Goethes Romane aus der Perspektive der Spätmoderne Zwischen 1774 und 1829 erscheinen vier Romane Goethes: vor 250 Jahren der fulminante Erstlingserfolg Die Leiden des jungen Werthers, zwanzig Jahre später Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1809 dann die Wahlverwandtschaften und abermals zwanzig Jahre später die zweite Fassung von Wilhelm Meisters Wanderjahren. Die Entstehungszeit aller vier Texte deckt sich mit der Zeit ihrer fiktiven Handlung und bewegt sich damit in der von Reinhart Koselleck so getauften „Sattelzeit“, also der Epochenschwelle vom Absolutismus zur bürgerlichen Moderne. Die Romane setzen sich mit gesellschaftlichen Umbruchprozessen auseinander, präfigurieren bürgerliche Identitätskonzepte und können als diachrone Entwicklungsanalyse gelesen werden: Im Werther ist das Ständesystem feudaler Ordnung noch weitgehend intakt, in den Lehrjahren versucht der Titelheld eine bürgerliche Kopie feudalen Lebens auf dem Theater zu finden, in den Wahlverwandtschaften scheitert eine Gruppe Landadliger daran, eine feudale Idylle in die neue Zeit hinüberzuretten, und in den Wanderjahren rückt bereits die moderne bürgerliche Gesellschaftsordnung in den Vordergrund und die Industrialisierung steht bevor. Goethes Romane erzählen von Individuen und Gemeinschaften, die den für sie richtigen Weg inmitten gesellschaftlicher Wandlungsprozesse suchen, und loten mit diesen Suchbewegungen Entwicklungskorridore bürgerlichen Lebens aus. Dies geschieht häufig im Kontrast zur alten, feudalen Welt, die als Folie dient, um das Neue jener sich herausschälenden bürgerlichen Moderne zu zeigen und kritisch zu beleuchten. Deutlich wird dabei die Ambivalenz dieses historischen Prozesses: der Zugewinn an individueller Freiheit und die wachsende Bedeutung des Bürgertums, aber auch der Verlust von sozialen Selbstverständlichkeiten und der Zwang, sich in dieser neuen Welt, die ihre Ordnung erst noch finden muss, zu orientieren und so etwas wie einen Lebensentwurf zu entwickeln und erfolgreich umzusetzen. Die Rezeption von Goethes Romanen geschieht dann im Wesentlichen in einer Epoche, in der die bürgerliche Ordnung sich bereits vollständig ausgebildet, homogenisiert und gefestigt hat. „Der Mensch versteht nichts als was ihm gemäß ist“ (MA 17, S. 265), sagt Jarno in den Wanderjahren, und so bestimmt die Rezeptionsperspektive der bürgerlichen Moderne denn auch die Auslegung der Romane. Werther wird gedeutet als kompromissloser Bürgertumsverweigerer, der sich einem Leben innerhalb der „fatalen bürgerlichen Verhältnisse“ entzieht (MA 1.2, S. 250). Statt in Amt und Beruf zu resignieren, setzt er die Liebe zu Lotte absolut und unterwirft seinen Lebensweg, ja buchstäblich seine Existenz einzig dieser Instanz. Anders macht es Wilhelm Meister, der sich im Laufe seiner Lehrjahre zu einem nützlichen Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft mausert oder, wie Hegel es formuliert, „die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt“.[1] Die Wanderjahre werfen die Frage auf, wieviel individueller Eigensinn in einer sich homogenisierenden bürgerlichen Gesellschaft noch möglich ist und wie gemeinschaftliche Lebenszusammenhänge sich unter diesen Bedingungen erhalten können, eine „Projektstudie gemeinschaftlichen Überlebens“[2], wie Adolf Muschg das genannt hat. Und in den Wahlverwandtschaften bemühen sich die Protagonisten „im ökonomisch gesicherten Rahmen feudalen Wohlstands, der es ihnen erlaubt, ihren Vorlieben ungestört nachzugehen“, darum, sich in die neuen Räume bürgerlicher Freiheit vorzutasten und ihre privilegierte Stellung gleichwohl in die neue Zeit hinüberzuretten: In solch verschwenderischer Lebensweise wird ein sozialgeschichtliches Phänomen sichtbar: die zunehmende Verarmung des Landadels, der, politisch längst entmachtet, durch übertriebenen Aufwand und seine Unfähigkeit, sich dem ökonomischen Wandel anzupassen und rentabler hauszuhalten, selber die Basis seiner gesellschaftlichen Position langsam zerstört.[3] Die von Goethe in seinen Romanen entworfenen Figuren und Handlungsstränge leuchten also aus unterschiedlichen Richtungen einen Raum aus, in dem sich jene Welt konstituiert, die retrospektiv als die klassische Moderne bezeichnet werden kann. Sie ist gekennzeichnet durch Säkularisierung und Rationalisierung, Ökonomisierung und Leistungsethos, Individualisierung und bürgerlichen Lebensstil, – in den Worten Hans-Ulrich Wehlers eine Gesellschaft rechtlich gleicher, durch Besitz und Bildung ausgezeichneter, wirtschaftlich frei konkurrierender, besitzindividualistischer, politisch handlungsfähiger, das ‚vernünftige‘ Gemeinwohl ermittelnder und mit Hilfe von Gesetzen verwirklichender Bürger.[4] In der Goethezeit gibt es diese Gesellschaft so noch nicht, sie ist noch Tendenz, nicht Existenz. Aber die Rezeptionsperspektive auf Goethes Romane wird dann wesentlich von der fortgeschrittenen und im 20. Jahrhundert vollständig entwickelten bürgerlichen Gesellschaft gelenkt. Dieser Umstand führt dazu, dass die Vorstellungen und das Handeln der Protagonisten innerhalb jenes bürgerlichen Koordinatensystems vermessen werden, das sich historisch durchgesetzt hat, dass ihre Sozialisation und ihre persönliche Entwicklung von einem Standpunkt der vollständig entwickelten klassischen Moderne aus betrachtet und bewertet werden. Dies trübt den Blick für die relative Offenheit, mit der die Texte in ihrer Zeit erkunden, welche Konturen eine bürgerliche Gesellschaft auch hätte annehmen können. „Wir reden über die Moderne in der Sprache und im Rahmen der Denkschemata der Moderne. Uns fehlt in der Regel die Distanz, die Möglichkeit, einen anderen Standpunkt einzunehmen“.[5] Heute scheint die klassische Moderne jedoch an ein Ende gekommen zu sein und wir erleben erneut einen Strukturwandel. Zuerst haben gegen Ende des 20. Jahrhunderts Ulrich Beck und Anthony Giddens einen gesellschaftlichen Wandel diagnostiziert, der die Moderne auf eine neue Entwicklungsstufe führt, und dafür Begriffe wie reflexive-, zweite- oder Spätmoderne verwendet.[6] Aber erst nach einigen Jahrzehnten dieser Entwicklung hat Andreas Reckwitz die Qualität dieses Wandels als einen radikalen Umbruch beschreiben können, der die Spätmoderne zu einer eigenen sozialgeschichtlichen Epoche macht, die sich von der klassischen Moderne strukturell unterscheidet. Der Soziologe beschreibt einen Übergang von einer Logik des Allgemeinen zu einer sozialen Logik des Besonderen und spricht von einer spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten: Der strukturelle Kern der klassischen Moderne, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert zunächst in Westeuropa ausgebildet hat, ist zunächst eine soziale Logik des Allgemeinen, die auf eine Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung sämtlicher Einheiten des Sozialen drängt.[7] Es handelt sich um eine Gesellschaft der Gleichen, der rechtlichen Egalität und sozialen Gleichförmigkeit. Eine solche Kultur der Egalität korreliert mit einer Gleichförmigkeit der Subjekte: Das Individuum ist bemüht, sein eigenes Leben gemäß der ‚Normalbiografie‘ zu gestalten, mit klaren Stationen und als erstrebenswert vorgegebenen Zielen.[8] Anders die Spätmoderne: in ihr kehrt sich diese Normvorstellung um: Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre.[9] Damit ist mehr gemeint als Individualisierung, die – verstanden im Sinne Ulrich Becks als Enttraditionalisierung, Auflösung kollektiver Erfahrungen und Entstehung neuer Entscheidungsoptionen und -zwänge – ja durchaus ein Phänomen der klassischen Moderne ist. Im Kontext der Individualisierung meint das Besondere die Auswahl aus dem bürgerlichen Optionenkanon oder auch ein Abweichen davon, im Sinne eines als Egozentrik bewerteten ‚Aussteigens’. Beides bestätigt die normative Erwartung, die eigene Identität an einer Logik des Allgemeinen auszurichten. In einer Gesellschaft der Singularitäten hingegen ist das persönlich Besondere „nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung“. Gefordert wird nun gerade die Abweichung von der Normalbiografie – und zwar die sichtbare: „Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach gelebt, es wird kuratiert. Das spätmoderne Subjekt performed sein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor den Anderen, die zum Publikum werden“.[10] Ein solcher sozialer Strukturwandel eröffnet der Rezeption von Goethes Romanen 250 Jahre nach Erscheinen des Werther einen neuen hermeneutischen Horizont. Wenn es richtig ist, dass literarische Texte in einer sozial veränderten Rezeptionsumgebung neue Bedeutung erlangen, stellt sich die Frage, inwiefern Goethes Romane aus der Perspektive dieser Spätmoderne anders mit der Wirklichkeit kommunizieren als aus der Perspektive der klassischen Moderne. Der vorliegende Aufsatz versteht sich – und kann auch nicht mehr sein – als eine Einladung zu einer neuen Lektüre und Auslegung von Goethes Umbruchsromanen aus einer spätmodernen Blickrichtung.
„O, wenn ich Fürst wäre!“ - Die feudale Welt als Folie Goethes Romane präsentieren die Welt des Adels durch die bürgerliche Brille als ein unerreichbares Ideal von Individualität. Es charakterisiert sie eine strenge Hermetik, die Bürgerliche ausschließt: exklusive Zugangsvoraussetzung ist die Geburt. Innerhalb der ständischen Gesellschaftsordnung ist diese Welt mit Privilegien ausgestattet, die sie als attraktiv erscheinen lassen, allen voran die Unabhängigkeit von alltäglichen ökonomischen Zwängen. Adlige in Goethes Romanen müssen sich nicht um ihren Lebensunterhalt sorgen, die Basis ihrer Existenz ist die Verfügungsmacht über Landbesitz, der von Generation zu Generation weitervererbt wird. Wilhelm Meister beschreibt dieses Privileg voller Neid: Dreimal glücklich sind diejenigen zu preisen, die ihre Geburt sogleich über die untern Stufen der Menschheit hinaus hebt; die durch jene Verhältnisse, in welchen sich manche gute Menschen die ganze Zeit ihres Lebens abängstigen, nicht durchzugehen, auch nicht einmal darin als Gäste zu verweilen brauchen. Allgemein und richtig muß ihr Blick auf dem höheren Standpunkte werden, leicht ein jeder Schritt ihres Lebens! Sie sind von Geburt an gleichsam in ein Schiff gesetzt, um bei der Überfahrt, die wir alle machen müssen, sich des günstigen Windes zu bedienen und den widrigen abzuwarten, anstatt daß andere, nur für ihre Person schwimmend, sich abarbeiten, vom günstigen Winde wenig Vorteil genießen, und im Sturme mit bald erschöpften Kräften untergehen. (MA 5, S. 153) Auf der Grundlage dieser ökonomischen Unabhängigkeit folgt der Adel einem Rollenbild, in dessen Mittelpunkt die freie und ganzheitliche Ausbildung und Entfaltung der Persönlichkeit steht. Dies manifestiert sich zuvörderst an dem Primat des Könnens über das Müssen. Über die eigene Zeit frei und sorgenfrei disponieren zu können, verschafft Mitgliedern des Adels Möglichkeiten zu vielfältiger Beschäftigung und enthebt sie der Notwendigkeit, sich für einen Lebensentwurf entscheiden zu müssen. Goethe entwirft die höfische Gesellschaft als einen Mikrokosmos multipler, aber ausgewählter Interessen und ihrer Repräsentation: Adlige beschäftigen sich mit Garten- und Landschaftsbau und einer dem Zeitgeist entsprechenden Gestaltung ihrer Güter, wie etwa dem Übergang vom Französischen zum Englischen Garten. Sie dilettieren in den Naturwissenschaften, in Kunst und Architektur, sammeln Gemälde und Skulpturen und verfügen über gut sortierte Bibliotheken. Sie kommen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach, treffen und besuchen einander auf ihren Gütern und sorgen, geleitet von Zeremoniell und Etikette, für die vornehme Unterhaltung ihrer Gäste. Männliche Adlige verfügen zudem über militärische Kenntnisse und debattieren über Angelegenheiten feudaler Herrschaft, während die Frauen sich mit Fragen der Erziehung und Haushaltsführung befassen. Verbindungen von Mann und Frau münden in dynastisch motivierte Konventionsehen, die den Bestand an Landbesitz sichern und vergrößern sollen. Freie Partnerwahl gibt es lediglich bei außerehelichen Beziehungen, die geduldet werden, solange sie die Ehe nicht in Frage stellen. Von diesem, durchaus klischeehaft konturierten Verhaltensmuster gibt es jedoch auch Abweichungen (die als solche das Rollenprofil bestätigen): In den Lehr- und Wanderjahren entwickelt sich die Turmgesellschaft zu einem multilateral operierenden Unternehmen, das sich vom Modell einer an der lokalen Gemeinschaft ausgerichteten Philanthropie verabschiedet und ein Bewusstsein für gesellschaftliche Verantwortung ausbildet, über die Abschaffung des „Lehns-Hokus-Pokus“ (MA 5, S. 153, S. 509), die Nützlichkeitsorientierung ihres Handelns und die Legitimität von Steuerabgaben philosophiert. In den Wahlverwandtschaften wird es für den Hauptmann zum Problem, ja zur „Qual“, dass er die feudale Rollenerwartung nicht erfüllen kann und ihm lediglich beschränkte Tätigkeiten angeboten werden: „Er soll nicht wirken; er soll sich aufopfern, seine Zeit, seine Gesinnungen, seine Art zu sein, und das ist ihm unmöglich“ (MA 9, S. 288). Auch Eduard und Charlotte weichen vom feudalen Muster ab: Sie erwägen eine Auflösung ihrer Ehe zugunsten einer Liebesheirat und nehmen mit der Veräußerung eines Teils ihres Landbesitzes an bürgerlich-ökonomischen Tauschprozessen teil, um sich Liquidität für ein Bauprojekt zu verschaffen. Bei diesen Abweichungen von den ständischen Normen geht es allerdings nicht um die grundsätzliche Aufgabe feudaler Privilegien, sondern um deren komplementäre Ergänzung um Elemente bürgerlicher Freiheit zum eigenen Vorteil – um das Beste aus beiden Welten. Es bleibt beim Primat des Könnens über das Müssen. Die Privilegierung zeigt sich durchgängig im Umgang des Adels mit den bürgerlichen Protagonisten: wie dicht ein Bürger der feudalen Gesellschaft kommen darf, entscheidet allein jene. Werther wird als gebildeter Gesprächspartner geschätzt, aus der adligen Abendgesellschaft wird er jedoch – zu seinem Unmut – hinauskomplimentiert, man möchte unter sich sein. Und als der Begleiter eines Fürsten, der „viel Geschmack an meiner Gesellschaft findet“, Werther bittet, „mit ihm auf seine Güter zu gehen“ und ihm verspricht, er solle ganz sich „selbst gelassen sein“ (MA 1.2, S. 257), muss er ebenfalls enttäuscht feststellen, dass das Miteinander Grenzen hat, die allein der Fürst bestimmt. Ähnliche Erfahrungen macht Wilhelm Meister, der von der Turmgesellschaft beobachtet und gelenkt und wohl auch mit operativen Aufgaben betraut wird, der aber in Entscheidungen über die Zukunft der Gesellschaft von Lothario und Jarno nicht einbezogen wird. Und als Mitglied der Schauspieltruppe von Serlo auf dem Schloss des Barons bedient man sich seiner zur Umsetzung der spleenigen Theatervorstellungen des Hausherrn, und er wird in ein amouröses Abenteuer mit der Gräfin verwickelt, das diese jedoch abrupt beendet. Augenhöhe ist das nicht. Dort, wo Bürgerliche in höfische Repräsentationsmuster integriert werden können, gewährt man ihnen Zugang, aber niemals Zugangsrechte. Die Hermetik der feudalen Welt wird ihnen gerade durch das ausnahmsweise Herunterlassen der Zugbrücke vor Augen geführt. Anlässlich einer Reise an den Berliner Hof spricht Goethe einmal davon, „wie die Grosen mit den Menschen, und die Götter mit den Grosen spielen“[11], und bringt das Machtgefälle zwischen Adel und Bürgertum damit pointiert zum Ausdruck. Seine Romane tun es ebenfalls.
Bürger zwischen den Welten – um Orientierung bemüht Die bürgerliche Gesellschaft der klassischen Moderne ist Substrat einer Reihe von unabgeschlossenen und prinzipiell unabschließbaren Prozessen, die homogenisierend und standardisierend auf die Lebenswirklichkeit und den Habitus von Menschen wirken und die soziale Struktur prägen. Zu diesen Prozessen gehören Säkularisierung, Rationalisierung, Ökonomisierung, Individualisierung, Spezialisierung und funktionale Differenzierung. Ihre Wirkungsmacht realisiert sich prägnant in der sukzessiven Formierung einer Normalbiografie, die grosso modo durch folgende Faktoren determiniert ist: Bildung, Ausbildung, Leistungsethos, berufliche Spezialisierung, Bedürfnisverschiebung und Karriereentwicklung, Partnerwahl und Familiengründung, ökonomischen Erfolg und Wohlstandszuwachs. Es entspricht dem Rollenbild bürgerlicher Menschen der klassischen Moderne, ihr Leben möglichst entlang dieser Komponenten zu organisieren. Die Rezeptionsgeschichte von Goethes Romanen gestaltet sich, zumal im 19. und 20. Jahrhundert, überwiegend als eine Horizontverschmelzung mit diesen bürgerlichen Vorstellungen, die das soziale Koordinatensystem bestimmen, aus dem heraus die Interpreten in den fiktiven Texten Entsprechungen mit und Abweichungen von den historischen Modernisierungsprozessen nachspüren und deuten. Die Zeit, in der die Handlung von Goethes Romanen spielt, ist aber nicht die klassische Moderne. Sie liegt vielmehr in einer Übergangsphase von der ständischen zur bürgerlichen Ordnung, und der Autor zeichnet seine bürgerlichen Protagonisten vor der Folie feudalen Lebens. Ihr Denken und Handeln verleiht seiner fiktiven bürgerlichen Gesellschaft ihre Kontur. Goethes Figuren können sich also noch nicht nach jener Normalbiografie richten, wie sie sich historisch im Laufe der Sattelzeit entwickelt hat. Sie sind soziale Pioniere auf der Suche nach bürgerlicher Orientierung: Werther begehrt noch auf gegen den Zwang, sein Leben um eine Berufstätigkeit herum zu organisieren, wie es Lottes Verlobter Albert in konformistischer Einförmigkeit tut: Wenn ich die Einschränkung so ansehe, in welche die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind, wenn ich sehe, wie alle Würksamkeit dahinaus läuft, sich die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz zu verlängern […]. Das alles, Wilhelm, macht mich stumm. (MA 1.2, S. 203) Auch der Wilhelm Meister der Lehrjahre ist nicht bereit, den ihm zugewiesenen Weg in Richtung einer bürgerlichen Kaufmannstätigkeit, die er für ein „niedriges Geschäft“ hält (MA 5, S. 32), anzutreten, ja überhaupt das Ideal einer umfassenden Entfaltung seiner Persönlichkeit zugunsten einer Spezialisierung aufzugeben. Vielmehr strebt er eine Kopie feudaler Selbstverwirklichung an: Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen wie er will. Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten umgeht, zur Pflicht wird, sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben, indem dieser Anstand, da ihm weder Tür noch Tor verschlossen ist, zu einem freien Anstand wird, da er mit seiner Figur, mit seiner Person, es sei bei Hofe oder bei der Armee, bezahlen muß, so hat er Ursache etwas auf sie zu halten, und zu zeigen, daß er etwas auf sie hält. […] Nun denke dir irgend einen Bürger, der an jene Vorzüge nur einigen Anspruch zu machen gedächte; durchaus muß es ihm mißlingen, und er müßte nur desto unglücklicher werden, je mehr sein Naturell ihm zu jener Art zu sein Fähigkeit und Trieb gegeben hätte. Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man aus ihm Könige oder königähnliche Figuren erschaffen kann; so darf er überall mit einem stillen Bewußtsein vor seines gleichen treten; er darf überall vorwärts dringen, anstatt daß dem Bürger nichts besser ansteht, als das reine stille Gefühl der Grenzlinie die ihm gezogen ist. Er darf nicht fragen: was bist du? sondern nur: was hast du? Welche Einsicht, welche Kenntnis, welche Fähigkeit, wieviel Vermögen? Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll nichts geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er scheinen will ist lächerlich oder abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon voraus gesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sei, noch sein dürfe, weil er, um sich auf Eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß. An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anmaßung der Edelleute und die Nachgiebigkeit der Bürger, sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst Schuld. […] Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung.[12] (MA 5, S. 289 f.) Wilhelms Antagonist ist Werner, der von Goethe als ein Prototyp des einseitig gebildeten rationalistischen und nutzenorientierten Bürgers porträtiert wird und der Wilhelm ein „lustiges Glaubensbekenntnis“ entgegenhält: „[...] seine Geschäfte verrichtet, Geld geschafft, sich mit den Seinigen lustig gemacht und um die übrige Welt sich nicht mehr bekümmert, als in so fern man sie nutzen kann“ (MA 5, S. 286). In den Wanderjahren macht Goethe seine Titelfigur dann zu einem Forschungsreisenden kollektiver sozialer Entwicklung, der durch teilnehmende Beobachtung Gemeinschaften erkundet, die in einer historisch noch offenen Situation Modellvorstellungen bürgerlichen Lebens konzipieren – „Entwürfe der praktischen Vernunft zur Organisation des menschlichen Zusammenlebens“.[13] Neben dem Bezirk des Oheims, der eine Art feudales Reservat bildet, und der quasi protofaschistischen Gruppe der Binnenwanderer um Odoardo, in der das Individuum sich vollständig gemeinschaftlicher Nützlichkeit zu unterwerfen hat[14], steht die Turmgesellschaft als Modell einer sich ins Globale ausdehnenden Genossenschaft, die bemüht ist, Individualität mit gemeinschaftlichem Leistungsethos zu vermitteln. Spezialisierung und Beruf sind auch hier Voraussetzung für eine Mitgliedschaft: „[...] in irgend einem Fache muß einer vollkommen sein, wenn er Anspruch auf Mitgenossenschaft machen will“ (MA 17, S. 565). Chefideologe der Einseitigkeit ist Jarno, der Wilhelm von seiner Vorstellung einer breiten Persönlichkeitsentfaltung abzubringen versucht: ‚Narrenpossen‘, sagte er, ‚sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Daß ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an, und besonders in unserm Verbande spricht es sich von selbst aus.‘ (MA 17, S. 511) Goethes bürgerliche Helden sind dem Druck ausgesetzt, sich für einen Lebensentwurf zu entscheiden, der um eine Spezialisierung zentriert ist, und ihr Leben der Pfadabhängigkeit einer solchen Entscheidung anheim zu geben. Ihr Heldentum besteht darin, diesem normativen Druck nicht nachzugeben. Werther weicht ihm aus, indem er seine Mutter in dem Glauben lässt, er werde „ihr Geschäfte bestens betreiben“ (MA 1.2, S. 198), und sich gegenüber dem Empfänger seiner Briefe über die „Lumperei“ auslässt, die darin bestehe, dass ein Mensch „um anderer willen, ohne daß es seine eigene Leidenschaft ist, sich um Geld, oder Ehre, oder sonst was, abarbeitet“ (MA 1.2, S. 228). Wilhelm Meister erhält sich seine Vorstellung von Selbstverwirklichung bis ans Ende der Wanderjahre. Und auch wenn er schließlich Wundarzt wird und sich spezialisiert, bewahrt er sich die Aura eines „problematischen Mannes“ (MA 17, S. 682), der der Turmgesellschaft zwar weiterhin assoziiert ist, sich aber nicht bruchlos in sie einfügt, sondern weiter als autonomes Individuum seiner Wege geht. In der Lesart der klassischen Moderne wird der Anspruch von Goethes Helden auf ihren individuellen Eigensinn als Widerstand gedeutet. Sie widersetzen sich bürgerlichen Erwartungen und legen so Verlusterfahrungen offen, die mit der historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft einhergehen. Aber deuten sie nicht auch Alternativen für eine andere bürgerliche Gesellschaft an?
Der neue Blick der Spätmoderne Der bürgerliche Emanzipationsprozess hat neben neuen Freiheiten auch Herausforderungen gebracht: Da die Lebensgrundlage nicht länger durch eine feudale Ordnung (fremd-)bestimmt wurde, mussten Bürger sich in der neu entstehenden marktwirtschaftlichen Umgebung positionieren und ihre Arbeitskraft in einem System von Angebot und Nachfrage einsetzen, um ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Die Position am Markt ließ sich durch Spezialisierung und Leistungsbereitschaft verbessern, und daraus resultiert der Umstand, dass bürgerliches Leben und die Entstehung einer Normalbiografie sich im Wesentlichen um die Berufstätigkeit herum organisiert haben. Mit Erfolg: Der bürgerliche Kapitalismus hat binnen 200 Jahren einen enormen technischen und wirtschaftlichen Fortschritt hervorgebracht, das allgemeine Wohlstandsniveau angehoben und den Lebensstandard um ein Vielfaches erhöht – das meint Ulrich Beck, wenn er von einem „Fahrstuhleffekt“[15] spricht. Der Übergang von der klassischen Moderne zur Spätmoderne besteht nun darin, dass diese Entwicklung sich nicht einfach quantitativ fortsetzt, sondern zu einer gesellschaftlichen Neubewertung der Modernisierungsprozesse und einem epochalen Strukturwandel führt. Andreas Reckwitz erkennt ihn vor allem in einer Auflösung sozialer Standardisierung und der Abkehr von der Normalbiografie. Stattdessen entsteht eine neue zentrale Kategorie: die der individuellen kulturellen Bedeutung, deren Wertmaßstab das Besondere, Singuläre ist. Diese Logik des Besonderen „widerspricht im Prinzip vollständig dem, was über nahezu 200 Jahre hinweg den Kern der modernen Gesellschaft ausgemacht hat“.[16] Menschen, Dingen, Orten und Ereignissen wird ein kultureller Wert jenseits ihres funktionalen Zwecks zugeschrieben, und zwar von jedem einzelnen Individuum, das ihnen affektional begegnet und eine Bedeutung zumisst. Das, was in der klassischen Moderne der Nutzen ist, wird in der Spätmoderne durch das kulturelle Erleben ersetzt:[17] Während die Logik des Allgemeinen mit Prozessen gesellschaftlicher Rationalisierung und Versachlichung zusammenhängt, ist die Logik des Singulären mit Prozessen gesellschaftlicher Kulturalisierung und Affektintensivierung verknüpft.[18] Das Streben des Individuums, sein Leben so zu gestalten, wie die anderen es tun, wird von der Norm zum Gegenteil der Norm; die Normalbiografie wird durch eine unverwechselbare kreative Bastelbiografie ersetzt: Die alten, rationalistischen Maßstäbe der Lebensstandards werden in der neuen Mittelklasse von den Maßstäben der Lebensqualität überlagert. Die Authentizität des Selbst gewinnt für sie enorm an Signifikanz: Das eigene Selbst soll in seiner Besonderheit entfaltet werden, und die Suche nach entsprechenden authentischen Erfahrungen (im Beruf, im Privatleben, in der Freizeit) wird zum Leitmotiv.[19] Und es genügt nicht, diese Erfahrungen zu machen. Geltung im Sinne dieses Leitmotivs erlangen sie erst, wenn sie mitgeteilt werden. Das Subjekt der Spätmoderne verschafft sich Singularitätsprestige durch eine performative Selbstverwirklichung, also dadurch, dass es die Besonderheit seiner Individualität zur Schau stellt. Gegenwärtige Phänomene dieser Entwicklung sind etwa die Entwertung des Faktors Berufsarbeit und eine wachsende Bedeutung der Work-Life-Balance; eine Aufwertung von „Wahlverwandtschaften“ – gewählter und zum Teil befristet bestehender sozialer Zusammenhänge (z.B. Wohngemeinschaften und Patchwork-Familien) – gegenüber Gemeinschaften biologischer Abstammung; der sozialmediale Präsentationseifer mit dem Trend, Privates öffentlich zu machen und so ein persönliches Profil zu inszenieren und Identität zu gewinnen aus der ostentativen Präsentation eines möglichst originellen Ernährungs-, Wohn- oder Mobilitätsstils sowie des eigenen Konsumverhaltens. Aus der Perspektive dieser, von Reckwitz ausführlich und differenziert dargestellten Gesellschaft der Spätmoderne wird sich die Wahrnehmung von Goethes Romanen möglicherweise insbesondere im Hinblick auf die Gegenüberstellung feudaler und frühbürgerlicher Lebenswelten verändern. Denn die performative Selbstverwirklichung weist eine große Nähe zu der von Goethe entworfenen, auf Repräsentation ausgerichteten feudalen Persönlichkeitsentfaltung auf, die auch seine bürgerlichen Helden für sich reklamieren. Während der klassischen Moderne konnte die Antwort auf die Frage, „wie die bürgerliche Gesellschaft über ihre beschränkte Wirklichkeit hinausgelangen kann, ohne sich als bürgerliche Gesellschaft aufzugeben“ nur die sein, die Heinz Schlaffer gegeben hat: „indem man die Wirklichkeit aufgibt“[20], sie also im fiktiven Kunstwerk sucht. Heute könnte das anders sein. Goethes Romane zeigen Haupt- und Nebenfiguren, die das Besondere, Eigensinnige verkörpern, und erzählen von den Schwierigkeiten, die sie haben, sich in einer gesellschaftlichen Umbruchphase zu orientieren, ihre Identität zu finden und zu behaupten. Einige, wie Wilhelm Meister, arrangieren sich mit den gesellschaftlichen Normen, andere scheitern und gehen zugrunde: Werther, Ottilie und Eduard, Mariane, Mignon, der Harfner, Aurelie. Aus der Perspektive der klassischen Moderne werden sie als nichtintegrierbare Opfer der sich entwickelnden Gesellschaftsform interpretiert. Aus der Perspektive der Spätmoderne verkörpern sie Singularitäten, die Möglichkeitssinn besitzen, also das Potenzial, den Diskurs für eine andere Vorstellung modernen Lebens zu öffnen, eine, in der Eigensinn die Forderung des Tages ist.
Anmerkungen [1] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II. Frankfurt a.M. 1986, S. 220. [2] Adolf Muschg: Goethe als Emigrant. Frankfurt a.M. 1986, S. 13. [3] Christoph Siegrist: Kommentar zu „Die Wahlverwandtschaften“. In: MA 9, S. 1202-1258; hier S. 1205. [4] Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815. München 1989, S. 236 f. [5] Claudia Schwamborn: Individualität in Goethes „Wanderjahren“. Paderborn 1997, S. 11. [6] Im Gegensatz zu den Vertretern einer ‚Postmoderne‘ betont diese Denkrichtung das Hervorgehen der neuen Phase aus der Entwicklungsgeschichte der Moderne und erklärt diese nicht für beendet. [7] Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017, S. 28. [8] Ebd., S. 45. [9] Ebd., S. 7. [10] Ebd., S. 9. [11] Brief an Charlotte von Stein vom 14.5.1778. In: FA II. 2, S. 130. [12] Franziska Schößler macht darauf aufmerksam, dass schon Wilhelms Vater mit seiner Neigung zum Prunk den Drang hatte, sich dem feudalen Repräsentationsstil anzulehnen, vgl. dies.: Goethes Lehr- und Wanderjahre. Eine Kulturgeschichte der Moderne. Tübingen, Basel 2002, S. 44. [13] Henriette Herwig: Das ewig Männliche zieht uns hinab: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. Geschlechterdifferenz, Sozialer Wandel, Historische Anthropologie. Tübingen, Basel 1997, S. 16. [14] Vgl.: Arne Eppers: Miteinander im Nebeneinander. Gemeinschaft und Gesellschaft in Goethes „Wilhelm Meister“-Romanen. Tübingen 2003, S. 183-208. [15] Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 1986, S. 124. [16] Reckwitz (Anm. 7), S. 14. [17] Vgl. ebd., S. 70. [18] Ebd., S. 17. [19] Ebd., S. 104. [20] Heinz Schlaffer: Der Bürger als Held. Sozialgeschichtliche Auflösungen literarischer Widersprüche. Frankfurt a.M. 31981, S. 133. |