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Zusammenfassung       

 

Miteinander im Nebeneinander
Gemeinschaft und Gesellschaft in Goethes Wilhelm Meister-Romanen

Mit der europäischen Aufklärungsbewegung beginnt das Projekt einer Moderne, die einen hochbeschleunigten gesellschaftlichen Fortschritt betreibt. Es gehört zur Dialektik jener Aufklärung, daß mit dem fortschreitenden Individualisierungsprozeß, der Teil des Modernisierungsgeschehens ist, eine Erosion gemeinschaftlicher Lebens- und Kommunikationsformen einsetzt. Lokale Strukturen kollektiver Identität lösen sich auf und hinterlassen ein Gemeinschaftsdefizit, das für ein modernitätstypisches Gefühl der Unterintegration verantwortlich ist.

Zwar hat der von Europa ausgehende Nationalismus als eine Art "pathologischer Schnellersatz" (Alexander Rüstow) dieses Gemeinschaftsdefizit zunächst zu kompensieren vermocht – mit den bekannten katastrophalen Folgen – doch mittlerweile löst ein ins Globale strebender Vergesellschaftungsprozeß auch die "vorgestellten Gemeinschaften" (Benedict Anderson) nationaler Einheitsstaaten auf und rückt das Problem der Unterintegration ins öffentliche Bewußtsein.

Hatte schon der Nationalismus lokale Besonderheiten homogenisiert bzw. zu Nuancen einer nationalen Identität erklärt, so handelt es sich bei dem als Globalisierung bezeichneten Vorgang um einen großangelegten gesellschaftlichen Homogenisierungsprozeß, der die Diversität lokaler Kulturen als ein Hindernis auf dem Weg zu einer ökonomischen Verfügbarmachung der Welt betrachtet.

Vor diesem Hintergrund gewinnt heute die Frage an Bedeutung, wie das Bedürfnis nach einer kollektiven Identität unter Modernitätsbedingungen noch zu befriedigen sei und wie eine moderne, postnationale Gemeinschaft auszusehen habe, die ein kollektives Bewußtsein zu generieren vermag, ohne daß die im Zuge des Aufklärungsprozesses gewonnene individuelle Autonomie dadurch eingeschränkt würde.

Die Dissertation richtet diese Frage an das literarische Werk Johann Wolfgang Goethes und erkundet, inwieweit insbesondere die Wilhelm Meister-Romane den dialektischen Zusammenhang von gesellschaftlichem Fortschritt und Gemeinschaftszerstörung reflektieren und kommentieren und inwieweit sie literarische Entwürfe kollektiver Identität beinhalten, deren Rekonstruktion einen Gemeinschaftsdiskurs zu befruchten vermag, der heute im wesentlichen von interdisziplinären Forschungszweigen wie dem Kommunitarismus und den Cultural Studies bestimmt wird. Die Arbeit möchte zeigen, daß eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft zu diesem Diskurs beitragen kann, indem sie fiktionale Entwicklungsoptionen rekonstruiert, die Vorstellungen einer anderen Moderne beinhalten, einer Moderne, die Formen des Miteinander in das gesellschaftliche Nebeneinander zu integrieren versteht.

Die literarischen Texte Goethes empfehlen sich einer solchen "Entwicklungsforschung" vor allem deshalb, weil sie nicht allein aus der Perspektive eines Künstlers entstanden sind, sondern immer auch aus der eines "Machers", eines politischen Beamten und Regierungsberaters, eines Ökonomen, eines Naturwissenschaftlers, eines Kulturmanagers und einiger anderer. Im Laufe seiner Tätigkeit für das Herzogtum Weimar ist Goethe bemüht, ein gemeinschaftsnahes Politikverständnis zu kultivieren, ein Politikverständnis, dem alles Expansive fremd ist, demzufolge politisches Handeln Handeln auf lokaler Ebene, Handeln innerhalb der Gemeinschaft und für sie ist. Dieser politischen Beschränkung auf das Lokale stellt der Weimarer Autor - der, anders als eine Goethephilologie jahrzehntelang glauben machen wollte, das in Deutschland mit wachsendem Eifer betriebene Streben in Richtung nationaler Einheit, als "Teutschthümlichkeit" und "Vaterländeley" ablehnt - das Konzept einer kulturellen Globalisierung an die Seite, wie es beispielhaft in seiner Vorstellung von einer Weltliteratur zum Ausdruck kommt. Lokale Politik einerseits, interkulturelle Kommunikation auf der persönlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Ebene andererseits, das ist es, was Goethes Denken, Handeln und Schreiben für uns heute so interessant macht. Auf der Basis dieses "Programms" wird ein Modernisierungsprozeß vorstellbar, der das globalgesellschaftliche Nebeneinander stabil positioniert – gleich weit entfernt von einer die kulturelle Diversität zerstörenden Homogenisierung wie von einer ideologischen Überhöhung kultureller Identität, die alles Fremde als feindlich bekämpft.

In den Wilhelm Meister-Romanen experimentiert Goethe auf literarische Weise mit Entwürfen kollektiver Identität, die im Lichte heutiger Erfahrung eine doppelte Fehlentwicklung reflektieren. Aus der Mißachtung des polaren Verhältnisses von Gemeinschaft und Gesellschaft resultiert eine Dynamik, die beide Pole ins Pathologische steigert. Gesellschaft als ein friedliches Nebeneinander heterogener Kulturen entwickelt sich zu einem globalen Ohneeinander von eindimensional auf einen ökonomischen Nutzenbegriff hin homogenisierten Individuen. Gemeinschaft als ein intimes Miteinander entwickelt sich zu einem Gegeneinander aggressiver Kollektivismen, die ihre Mitglieder auf eine konstruierte kollektive Identität verpflichten.

Die Lehrjahre, mit denen sich das erste Kapitel der Dissertation beschäftigt, reflektieren den Beginn dieser Entwicklung und fragen in einer historisch noch offenen Situation, wie denn ein gesellschaftlicher Fortschritt auszusehen habe, der gemeinschaftliche Lebens- und Kommunikationsformen integriert. Für die Wanderjahre ist dieses Rennen bereits gelaufen. Sie diskutieren, wie Gemeinschaft innerhalb einer sich inzwischen mit hoher Beschleunigung - "veloziferisch" (Goethe) - vollziehenden einseitig gesellschaftlichen Modernisierung hergestellt werden könne, ohne die Polarität von Miteinander und Nebeneinander zu einer Seite hin aufzulösen.

Der Beginn der Wanderjahre konfrontiert den Titelhelden als alleinerziehenden Vater mit dem Archetypus traditioneller Familiengemeinschaft und macht ihn auf das Gemeinschaftsdefizit der eigenen Lebenswelt aufmerksam. Zugleich wird er sich bewußt, daß die Option Gemeinschaft das moderne Leben zwar bereichern würde, aufgrund des Mangels an persönlicher Freiheit aber keine Alternative zu diesem Leben darstellte.

Mit diesem Wissen tritt Wilhelm seine Wanderjahre an. Er lernt die rückwärtsgewandte Utopie eines Gemeinschaftsschutzgebietes (Bezirk des Oheims) kennen, beobachtet in der Pädagogischen Provinz einen Versuch, Gesellschaft und Gemeinschaft parallel zu entwickeln – die Gesellschaft durch eine Globalisierung, die das nationalistische Denken überwindet, die Gemeinschaft durch eine Interkulturalität, die den Menschen unterschiedliche kulturelle Identitäten zugesteht und ihnen trotzdem ein gemeinschaftliches Miteinander ermöglicht; er liest Aufzeichnungen aus einer hermetischen Welt reinen Miteinanders (Lenardos Tagebuch), hört ein Märchen vom Scheitern einer interkulturellen Beziehung (Die neue Melusine) und erlebt schließlich, wie zwei Wanderprojekte um geeignete Teilnehmer ringen: das Projekt einer Auswanderung in die Neue Welt steigert ein gesellschaftliches Nebeneinander – zumindest der Tendenz nach – zu einem Ohneeinander; das binneneuropäische Siedlungsprojekt entwickelt ein gemeinschaftliches Miteinander im Inneren zu einer totalitären Kollektivität, nach außen hin zu einem Gegeneinander.

Die Dissertation möchte zeigen, daß die Gemeinschaftsentwürfe, die Goethe in den Romanen entwickelt, auf unterschiedliche Weise die Frage beleuchten, ob Gemeinschaft sich unter modernen Bedingungen anders als autoritär organisieren lasse. Diese Entwürfe können – ohne daß ein einzelner von ihnen die Frage eindeutig beantworten würde oder gar als "Modell" verstanden werden darf – in ihrer Gesamtheit und indem sie sich wechselseitig in Frage stellen, für eine kritische Haltung gegenüber einer Vorstellung von Modernität in Anspruch genommen werden, die meint, in einer globalen Zukunft ohne gemeinschaftliche Lebens- und Kommunikationsformen, ohne kulturelle Identitäten auskommen zu können.