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"Berührungen aus der Ferne" – Goethe und Walter Scott

Es gehört zur Geschichte der Goethephilologie, zu dem, was Martin Walser »Verehrung nach Vorschrift«[1] nennt, daß bei dem Versuch, Goethes Leben und Werk mit dem Leben und Werk anderer "Großschriftsteller" zu verquicken, des öfteren übers Ziel hinausgeschossen wurde – und bisweilen wird. Grund für diesen übertriebenen Eifer ist die vor allem von der frühen Komparatistik vertretene Auffassung, man müsse, um das Bild eines Goethe und ... wissenschaftlich legitimieren zu können, eine möglichst große Nähe herstellen und müsse dafür möglichst viele Indizien für übereinstimmende Ansichten, literarische Einflußnahme, gegenseitige Hochachtung oder wenigstens tiefes Verständnis zusammentragen. Da es zudem allemal spektakulärer ist, über ein größtes gemeinsames Vielfaches zu philosophieren, als den kleinsten gemeinsamen Nenner zu beschreiben, werden störende Faktoren dabei gern ausgeblendet. Ambivalenz schadet nur. Daher stützt sich das Vorhaben, eine literarische oder persönliche Beziehung zwischen Goethe und ... so zu (re-)konstruieren, daß sie als besonders bedeutungsvoll erscheint, nicht selten auf eine selektive Wahrnehmung und Auslegung der vorhandenen Quellen.

Auch das Bild Goethe und Scott wird häufig auf diese Weise überzeichnet. Die Vorgehensweise ähnelt sich in den meisten Fällen: ein einzelnes Zitat, etwa ein Gesprächsbericht Eckermanns aus dem Jahre 1828, demzufolge Goethe den Waverley für Walter Scotts gelungensten Roman halte und in seine persönliche Weltbestenliste aufgenommen habe, wird aus dem Kontext der übrigen Stellungnahmen Goethes zu den Romanen des schottischen Autors herausgelöst und für repräsentativ erklärt. So läßt sich sehr leicht der – falsche – Eindruck erwecken, Goethe sei ein großer Kenner und Bewunderer des gesamten Romanwerks. [2]

Vom Autor des Waverley erscheinen zwischen 1814 und 1828, dem Jahr jenes Eckermanngespräches, vierundzwanzig Romane und Erzählungen, und nur von fünfen läßt sich mit Sicherheit sagen, Goethe habe sie gelesen. Das Urteil über den Waverley ist also alles andere als repräsentativ. Vielmehr markiert es den Höhepunkt eines zäh verlaufenden Annäherungsprozesses, der immer wieder durch Impulse angestoßen wird, die gar nicht von den Romanen ausgehen: durch die Lektüre literaturkritischer Essays, das aufmerksame Studium von Scotts Napoleonbiographie, den Austausch von Briefen und vor allem durch die Entwicklung eines weltliterarischen Bewußtseins, das es Goethe überhaupt erst ermöglicht, die literarische Darstellung lokaler kultureller Identität als eine besondere Qualität der Romane Scotts wahrzunehmen.

Das vorliegende Kapitel zeichnet diesen Annäherungsprozeß chronologisch nach, und es wird sehr schnell deutlich werden, daß sich das literarische Verhältnis von Goethe und Scott nicht in einem, allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Bild "einfrieren", daß es sich nicht auf einen Nenner bringen läßt. Es wird außerdem deutlich werden – und das mag etwas überraschen –, daß ein Hauptgrund für Goethes anfängliche Vorbehalte gegenüber Scott darin besteht, daß er einem Klischee aufsitzt. In Deutschland gilt der historische Roman seit seiner Entstehung – und im Grunde ja bis heute – als Unterhaltungsliteratur. Zwar genießt er große Popularität beim Publikum, allein die Weihe literarischen Anspruchs bleibt ihm versagt. Auch in Goethes Augen erweckt Popularität den Verdacht literarischen Mittelmaßes, und so ist es also gerade der Erfolg von Walter Scott, der zunächst verhindert, daß Goethe ein Interesse an dessen Romanen entwickelt. Und dieser Erfolg ist enorm.

In der ersten Hälfte des Jahres 1822 erscheinen in einer Beilage des Rheinisch-Westfälischen Anzeigers in Hamm Briefe aus Berlin. Ihr Verfasser berichtet darin über das gesellschaftliche Leben in der preußischen Hauptstadt, er plaudert über Literatur und Architektur, über die Theater- und Opernszene, über bekannte Straßen und Plätze, höfische Feste, Mode, über alles, was die Leser im fernen Westfalen interessieren könnte. An einer Stelle kommt der Korrespondent auf die Werke Walter Scotts zu sprechen, die seiner Ansicht nach in diesem Hauptstadtbericht nicht fehlen dürften, »weil ganz Berlin davon spricht, [...] weil man sie überall liest, bewundert, bekritelt, herunterreißt und wiederliest. Von der Gräfin bis zum Nähmädchen, vom Grafen bis zum Laufjungen, liest alles die Romane des großen Schotten; besonders unsere gefühlvollen Damen. Diese legen sich nieder mit Waverley, stehen auf mit Robin dem Rothen, und haben den ganzen Tag den Zwerg in den Fingern. Der Roman Kennilworth hat gar besonders furore gemacht.«[3]

Der Korrespondent weiß von einem Maskenball zu berichten, auf dem die Gäste in den Kostümen Scott'scher Romanfiguren erschienen seien, unter ihnen auch der Sohn des Schriftstellers, »als schottischer Hochländer gekleidet, und, ganz wie es jenes Costüm verlangt, nacktbeinig, ohne Hosen, bloß ein Schurz tragend, das bis auf die Mitte der Lenden reichte«. Der Sohn werde in Berlin »sehr gefeyert, und genießt hier den Ruhm seines Vaters«,[4] fügt der Korrespondent hinzu, der auch selbst zu den Lesern jener historischen Romane gehört. Der Name des Korrespondenten ist Heinrich Heine.[5]

Walter Scott wird nicht nur in der preußischen Hauptstadt gelesen. Ganz Europa verschlingt zu Beginn der zwanziger Jahre seine in zügiger Folge erscheinenden Romane. Der Autor schwimmt auf einer Erfolgswelle, und die Popularität steigt mit jedem neuen Titel. Das wird auch in der heimlichen Kulturhauptstadt Weimar aufmerksam registriert. Mit einem etwas verkniffenen Unterton fragt Johann Wolfgang Goethe in einem Brief an den Herzog Carl August, warum »der Künstler nicht so gut als der Handelsmann von den Umständen, Liebhabereyen, Vorurtheilen Nutzen ziehen« solle, und er erklärt den schottischen Autor, der »von seinen Romanen gränzenlosen Vortheil gewonnen«[6] habe, zum Prototypen des marktorientierten Unterhaltungsschriftstellers.

Goethe hat zum Zeitpunkt dieser Äußerung, im Frühjahr 1821, noch nicht einen der Romane gelesen. Er kennt den Autor lediglich als Herausgeber einer Sammlung schottischer Balladen – 1817 war eine deutsche Übersetzung erschienen, deren Lektüre das Tagebuch belegt[7] - sowie als Übersetzer des Götz von Berlichingen. Erst im Herbst leiht Goethe sich jenen Titel aus, von dem der Berlinkorrespondent Heine berichten wird, er habe »besonders furore gemacht«. »Kenilworth, Roman nach Walter Scott, zu lesen angefangen«,[8] notiert Goethe Ende November. Drei Wochen später schickt er das Buch mit dem nicht sehr enthusiastisch klingenden Kommentar, es sei »gewiß in seiner Art ein fürtreffliches Werk«,[9] an den Besitzer zurück. Der wachsende Erfolg, den Scotts historische Romane auf dem europäischen Buchmarkt erzielen, sowie das ungewöhnliche Tempo, in dem immer neue Titel erscheinen, erregen in Goethe den Verdacht, der schottische Autor produziere Massenware mit hohem Unterhaltungs- und geringem literarischen Wert, und die Lektüre des Kenilworth scheint ihn in diesem Urteil zu bestätigen.

Eine kritisch-distanzierte Haltung bestimmt denn auch Goethes Verhältnis zu den Romanen Scotts vom Beginn der zwanziger Jahre an. So konzediert er zwar, daß sich Scotts Schriften neben denen Byrons »in den Händen aller Deutschen, besonders der zarten und schönen«, befänden, nach der Lektüre von Byrons Drama Cain stellt er jedoch klar, Scott sei im Hinblick auf die literarische Bedeutung »nichts neben ihm«.[10]

Das hält Goethe nicht davon ab, die Romane des schottischen Erfolgsautors weiterhin zu lesen, und zwar - wie man das eben mit Unterhaltungsliteratur zu tun pflegt - im Urlaub. Aus Karlsbad schreibt er seinem Sohn, er habe das Sketch Book von Geoffrey Crayon[11] und The Black Dwarf von Scott gelesen, und man sehe daraus, »daß wenn ich eine Zeitlang in diesem halb zerstreuten, halb einsamen Zustande verharrte, ich in der neuesten englischen Literatur wohl noch einige Fortschritte machen könnte.«[12] Doch mit dem Ende des Kuraufenthaltes scheint auch Goethes Interesse an Scott erschöpft. Von »Walter Scott habe ich zwei Romane gelesen«, bilanziert er im Oktober 1823 in einem Gespräch mit Friedrich von Müller, »und ich weiß nun, was er will und machen kann. Er würde mich immerfort amüsiren, aber ich kann nichts aus ihm lernen. Ich habe nur Zeit für das Vortrefflichste.«[13] Das klingt nicht gerade so, als könne Goethe es gar nicht abwarten, das nächste Werk von Scott in die Finger zu bekommen. Und doch verzeichnet das Tagebuch schon wenige Wochen später die Lektüre eines weiteren historischen Romans, The Abbot.[14]

Als Goethe dann im Februar 1824 ein Werk des französischen Schriftstellers Narcisse de Salvandy rezensiert, beginnt er seine Besprechung mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen zur Gattung des historischen Romans. »Diese Art Schriften standen sonst nicht im besten Ruf, weil sie gewöhnlich die Geschichte in Fabeln verwandeln und unsere historische, mühsam erworbene, reine Anschauung durch eine irrgeleitete Einbildungskraft zu verwirren pflegten. Neuerer Zeit aber hat man ihnen eine andere Wendung gegeben, man sucht der Geschichte nicht sowohl durch Fiktionen als durch die Kraft dichterischen Bildens und Darstellens zu Hülfe zu kommen und sie dadurch erst recht in's Leben einzuführen. Dieses ist nun mehr oder weniger zu erreichen, wenn man wirkliche Hauptfiguren auftreten, sie, durchaus rein historisch porträtiert, ihrem Charakter gemäß handeln läßt; die Gestalten der Umgebung sodann nicht sowohl erfindet als zeitgemäß zu bilden versteht, so daß die sittlichen Eigenschaften und Eigenheiten der gewählten Epochen durch Individuen symbolisirt, diese aber durch allen Verlauf und Wechsel so durchgehalten werden, daß eine große lebendige Masse von Wirklichkeiten sich zu einem glaubwürdigen überredenden Ganzen vereinigt und abrundet. ― Walter Scott gilt als Meister in diesem Fache; er benutzte den Vortheil, bedeutende, aber wenig bekannte Gegenden, halbverschollene Begebenheiten, Sonderbarkeiten in Sitten, Gebräuchen und Gewohnheiten kunstreich aufzustellen und so seinen kleinen halbwahren Welten Interesse und Beifall zu verschaffen.«[15]

In dieser Rezension äußert sich Goethe zum erstenmal öffentlich zum Werk Walter Scotts, und was er sagt, klingt differenzierter und wohlwollender als die Äußerungen, die bis dahin dokumentiert sind. Diese Änderung im Tonfall läßt sich mit Höflichkeit und öffentlicher Rücksichtnahme allein nicht erklären. Vielmehr deutet die Tatsache, daß Goethe insbesondere den lokalen und lokalgeschichtlichen Charakter von Scotts Romanen herausstreicht, darauf hin, daß er beginnt, dessen Werk im Kontext eines sich in dieser Zeit intensivierenden Nachdenkens über die Möglichkeiten einer kulturellen Globalisierung zu betrachten. Im Mittelpunkt dieses Nachdenkens steht die Frage, inwieweit Literatur als Medium interkulturellen Austausches – als Weltliteratur, wie es wenig später heißen wird – zum wechselseitigen Kennen- und Verstehenlernen, damit zu einer friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Kulturen und letztlich zum Erhalt kultureller Diversität beitragen könne.

Je stärker sich Goethe in den nächsten Jahren mit dieser Frage beschäftigt, desto größer wird seine Wertschätzung für die Romane Walter Scotts. Bei Scott liefern die kulturellen Besonderheiten jener Regionen, in denen seine Romane spielen – vor allem Schottlands also -, nicht lediglich den Hintergrund für eine Handlung, die ebensogut in einem anderen regionalen Kontext angesiedelt sein könnte. Vielmehr versteht es der schottische Autor, die kulturellen Besonderheiten zu einem Bestandteil der Handlung selbst zu machen. In seinen Romanen ist die Lokalgeschichte, sind die Sitten und Gebräuche, die regionalspezifischen Traditionen und vor allem die überlieferten Rechtsgewohnheiten nicht weniger wichtig, als die Figuren, die sich in den derart gestalteten kulturellen Räumen bewegen oder von ihnen bewegt werden. Dieser Umstand macht Scotts Romane besonders geeignet für eine Wahrnehmung im Kontext von Goethes Vorstellung von Weltliteratur.

Es ist wohl diese veränderte Perspektive, die es Goethe ermöglicht, jenes Element in Scotts Romanen wahrzunehmen, das der Berlinkorrespondent Heine für deren Erfolgsgeheimnis hält. Heine meint, die Resonanz auf Scotts Romane sei deswegen so groß, weil der schottische Autor, indem er lokale Besonderheiten, Sitten und Gebräuche schildere, die Angst vor dem Verlust kultureller Identität thematisiere und damit den Nerv der Zeit treffe. Heine gibt zu bedenken, daß Scotts Romane »mehr durch ihr Thema, als durch ihre poetische Kraft, alle Herzen Europas bewegt haben. Dieses Thema ist aber nicht bloß eine elegische Klage über Schottlands volksthümliche Herrlichkeit, die allmählig verdrängt wurde von fremder Sitte, Herrschaft und Denkweise; sondern es ist der große Schmerz über den Verlust der Nazional-Besonderheiten, die in der Allgemeinheit neuerer Cultur verloren gehen, ein Schmerz, der jetzt in den Herzen aller Völker zuckt.«[16] Scott wird – nicht nur von Heine – als ein Agent des Lokalen und Besonderen wahrgenommen, und das verschafft ihm die Aufmerksamkeit vieler Leser, denen der Prozeß einer fortschreitenden Homogenisierung kultureller Unterschiede Unbehagen bereitet.

Es dauert allerdings eine Weile, bis auch Goethe diesen Scott für sich entdeckt, und Schuld daran ist dessen Erfolg am Buchmarkt, den Goethe gewohnt ist, als ein Zeichen literarischer Minderwertigkeit zu deuten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Goethe im Sommer 1824 Gelegenheit hat, Scott gleich von zwei neuen Seiten kennenzulernen. Im Juli liest er eine französische Übersetzung von Scotts Epitaph auf den in Griechenland gestorbenen Lord Byron, und im September empfängt er die mit der Familie Scott befreundete Lady Jane Davy in seinem Haus in Weimar.[17] Doch weder die Bewunderung, die Scott als Essayist für das literarische Schaffen Byrons zum Ausdruck bringt,[18] noch das sympathische Bild des Menschen Scott, das Lady Davy gezeichnet haben dürfte, ändern irgend etwas an der kritischen Distanz, mit der Goethe nach wie vor dem Romancier Scott begegnet, »der durch seine Schriftstellerei an 80.000 Pfund gewann, aber sich selbst und seinen wahren Ruhm verkauft habe; denn im Grunde sei er doch zum Pfuscher geworden; denn seine meisten Romane seien nicht viel werth«.[19]

Goethes Kritik verschärft sich noch, als ein Gerücht die Runde macht, demzufolge die Romane Scotts in Wirklichkeit von einem Autorenkollektiv geschrieben würden – ein Gerücht, das nicht zuletzt dadurch entstehen kann, daß diese Romane nicht unter Angabe eines Namens, sondern lediglich mit dem Hinweis Vom Autor des Waverley veröffentlicht werden. Hermann von Pückler-Muskau berichtet von einem Gespräch mit Goethe, in dem dieser sich »nicht sehr enthusiasmirt für den großen Unbekannten« gezeigt habe. »Er zweifle gar nicht«, habe Goethe gemeint, daß Scott »seine Romane schreibe, wie die alten Maler mit ihren Schülern gemeinschaftlich gemalt hätten, nämlich: er gäbe Plan und Hauptgedanken, das Skelett der Scenen an, lasse aber die Schüler dann ausführen und retouchire nur zuletzt. [...] ›Hätte ich‹ - setzte er hinzu - ›mich zu bloßem Gewinnsuchen verstehen mögen, ich hätte früher mit Lenz und andern, ja ich wollte noch jetzt Dinge anonym in die Welt schicken, über welche die Leute nicht wenig erstaunen und sich den Kopf über den Autor zerbrechen sollten; aber am Ende würden es doch nur Fabrikarbeiten bleiben.‹«[20]

Im Oktober 1826 fragt der Verleger Alexander Henderson, der sich auf dem Weg von Paris nach Edinburgh befindet, bei Goethe an, ob dieser ihm nicht eine Nachricht an Walter Scott anvertrauen wolle, der sich bestimmt sehr freuen würde über »einige handschriftliche Zeilen von Einem, zu dem die Autoren seiner Zeit bereitwillig als einem Meister aufgeschaut haben.«[21] Goethe, nicht unempfänglich für derartige Schmeicheleien, nimmt das Angebot des Verlegers an. Im Januar 1827 schickt er Scott einen freundlichen, wenn auch unverbindlichen Gruß aus Weimar, um ihm, wie er formuliert, »den Antheil auszusprechen, den ich an Ihren bewundernswürdigen Darstellungen seit vielen Jahren zu nehmen nicht verfehlen konnte. Auch mangelt es mir nicht am Anlaß von außen, Ihrer zu gedenken, indem in unseren Gegenden nicht etwa nur Übersetzungen Ihrer so reich ausgestatteten Werke, sondern auch die Originale selbst gekannt und dem wahren Geist und Verdienst nach geschätzt sind.«[22]

Im Sommer 1827 trifft eine Antwort von Walter Scott in Weimar ein, die Eckermann für Goethe übersetzt. Sie überrascht durch die Offenherzigkeit, mit der Scott seine »häuslichen Zustände« beschreibt; selbst die prekäre Finanzlage wird nicht verschwiegen. Goethe habe dies »als Zeichen eines brüderlichen Vertrauens« aufgenommen und »über diesen Brief große Freude«[23] gezeigt, versichert Eckermann.

Scott teilt in seinem Schreiben mit, er habe die Buchhandlung Treuttel und Würtz beauftragt, ein Exemplar seiner Napoleon-Biographie nach Weimar zu schicken. Dieses Werk, das im Frühjahr 1827 im englischen Original und beinahe zeitgleich in französischer und in deutscher Übersetzung erscheint, wird in Deutschland bereits lebhaft diskutiert, und Goethe erwartet die Sendung mit großer Ungeduld (im Oktober erkundigt er sich schriftlich bei Treuttel und Würtz, warum sie noch nicht eingetroffen sei).

Mit keinem anderen Werk Scotts setzt Goethe sich so intensiv auseinander wie mit der Lebensbeschreibung Napoleons. Er liest alle neun Bände im Original, empfiehlt das Werk seinen Freunden, diktiert Betrachtungen über Autor und Text. Was für Goethe den Reiz daran ausmacht, ist der fremde Blick auf einen bekannten Gegenstand. »Haben wir den Franzosen, die so mannigfaltig auch von verschiedenen Seiten über die Revolution gesprochen, willig zugehört; haben wir uns von Deutschen vielfach davon unterhalten und belehren lassen: so muß es höchst interessant seyn, einen Engländer und zwar einen höchst namhaften zu vernehmen.«[24]

Goethe liest Scotts Werk nicht, um etwas über Napoleon oder die Französische Revolution zu erfahren. Er liest es, um etwas über Großbritannien zu erfahren, als ein Stück Weltliteratur, wie er sie versteht. In diesem Sinne äußert er sich auch gegenüber dem Berliner Freund Zelter, dem er das Werk zu lesen empfiehlt. »Wenn du Zeit und Lust hast, den bedeutenden Gang der Weltgeschichte, in dem wir seit fünfzig Jahren mit fortgerissen werden, bey dir im Stillen zu wiederholen und darüber noch einmal nachzudenken: so kann ich dir nichts Bessers rathen, als gedachtes Werk von Anfang bis zu Ende ruhig durchzulesen. Ein verständiger, wackrer, bürgerlicher Mann, dessen Jünglingszeit in die französische Revolution fiel, der als Engländer in seinen besten Jahren diese wichtige Angelegenheit beobachtete, betrachtete und sie gewiß vielfach durchsprach, dieser ist noch überdieß der beste Erzähler seiner Zeit und gibt sich die Mühe, uns die ganze Reihe des Verfolgs nach seiner Weise klar und deutlich vorzutragen. ― Wie er aus seinem politisch-nationalen Standpunct sich gegen das alles verhält, wie er, übern Canal herüberschauend, dieses und jenes anders ansieht als wir auf unserem beschränkten Platz im Continent, das ist mir eine neue Erfahrung, eine neue Welt-Ein- und –Ansicht.«[25]

In ähnlicher Weise äußert sich Goethe in einem Brief an den Grafen Reinhard, dem er mitteilt, er habe Scotts Napoleon »mit aufmerksamem Wohlwollen durchgelesen und zwar in englischer Sprache, welches nothwendig ist, weil es doch eigentlich immer ein Engländer ist der spricht, auf dessen einseitigen Vortrag man gefaßt seyn muß.«[26] Zwar könne man Scott »große Ungenauigkeiten und eine ebenso große Parteilichkeit vorwerfen«, erläutert Goethe an anderer Stelle, »allein gerade diese beiden Mängel geben seinem Werke in meinen Augen einen ganz besonderen Werth. Der Erfolg des Buchs war in England über alle Begriffe groß, und man sieht also, daß Walter Scott eben in seinem Haß gegen Napoleon und die Franzosen der wahre Dolmetscher und Repräsentant der englischen Volksmeinung und des englischen Nationalgefühls gewesen ist. Sein Buch wird keineswegs ein Dokument für die Geschichte Frankreichs, allein es wird eins für die Geschichte Englands sein.«[27]

Goethe schätzt die Napoleonbiographie, mit deren neun Bänden er sich im Herbst 1827 »die traurigen langen Abende«[28] vertreibt, vor allem wegen der dezidiert britischen Perspektive, aus der Scott die Ereignisse vor, während und nach der Französischen Revolution beschreibt. Die Geschichte bildet hier ein tertium comparationis, auf das sich die vergleichende Wahrnehmung kultureller Besonderheiten bezieht. Es ist die Fremdheit des anderen Blickes, die Goethe interessiert und die er auf literarischem Weg in Bekanntschaft zu verwandeln bemüht ist – und zwar ohne sie ausgleichen, aufheben oder auch nur abschwächen zu wollen. Es geht nicht um richtig oder falsch oder darum, einen politischen oder historischen Diskurs bestimmen zu wollen. Ziel ist es, die subjektive Darstellung – in diesem Fall, historischen Geschehens – als Ausdruck kultureller Identität zu lesen, die sich literarisch und, wie Goethe betont, sprachlich manifestiert. Das eigene Napoleonbild dient als ein Maß für kulturelle Differenz, aber es ist nicht das Maß aller Dinge.

In Anbetracht der Intensität, mit der Goethe das Napoleonbuch studiert, sowie der Bedeutung, die er ihm beimißt, wundert es nicht, daß er in der Folge auch den Romanen des schottischen Kollegen eine größere Aufmerksamkeit zuteil werden läßt. Bevor er allerdings vom Sommer 1828 an The Fair Maid of Perth, Waverley, Ivanhoe und Rob Roy liest, beschäftigt Goethe sich mit einem literaturkritischen Essay, von dem er zunächst gar nicht weiß, daß Walter Scott der Autor ist.

Am 24. Dezember 1827 trifft »ein großes Bücherpacket«[29] aus London in Weimar ein. Es enthält unter anderem die ersten beiden Bände des Foreign Quarterly Review, einer im selben Jahr gegründeten Zeitschrift, die Rezensionen und englische Übersetzungen literarischer und wissenschaftlicher Texte aus verschiedenen europäischen Ländern publiziert.

Goethe liest verschiedene Aufsätze aus der Zeitschrift und lobt sie in einem Schreiben an Thomas Carlyle als »Berührungen aus der Ferne«, die mit »Einsicht, Umsicht und Mäßigung geschrieben« seien. Er kündigt an, sich in der nächsten Ausgabe seines Weltliteratur-Magazins Über Kunst und Alterthum lobend über die Zeitschrift zu äußern und »eine solche wechselseitige Behandlung meinen ausländischen und inländischen Freunden bestens zu empfehlen.«[30]

Eine dieser »Berührungen aus der Ferne« findet bei Goethe besondere Beachtung. Über den im Ersten Heft des Foreign Quarterly Review anonym erschienenen Essay On the Supernatural in Fictitious Composition, verfaßt er eine ausführliche Rezension. Der Essay beschäftigt sich mit dem Werk E.T.A. Hoffmanns und kritisiert dessen »Mährchen«, wie Goethe übersetzt, als »fieberhafte Träume eines leichtbeweglichen kranken Gehirns, denen wir, wenn sie uns gleich durch ihr Wunderliches manchmal aufregen oder durch ihr Seltsames überraschen, niemals mehr als eine augenblickliche Aufmerksamkeit widmen können. Fürwahr, die Begeisterungen Hoffmanns gleichen oft den Einbildungen, die ein unmäßiger Gebrauch des Opiums hervorbringt und welche mehr den Beistand des Arztes als des Kritikers fordern möchten.«[31]

Daß der Autor die Schriften Hoffmanns für gesundheitsgefährdend hält, nimmt Goethe mit Genugtuung zur Kenntnis, denn für ihn repräsentiert Hoffmann jenes Romantische, das ihm als das Kranke gilt. Da überrascht es nicht, daß er den »reichen Inhalt dieses Artikels« in den höchsten Tönen lobt; »denn welcher treue, für Nationalbildung besorgte Theilnehmer hat nicht mit Trauer gesehen, daß die krankhaften Werke des leidenden Mannes lange Jahre in Deutschland wirksam gewesen« sind »und solche Verirrungen als bedeutend-fördernde Neuigkeiten gesunden Gemüthern eingeimpft«[32] wurden.

Goethe erkundigt sich umgehend bei Thomas Carlyle – den er für den Autor hält -, wer den Artikel verfaßt habe. Carlyles Antwort, es handele sich um den Autor des Waverley, dürfte Goethes Wertschätzung für Scott abermals gesteigert haben.

Auch das Vorurteil, der ökonomische Erfolg eines Buches sei umgekehrt proportional zu seinem literarischen Wert – bislang Grundlage für Goethes ablehnende Haltung gegenüber Scotts Romanen -, weicht nun allmählich auf. Auf den von einem Kammerjunker geäußerten und von Goethe früher selbst einmal erhobenen Vorwurf, Scott schreibe zu viel, reagiert Goethe jetzt mit einer Zurechtweisung; »wenn Du ihm seine Vielschreiberei vorhalten wolltest, die denn doch mehr Kern hat, als unsere modernen deutschen Romane, so würde er Dir ganz ruhig seine mit Banknoten gefüllte Brieftasche vorhalten«,[33] stellt er klar.

Im August 1828 beginnt Goethe – auf Anregung seiner Schwiegertochter Ottilie, die ein Faible für englischsprachige Literatur hat – mit der Lektüre des Romans St. Valentine's Day; or, The Fair Maid of Perth. Im Mittelpunkt dieses historischen Romans steht ein ungleiches Paar: ein derber Waffenschmied, dem der Ruf eines ebenso streitbaren wie unbezwingbaren Kämpfers vorauseilt und der im Laufe der Romanhandlung immer wieder in Scharmützel verwickelt wird, sowie die Tochter eines Handschuhmachers, die Gewalt verabscheut und sich einer geplanten Eheschließung mit dem Waffenschmied zu entziehen sucht. Diese beiden Figuren geraten in historische Ereignisse des ausgehenden 14. Jahrhunderts hinein, die Scott zeitlich verdichtet und für seine Zwecke ineinander verwebt: eine Hofintrige, die zur Ermordung des Thronfolgers führt, sowie eine militärische Auseinandersetzung zweier Hochlandclans, die anstatt einander in offener Schlacht niederzumetzeln, eine ausgewählte Schar Bewaffneter in einem turnierartig organisierten Kampf vor den Augen des schottischen Königs gegeneinander antreten lassen.

Goethes Lektüre beginnt mit Schwierigkeiten. »Wollte Walter Scotts St. Valentinstag lesen«, notiert er im Tagebuch. »Es ging aber nicht; in dem zwar interessanten Stoff findet unsereiner zu wenig Gehalt.«[34] Trotzdem liest Goethe weiter, und schon am nächsten Tag ist er, was das Verhältnis von Stoff und Gehalt betrifft, anderer Ansicht. Seiner Schwiegertochter schreibt er, es sei »immer das große Talent, das einem reichen Stoff den menschlichen Gehalt abzugewinnen, die gehörigsten Einzelnheiten durchzuarbeiten und jede Situation bis auf's Höchste zu steigern vermag.«[35]

The Fair Maid of Perth ist mehrfach Gegenstand der Unterhaltung im Hause Goethe, vor allem wenn Eckermann und Ottilie zugegen sind. Goethe hebt bei diesen Gelegenheiten das Erzähltalent und das handwerkliche Können Scotts hervor, das sich in diesem Roman zeige. »Das ist gemacht! Das ist eine Hand! Im Ganzen die sichere Anlage, und im Einzelnen kein Strich, der nicht zum Ziele führte. Und welch ein Detail, sowohl im Dialog als in der beschreibenden Darstellung, die beide gleich vortrefflich sind! Seine Scenen und Situationen gleichen Gemälden von Teniers: im Ganzen der Anordnung zeigen sie die Höhe der Kunst, die einzelnen Figuren haben eine sprechende Wahrheit, und die Ausführung erstreckt sich mit künstlerischer Liebe bis aufs Kleinste, sodaß uns kein Strich geschenkt wird. [...] Überall finden Sie bei Walter Scott die große Sicherheit und Gründlichkeit in der Zeichnung, die aus seiner umfassenden Kenntniß der realen Welt hervorgeht, wozu er durch lebenslängliche Studien und Beobachtungen und ein tägliches Durchsprechen der wichtigsten Verhältnisse gelangt ist. Und nun sein großes Talent und sein umfassendes Wesen! Sie erinnern sich des englischen Kritikers, der die Poeten mit menschlichen Sängerstimmen vergleicht, wo einigen nur wenig gute Töne zu Gebote ständen, während andere den höchsten Umfang von Tiefe und Höhe in vollkommener Gewalt hätten. Dieser letztern Art ist Walter Scott. In dem Fair Maid of Perth werden Sie nicht eine einzige schwache Stelle finden, wo es Ihnen fühlbar würde, es habe seine Kenntniß und sein Talent nicht ausgereicht. Er ist seinem Stoff nach allen Richtungen hin gewachsen.«[36]

Dies ist, nach der Napoleonbiographie und dem Essay über E.T.A. Hoffmann, der erste Roman von Scott, der Goethes uneingeschränkten Beifall findet – eine Nichte Napoleons berichtet gar, es habe sie »ein strafender Seitenblick«[37] getroffen, als sie das Buch einmal in Goethes Gegenwart zu kritisieren gewagt habe. Von einem »Pfuscher«, der »sich selbst und seinen Ruhm verkauft«[38] habe, ist fortan nicht mehr die Rede. Statt dessen lobt Goethe den »Kunstverstand bei Walter Scott«, der dazu führe, daß »auch wir und unseresgleichen, die darauf, wie etwas gemacht ist, ein besonderes Augenmerk richten, an seinen Sachen ein doppeltes Interesse und davon den vorzüglichsten Gewinn haben.«[39]

Am selben Tag, an dem er The Fair Maid of Perth beendet, nimmt Goethe den Waverley zur Hand, den er in fünf Tagen durchliest. Und er empfiehlt Eckermann, es genauso zu machen. »Wenn Sie aber mit dem Fair Maid of Perth zu Ende sind, so müssen Sie sogleich den Waverley lesen, der freilich noch aus ganz andern Augen sieht, und der ohne Frage den besten Sachen an die Seite zu stellen ist, die je in der Welt geschrieben worden. Man sieht, es ist derselbige Mensch, der die Fair Maid of Perth gemacht hat, aber es ist derjenige, der die Gunst des Publikums erst noch zu gewinnen hatte und der sich daher zusammennimmt, sodaß er keinen Zug thut, der nicht vortrefflich wäre. Die Fair Maid of Perth dagegen ist mit einer breitern Feder geschrieben, der Autor ist schon seines Publikums gewiß, und er läßt sich schon etwas freier gehen. Wenn man den Waverley gelesen hat, so begreift man freilich wohl, warum Walter Scott sich noch jetzt immer den Verfasser jener Production nennt; denn darin hat er gezeigt, was er konnte, und er hat später nie etwas geschrieben, das besser wäre oder das diesem zuerst publicirten Romane nur gleichkäme.«[40]

Dies also ist jene berühmte Gesprächsnotiz von Eckermann, die immer wieder herhalten muß, wenn es darum geht, Goethe als einen großen Kenner und Bewunderer des Scott’schen Romanwerks zu präsentieren und dies mit einer zentralen Aussage zu untermauern. Verfolgt man Goethes Auseinandersetzung mit dem literarischen Werk des schottischen Kollegen allerdings chronologisch, dann wird deutlich, daß eine wohlwollende Rezeption der Texte Scotts erst parallel zur Entwicklung des Weltliteraturgedankens einsetzt. Hätte Goethe den Waverley zehn Jahre früher gelesen, seine Urteil wäre vermutlich weniger enthusiastisch ausgefallen.

Leichte Vorbehalte gegen den Unterhaltungscharakter bleiben freilich auch jetzt bestehen. In einem Gespräch mit Felix Mendelssohn-Bartholdy im Jahr 1830 meint Goethe, Waverley sei »der beste Roman von Scott, worin alle seine folgenden Werke liegen, ohne brillant zu sein, passend unterhalten, ebenso nachher die Fair Maid of Perth.«[41] Der kritische Unterton bezieht sich aber wohl auf die philosophische und individualpsychologische Komplexität und Dichte der Romane und nicht auf ihre Bedeutung im Sinne von Goethes Weltliteraturbegriff. Denn bei Goethes Vorstellung von Weltliteratur geht es nicht um ein Gipfeltreffen, zu dem nur Autoren zugelassen werden, die zuvor festgelegte ästhetische Anspruchskriterien erfüllen. Vielmehr geht es um eine interkulturelle Kommunikation von und mit Autoren, deren Texte lokale und regionale Besonderheiten einer kulturellen Gemeinschaft auf literarische Weise erfahrbar machen. Zu diesen Texten gehören für Goethe die Romane von Walter Scott.

Allerdings, die Rezeption der Napoleon-Biographie belegt es, nicht nur die Romane. In den letzten Tagen des Jahres 1830 trifft das neueste Werk des schottischen Autors druckfrisch in Weimar ein, Letters on Demonology and Witchcraft. Scott selbst ist nicht sehr überzeugt von diesem Buch, das in zehn Briefen einen kursorischen Überblick über die Geschichte des europäischen Geister-, Gespenster- und Aberglaubens liefert, und er vertraut seinem Journal den Wunsch an, to »do something better than these Dæmonological trash.«[42]

Goethe hingegen nimmt die kleine Schrift sehr freundlich auf. Zu Beginn der Lektüre trägt er in sein Tagebuch ein, sie sei »offenbar geschrieben, um den vorwaltenden Aberglauben zu beseitigen. Man blickt in die wunderbarsten Zustände, wenn man genau betrachtet, wogegen er ficht und mit was für Waffen.«[43] Er liest täglich in dem Buch, das ihm immer interessanter werde, weil Scott »den Wahn einer wirklichen Verwandtschaft, eines bestehenden Verhältnisses zu außernatürlichen, phantastischen Wesen historisch gar anmuthig entwickelt und die merkwürdigsten Anecdoten und Traditionen heiter vorträgt.«[44]

Mit »außernatürlichen, phantastischen Wesen« befaßt auch Goethe sich kurz darauf, als er die Arbeit am vierten Akt von Faust II aufnimmt. In der Szene Auf dem Hochgebirg treten allerlei Berggeister und Kobolde auf, und Mephisto veranstaltet mit Hilfe seiner »gespensterhaften Eingreifverbände eine Geisterschlacht in den Lüften«.[45]

Zwar wird man Emil Staiger nicht folgen können, wenn er behauptet, Goethe habe die Letters on Demonology and Witchcraft  für diese Szene »benutzt und vieles einfach übernommen«,[46] gleichwohl mag Scotts Gespensterphänomenologie Goethe einige Anregungen geliefert haben.

Im Ersten Brief zitiert Scott einen Bericht über eine kollektive Sinnestäuschung, die im Jahr 1686 stattgefunden haben soll, als sich zwischen Juni und Juli »viele Menschen über mehrere Nachmittage hinweg an den Ufern des Clyde versammelten, weil dort eine Unmenge von Mützen, Hüten, Gewehren und Schwertern die Bäume und den Boden bedeckten; Kompanien bewaffneter Männer marschierten in Reihen am Flußufer entlang; Kompanien trafen auf Kompanien, gingen durcheinender hindurch, fielen alle zu Boden und verschwanden; andere Kompanien erschienen sofort darauf und marschierten denselben Weg.«[47] Scott vermutet, daß dieses »Himmelsphänomen«, das als eine »übernatürliche Waffenschau wahrgenommen wurde, durchgeführt als Warnung vor bevorstehenden Bürgerkriegen«[48], in Wirklichkeit die Aurora borealis, also ein Nordlicht gewesen sei, »das vor dem Beginn des 18. Jahrhunderts in Schottland nicht so häufig zu sehen gewesen ist, als daß man es für eine alltägliche und vertraute atmosphärische Erscheinung hätte halten können.«[49]

Es lassen sich gewisse Ähnlichkeiten erkennen zwischen dieser Geschichte und jener Szene im Faust, in der Mephisto in den Bürgerkrieg eingreift und ein gespenstisches Himmelsszenario veranstaltet.[50

Mephisto

Ich habe freilich nicht gesäumt

Die Waffensäle ringsum ausgeräumt;

Da standen sie zu Fuß zu Pferde,

Als wären sie noch Herrn der Erde,

Sonst waren's Ritter, König, Kaiser,

Jetzt sind es nichts als leere Schneckenhäuser.

Gar manch Gespenst hat sich darein geputzt,

Das Mittelalter lebhaft aufgestutzt.

Welch Teufelchen auch drinne steckt,

Für diesmal macht es doch Effekt.

[...]

 

Faust

Der Horizont hat sich verdunkelt,

Nur hie und da bedeutend funkelt

Ein roter ahnungsvoller Schein;

Schon blutig blinken die Gewehre,

Der Fels, der Wald, die Atmosphäre,

Der ganze Himmel mischt sich ein.

Es ist durchaus vorstellbar, daß Goethe die Idee zu diesem Himmelsschauspiel kam, als er jene alte schottische Geschichte von der Aurora borealis bei Walter Scott gelesen hat. Hilfsgeist Eckermann erinnert sich an ein Gespräch mit seinem Meister, in dem dieser gesagt habe, es wundere ihn überhaupt nicht, daß Scott »auf die ganze Lesewelt so außerordentliche Wirkungen hervorbringt. Er giebt mir viel zu denken, und ich entdecke in ihm eine ganz neue Kunst, die ihre eigenen Gesetze hat.«[51]

Die Lektüre der Letters on Demonology and Witchcraft löst bei Goethe abermals einen Impuls aus, sich dem Romanwerk zu nähern. Er liest den Ivanhoe, den er im Gespräch mit Eckermann in einer Weise kommentiert, die deutlich macht, daß seine Annäherung an den schottischen Romancier nunmehr vollzogen ist. Hatte Goethe 1823 noch gesagt, Scott würde ihn »immerfort amüsiren«, aber er könne »nichts aus ihm lernen. Ich habe nur Zeit für das Vortrefflichste«,[52] so knüpft er acht Jahre später gewissermaßen an dieses Statement an und verkehrt es ins Gegenteil. »Man liest zu viel geringe Sachen«, heißt es in einem Gesprächsbericht vom März 1831, »womit man die Zeit verdirbt und wovon man weiter nichts hat. Man sollte eigentlich immer nur das lesen, was man bewundert, wie ich in meiner Jugend that, und wie ich es nun an Walter Scott erfahre. Ich habe jetzt den Rob Roy angefangen und will so seine besten Romane hintereinander durchlesen. Da ist freilich alles groß: Stoff, Gehalt, Charaktere, Behandlung, und dann der unendliche Fleiß in den Vorstudien, sowie in der Ausführung die große Wahrheit des Details! Man sieht aber, was die englische Geschichte ist, und was es sagen will, wenn einem tüchtigen Poeten eine solche Erbschaft zu Theil wird.«[53]

Den Plan, die besten Romane hintereinander zu lesen, führt Goethe nicht mehr aus, und auch Rob Roy liest der Einundachtzigjährige nicht zu Ende »wegen der schottischen Sprache«.[54] Für Goethe bleibt die literarische Beziehung zu Walter Scott eine Berührung aus der Ferne.