte sie herrlich die Laute und sang dazu, und alle geselligen Nächte mußten durch ihr Talent gekrönt werden.« (364) Für den Ich-Erzähler hingegen ist die Sprache der Musik eine Fremdsprache. Anstatt einander auf dieser Ebene näherzukommen, markiert die Musik für die beiden die Linie des Nichtverstehens und Nicht­verstehenwollens. »Ich will nur gestehen, daß ich mir aus der Musik niemals viel habe machen können, ja sie hatte vielmehr auf mich eine unangenehme Wirkung. Meine Schöne, die mir das bald abgemerkt hatte, suchte mich daher niemals, wenn wir allein waren, auf diese Weise zu unterhalten; dagegen schien sie sich in Gesellschaft zu entschädigen, wo sie denn gewöhnlich eine Menge Bewunderer fand.« (364)

Er versteht die Sprache der Musik nicht und will sie nicht hören, Melusine weiß, daß er diese Sprache nicht versteht und benutzt sie nicht in seiner Gegenwart. Keiner von beiden bewegt sich auch nur einen Schritt. In diesem Mißlingen von Kommunikation, diesem Miß-Verständnis zeigt sich, daß sie einander fremd bleiben und die Annäherung an die Welt des jeweils anderen lediglich inszeniert ist. Melusine spielt ihm einen Menschen vor, obwohl sie ein Zwerg ist, und der Ich-Erzähler spielt ihr einen Edelmann vor, obwohl ihm dessen Tugenden allesamt fehlen. Genaugenommen ist ihre Beziehung nichts anderes als eine Auseinandersetzung um die Frage, wer von beiden sich zu assimilieren habe.

Bei einem Fest, an dem das ungleiche Paar teilnimmt, kommt es zum Eklat. Sie nähern sich dem endgültigen Scheitern ihrer Beziehung. Melusine kommuniziert in der Sprache der Musik, zu der er keinen Zugang hat. Er ist eifersüchtig und wütend und versucht, seinen Ärger in Alkohol zu ertränken. Als sie ihn bittet, nicht so viel Wein zu trinken, verliert er für einen Moment die Kontrolle und beleidigt sie. »Wasser ist für die Nixen! [...] Was will der Zwerg?« (365) Diese Beleidigung ist fremdenfeindlich, ja rassistisch. Der Ich-Er­zähler macht Melusines Anderssein öffentlich und diffamiert sie als Fremde, weil sie für ihn fremd ist, weil er die Sprache der Musik nicht versteht. Er fühlt sich ausgeschlossen und will sie ausschließen.

Die Prinzessin reagiert äußerlich souverän auf die Kränkung, sie wendet sich von ihm ab und wieder der Musik zu. Und plötzlich, als er sich bewußt wird, was er getan hat, eröffnet sich ihm ein Zugang zu ihrer Welt. »Zum erstenmal sprach die Musik mich an.« (365)

Doch es ist zu spät. Am nächsten Morgen weiht sie ihn in alle Zusammenhänge ein, erklärt ihm, warum sie sich unter das Menschenvolk gemischt hat, und setzt ihn davon in Kenntnis, daß sein Verhalten – »Beleidigung von Versprechen und Schwur« – ein weiteres Zusammenleben unmöglich mache und sie zu ihrem Volk zurückkehren werde.

Während das Volksbuch von der schönen Melusine mit der Rückkehr in die Welt der Fabelwesen endet, spielt Goethe noch eine Variation durch. »›Ist denn gar keine Möglichkeit‹, rief ich aus, ›daß ich bei dir bleibe, daß du mich bei dir behalten könntest?‹ [...] Meine Zudringlichkeit, die immer lebhafter ward, nötigte sie endlich, mit der Sprache herauszurücken und mir zu entdecken, daß, wenn ich mich entschlösse, mit ihr so klein zu werden, als ich sie schon gesehen, so könnte ich auch jetzt bei ihr bleiben, in ihre Wohnung, in ihr Reich, zu ihrer Familie mit übertreten.« (371)

Ohne lange zu überlegen, willigt der Ich-Erzähler ein, und im Nu befindet er sich an der Seite seiner Schönen mit einem Zauberring am Finger im Palast des Zwergenvolkes. Melusines Vater, König Eckwald, kommt gleich zur Sache und bestimmt den Tag der Hochzeit. Erst jetzt, unversehens zum Bräutigam befördert, realisiert der Ich-Erzähler, was eine Mitgliedschaft in der Zwergen-Ethnie für ihn bedeutet. Mit einzelnen Zugeständnissen ist es jetzt nicht mehr getan. Er steckt buchstäblich im Käfig einer fremden Kultur. Hier kann er nicht mehr vorspielen, jemand zu sein, der er nicht ist, und auf Nischen des Unbeobachtetseins hoffen. Für ein Changieren zwischen dem Leben eines Taugenichts und der Selbstinszenierung als Edelmann fehlen ihm hier die Möglichkeiten. Was von ihm verlangt wird, ist eine umfassende Assimilation, die Preisgabe seiner individuellen Identität. Sich dies alles vor Augen führend, bekommt er es mit der Angst und versucht, sich aus dem Staub zu machen. Er wird aber von einem dem Zwergenvolk alliierten Ameisenheer gestellt und zurückgebracht. Noch am selben Tag ist er ein verheirateter Zwerg.

Doch die Beziehung scheitert, weil sie scheitern muß. Der Ich-Er­zähler will und kann seine Identität nicht ablegen. »Ich empfand in mir einen Maßstab voriger Größe, welches mich unruhig und unglücklich machte. Nun begriff ich zum erstenmal, was die Philosophen unter ihren Idealen verstehen möchten, wodurch die Menschen so gequält sein sollen. Ich hatte ein Ideal von mir selbst und erschien mir manchmal im Traum wie ein Riese. Genug, die Frau, der Ring, die Zwergenfigur, so viele andere Bande machten mich ganz und gar unglücklich.« (375)

Der zweite Fluchtversuch gelingt. Er feilt den Ring auf, löst alle Bande und kehrt zu seinem Volk, zum Volk der Menschen zurück.

Goethes Bearbeitung des Melusinenmärchens unterscheidet sich im Ergebnis nicht von der Fassung des Volksbuches. Die Beziehung scheitert. Die einander fremden Kulturen sind wieder getrennt, wie sie es zu Beginn waren. Aber Goethe richtet den Fokus auf die – in seiner Fassung diffiziler ausgestalteten – Ursachen für das Scheitern.

In der neuen Melusine ist nicht eine einzelne, im Affekt ausgesprochene Beleidigung für das Scheitern verantwortlich. Vielmehr legt Goethes Melusinendichtung offenbar Wert darauf, daß es eine Haltung ist, die das Scheitern der Beziehung, das Nichtzustandekommen einer interkulturellen Kommunikation verursacht – eine Haltung, die sich ausdrückt in einem mangelnden Interesse an der kulturellen Identität des Anderen und in der fehlenden Bereitschaft, sich von der Basis der eigenen Identität zu entfernen und auf eine fremde hin zu bewegen, in der Furcht, sich durch die Begegnung mit dem Anderen zu verändern.

Aus dieser Haltung resultiert ein Gegeneinander, ein Zerren aneinander, niemals ein Miteinander. Und selbst wenn es – wie am Ende des Märchens – gelingt, den Anderen in einem schwachen Moment ganz in die eigene Welt hinüberzuziehen – er wird sich seiner Identität erinnern und sich, wenn er kann, aus der Umklammerung lösen. Eine interkulturelle Beziehung ist nur dann möglich, wenn der Status quo der eigenen Identität nicht mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, sondern die Begegnung mit dem Fremden als potentielle Bereicherung der Identität, also als eine willkommene Änderung, begriffen wird.

Davon sind Melusine und ihr Mann weit entfernt. Sie zerren aneinander herum und schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter für das Scheitern ihrer Beziehung zu, für das Nichtverstehen. Fundamentalisten sind immer die Anderen. Und daran ist wenig Märchenhaftes.


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[1]    Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster Teil. A.a.O., S. 35f.

[2]    Geschichte von der edlen und schönen Melusine welche ein Meerwunder und König Helmas’ Tochter war. Ein deutsches Volksbuch. Nachdruck der 1838 von G. O. Marbach in Leipzig herausgegebenen Ausgabe. Ravensburg 1985

[3]    Vgl.: Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Er­ster Teil. A.a.O., S. 446ff.

[4]    Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. A.a.O., S. 353

[5]    Für ein Beispiel einer solchen Auslegung, siehe: Mommsen, Katharina (Hg.): Jo­hann Wolfgang Goethe. Märchen. Frankfurt/M. 1984, Nachwort, S. 142ff.

[6]    Erich Trunz in seinem Kommentar zu den Wanderjahren, S. 651

[7]    Diese beiden Lesarten erörtert Henriette Herwig in ihrer Analyse der Wander­jahre. In: Dies.: Das ewig Männliche zieht uns hinab: »Wilhelm Meisters Wander­jahre«. Geschlechterdifferenz. Sozialer Wandel. Historische Anthropologie. Tübin­gen und Basel 1997, S. 258-289

[8]    Katharina Mommsen legt anhand einer Analyse intertextueller Bezüge überzeu­gend dar, daß Goethes Melusinendichtung auf vielfältige Weise von der Lektüre der arabischen Märchensammlung 1001 Nacht beeinflußt ist, daß sie ein Ergeb­nis literarischer Interkulturalität ist. Sie läßt es allerdings dabei bewenden und unternimmt nicht den Versuch, Goethes Märchen auch inhaltlich als Begegnung zweier Kulturen zu deuten. Vgl.: Mommsen, Katharina: Goethe und 1001 Nacht. Frankfurt/M. 1981, S. 139ff.

Abb. 1     Moritz Retzsch: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Drittes Buch. In: Kupferstiche zu Goethes Werken 1827–1834. Herausgegeben von den Nationalen For­schungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Wei­mar. München und Zürich 1987, S. 23

 

[9]    »Faust setzt in Blankversen ein (5hebig, ungereimt). Zum klassisch-griechischen jambischen Trimeter tritt damit der klassisch-deutsche Dramenvers. In diesem Zeremoniell der Begegnung des deutschen Ritters mit der griechischen Heroine vollzieht sich eine höchst taktvolle klassisch-romantische Annäherung auch der Metren. Mit seinen allermeist männlich ausgehenden Blankversen nämlich kommt Faust, wie sich ziemte, dem hohen Gast entgegen, ohne ihm doch zu nahe zu treten: er fügt sich in Helenas reimlose Rede, verkürzt ihre Sprechweise jedoch um einen Versfuß. – Mit formvollendeter Höflichkeit geht die Königin darauf ein: erwidernd schmälert sie [...] nun ihrerseits den bisher verwendeten jambischen Trimeter um eben diesen einen Takt.« Albrecht Schöne in seinem Faust-Kommen-tar. FA, I. Abt., Bd. 7/2. Faust. Kommentare. S. 608