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Arne Eppers

 

Maßstäbe

Rilkes Panther und die Natur des Menschen

 

Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

 

I.

Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist zwiegespalten. Sie versorgt ihn mit allem, was er braucht, und sie bedroht ihn mit dem Tod. Manchmal halten wir sie für schön, manchmal graust es uns vor ihr, manchmal beides im selben Moment. Der Mensch ist ein Teil der Natur, aber er tut gern so, als wäre das anders – und bemüht sich seit der Neolithischen Revolution darum, sie unter Kontrolle zu bringen.

Mit der europäischen Aufklärung haben wir uns angewöhnt, der Natur so zu begegnen, wie Immanuel Kant es in einer Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft fordert: „zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen lässt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“ Wir haben es weit gebracht mit dieser ruppigen Art, haben Relativitätstheorie und Quantenmechanik entwickelt, sind in der Lage, Krankheiten zu heilen und durch die Luft zu fliegen. Und ab und an gönnen wir uns einen Moment des Triumphs. Stehen auf einer Deichkrone, blicken aufs Meer und wissen, dass das Wasser nicht hinüberkommt. Oder gehen in einen Zoo und vergnügen uns am Anblick der eingesperrten Tiere, jedes einzelne ein Beleg menschlicher Herrschaft über die Natur.

Ein solches Tier ist Rilkes Panther. Eingesperrt und zur Schau gestellt, kontrolliert durch metallene Stäbe, die den Panther in ein Ding verwandeln. Stäbe geben Menschen Sicherheit: als Geländer schützen sie vor einem Absturz ins Unsichere, als Zäune kennzeichnen sie die Grenzen von Eigentumsflächen, in Gefängnissen bilden sie die Barriere zwischen Freiheit und deren Entzug. Stäbe schaffen Ordnung. So auch hier: Stäbe markieren den Lebensraum, der dem Panther zugewiesen ist, und schützen den Menschen vor der Gefahr, die von dem Raubtier ausgeht. Diese doppelte Funktion macht sie zu einem perfiden Präzisionsinstrument der Naturbeherrschung. Der Abstand der Stäbe ist so gewählt, dass der Kopf des Tieres nicht hindurch passt. Vermutlich wird er auch nicht viel geringer sein. Denn die zweite Funktion besteht gerade in Durchlässigkeit: Licht, Luft, Geräusche und Gerüche werden von Stäben nicht aufgehalten. Wie ein genau konstruierter Filter lassen sie alles durch – bis auf den Panther.

Diese Art der Naturbeherrschung ist erfolgreich, aber auch folgenreich. Aus der Kontrolle resultiert Zerstörung, und darum geht es in dem Gedicht. Die Doppelfunktion der Stäbe bestimmt das Sein des Panthers. Sie bilden die Grenze zwischen seiner Welt und der Welt der Menschen. Der Panther wird gezwungen, sein Leben an dieser Grenze zu verbringen, ständig konfrontiert mit den Reizen der anderen, für ihn unerreichbaren Welt jenseits der Stäbe. Und das hinterlässt Spuren.

Rilkes 1903 veröffentlichtes Gedicht blickt von außen auf den Panther, aber nicht voyeuristisch, sondern diagnostisch. Der Panther wird als leidendes Objekt menschlicher Herrschaft über die Natur gezeigt. Und um dieses Leiden anschaulich zu machen, bedient sich der Text anthropologischer Analogien und schreibt dem Tier ein Bewusstsein zu. Er weiß zu berichten, wie dem Panther ist. Dafür wendet sich das Gedicht zunächst dem Instrumentarium der Herrschaft zu, den Stäben. Es beschreibt, wie sich die Bewegungswahrnehmung des Panthers umgekehrt hat: für ihn sind es die Stäbe, die sich bewegen, und deren monotone Aktivität – durch die berühmte Vokalfolge der ersten Strophe auch klanglich nachvollziehbar – führt zu einer Dysfunktion des Sehens, jenem Blick, der nichts mehr hält. Der Panther hat die Fähigkeit eingebüßt, Objekte visuell zu fixieren, in seinem Bewusstsein existiert keine Welt mehr jenseits der Stäbe.

Die Stäbe verursachen eine Funktionsstörung der sinnlichen Wahrnehmung und führen zu einer Paralyse des Bewusstseins. Der potentiell große Wille der Kreatur ist außer Kraft gesetzt, betäubt.

Auch den eingeschränkten Bewegungsradius des Raubtiers – der weiche Gang geschmeidig starker Schritte deutet an, was möglich wäre – übersetzt das Gedicht in ein Bild aus der menschlichen Welt. Es deutet das monotone Hin und Her als eine kulturelle Darbietung: ein Tanz von Kraft. Die Beherrschung der Natur wird ästhetisiert und in ein Bild kultivierten Geordnetseins verwandelt. Auf den Betrachter wirkt dieses Bild des Tanzes, als sei es für ihn fokussiert und als eine Art animalischer Pooldance um eine Mitte arrangiert worden. Doch resultiert diese Zentrierung aus dem Zwang räumlicher Enge, die das triste Dasein des Panthers bestimmt.

Und selbst das, was zu Beginn der dritten Strophe wie ein Hoffnungsschimmer wirkt, das Öffnen eines Augenlides – auf die Aufnahme eines visuellen Reizes hindeutend –, ist in Wirklichkeit nichts als ein bedeutungsloses Blinzeln. Der eindringende Reiz verhallt im rezeptionslosen Raum. Er löst sich auf, hört auf zu sein, ohne eine bewusste Wahrnehmung erzeugt zu haben. Dieser deprimierende Schlussakkord des Gedichts – formal unterstützt durch die Verkürzung um eine Hebung im letzten Vers – präsentiert den Panther als ein mitleiderregendes Produkt menschlicher Machtausübung. In eine Art Wachkoma gesunken, ist er nur noch durch die äußere Hülle als Panther zu identifizieren.

Rilkes Gedicht lenkt den Blick auf die zerstörerische Wirkung der menschlichen Strategie, die Natur zu beherrschen. Aber wenn der Mensch Teil der Natur ist, richtet sich diese Strategie dann nicht auch gegen ihn. Welche Stäbe begrenzen unseren Käfig? Wie steht es um das Tier in uns?

 

II.

Aristoteles charakterisiert den Menschen als zoon politikon und schreibt ihm damit eine Eigenschaft zu, die ihn als besonders, aber nicht einzigartig  kennzeichnet: er teilt sie mit Bienen, Ameisen und Kranichen. Bei Aristoteles ist der Mensch ein politisches Tier, aber eben ein Tier. Nicht anders bei Charles Darwin: dessen evolutionsbiologische Theorie sieht bei der Entstehung des Menschen dasselbe Prinzip am Werk wie bei den anderen Tierarten. Der Mensch ist ein speziell entwickeltes Tier. Und die modernen Naturwissenschaften können belegen, dass der genetische Code eines Menschen zu 98,7 Prozent mit dem eines Schimpansen übereinstimmt. Auch diese Zahl liefert wenig Anlass, den Menschen für eine Spezies zu halten, die sich prinzipiell und nicht nur graduell vom Tier unterscheidet.

Im Menschen steckt viel Tier, er ist ein instinktgesteuertes Naturwesen. Doch worin besteht seine natürliche Bestimmung? Panther sind Raubtiere, die einem Reiz-Reaktions-Schema folgen und als Einzelgänger jagend durch die Wälder streifen. Aber welche Eigenschaften charakterisieren das Menschentier?

Menschen sind von Geburt an und während einer langen Kindheitsphase auf Versorgung und Zuwendung angewiesen. Und auch der ausgewachsene Mensch bleibt als soziales Wesen Teil eines gemeinschaftlichen Miteinanders. Er ist dafür von Natur aus prädisponiert. Ein wesentliches natürliches Merkmal des Menschen ist offenbar seine affektive Empathie. Sie verwirklicht sich zunächst in der Eltern-Kind-Beziehung, später in einer Haltung, mit der das Menschentier seinen Artgenossen begegnet und ihnen instinktiv Beistand leistet. Der Begriff Menschlichkeit bringt die Exklusivität dieser Anlage zum Ausdruck, spontane Hilfsbereitschaft zeigt sie praktisch am Werk.

Aber so einfach ist es nicht. Denn neben dem Natürlich-Humanen charakterisiert eine weitere Eigenschaft das Menschentier: es ist vernunftbegabt. Zum Menschsein gehören auch praxis und poesis, Ich und Über-Ich und 1,3 Prozent Genomunterschied. Der Mensch zeichnet sich durch ein Bündel von Fähigkeiten aus, über die andere Tiere nicht verfügen. Er ist das einzige Lebewesen, das mithilfe repräsentativer Sprache, Bewusstsein von Zeit, flexibler Intelligenz, Theory of Mind, akkumulierter Kultur und selbstreflexiver Moral mit seinen Artgenossen kooperiert, um Umweltbedingungen an die eigenen Bedürfnisse anzupassen (vgl. Thomas Suddendorf: Der Unterschied. Berlin 2014). Pointierter hat das Hegel mit seinem Paradoxon ausgedrückt, demzufolge der Mensch „gerade weil er weiß, dass er ein Tier ist, aufhört, Tier zu sein“. In jedem Fall besitzt der Mensch mehr Macht im Umgang mit der Natur – auch der eigenen – als jedes andere Lebewesen. Aus diesem Grund können sich naturgegebene Humanität und Vernunftbegabung in die Quere kommen – und tun dies leider auch.

Mithilfe der Fähigkeit, sich über Naturprozesse erheben, hat das animal rationale Zivilisationen geschaffen, in denen Individualität und Sozialität auf hochkomplexe Weise ineinander verwoben sind. Voraussetzung für diese Entwicklung war es, das eigene Tier-Sein so weit wie möglich unter Kontrolle zu bringen. Menschliches Miteinander, das individuelle Bedürfnisse und soziale Anforderungen auf eine Weise vermittelt, die dem Einzelnen Zufriedenheit auf allen Ebenen der Bedürfnispyramide ermöglicht und zugleich soziale Stabilität hervorzubringen vermag, ist angewiesen auf Maß-Stäbe, die das Handeln normieren und instinktgeleitetem Verhalten Grenzen setzen.

Maßstäbe sollen das Tier im Menschen im Zaum halten. Sie sind nicht gegenständlich wie die Stäbe des Pantherkäfigs, sondern durch Sozialisation vermittelte Vorstellungen. Der Käfig, in den das Menschentier eingesperrt ist, besteht aus (bild-)sprachlichen Codes, Anweisungen, sozialen Regeln, Tabus, und die Stäbe sind aus Sanktionen geformt, die die Gesellschaft vor den Gefahren spontanen irrationalen Verhaltens schützen sollen.

Doch am Ende ergeht es uns wie dem Panther: aus Kontrolle resultiert Zerstörung. Eingesperrt in diesen Käfig rationalen Handelns verkümmert auch die wesentliche naturgegebene Eigenschaft des Menschentieres, die affektive Empathie. Die Strategie, das Instinkthandeln des Einzelnen zugunsten seiner Soziabilität zurückzudrängen, ihn maßstabsgerecht zu machen, erfasst auch das Besondere, das den Menschen von anderen Tieren unterscheidet: seinen humanen Umgang mit Artgenossen. Mit katastrophalen Folgen. Der Blick in die Geschichte – und leider auch der auf die Gegenwart – zeigen, dass das animal rationale zu Grausamkeiten fähig ist, die der Mensch als Naturwesen nicht verüben könnte. Die Strategie, dem Menschen das Tier auszutreiben, schafft die Voraussetzungen dafür, dass er zum Tier werden kann. Wenn Maß-Stäbe kollektiver Rationalität instinktgeleitetes Handeln aus der Welt ausschließen, ist auch der vornehmsten aller Instinkte bedroht: die Menschlichkeit. Als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.