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Arne Eppers 

»Der Untergang von alles«

Eine kritische Bestandsaufnahme des Aufklärungsprojekts

 

»Man spricht viel von Aufklärung, und wünscht mehr Licht. Mein Gott was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben, oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen?«

Georg Christoph Lichtenberg

 

In einem Supermarkt in der Schlange vor einer Kasse unterhalten sich zwei junge Frauen, Ende zwanzig, sportlich, modisch gekleidet, lange bunte Fingernägel. Ihr Gespräch dreht sich um mobiles Internet oder Social Media, um eine offenbar bevorstehende Einschränkung der Funktionalität, ganz genau ist das nicht zu verstehen. Aber irgendetwas haben sie zu beklagen. »Wenn die das machen«, erhebt eine der beiden empört ihre Stimme, »das ist der Untergang von alles.«

Lassen wir einmal die Sorge um die digitale Freiheit und die Bedeutung, die ihr in diesem Gespräch beigemessen wird, beiseite und beschäftigen uns für einen Moment mit der grammatikalischen Abweichung, die einem beim Hören einen Stich versetzt. »Untergang von alles.«

Wer sich heute mit offenen Ohren im öffentlichen Raum bewegt, dem wird das Phänomen nachlassender sprachlicher Kompetenz geläufig sein – und gemeint sind nicht die verzeihlichen Unzulänglichkeiten von Menschen, die Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache lernen, sondern das abnehmende Sprachvermögen von native speakern wie den beiden Frauen im Supermarkt. Dass der Dativ dem Genitiv sein Tod ist, haben wir vor einigen Jahren zähneknirschend zur Kenntnis genommen – und uns vielleicht auch selbst ertappt gefühlt. Aber geht uns jetzt auch der Dativ flöten? Und wäre das so schlimm?

Die Antwort ist ja. Und zwar aus zwei Gründen: zum einen stellt die sprachliche Bildung einen wesentlichen Bestandteil des kulturell verankerten Bildungsideals sowie des institutionell vermittelten Bildungskanons dar, und grammatikalische Mängel bei Erwachsenen zeigen einen Bildungsmangel an. Zum anderen besteht ein Zusammenhang zwischen Sprechen und Denken. Zwar gibt es unter Sprachforschern Streit über das Ausmaß der Abhängigkeit – die Relativisten gehen davon aus, dass das Denken wesentlich vom Wortschatz und der Grammatik der Muttersprache beeinflusst wird, die Universalisten folgen Noam Chomsky in der Vorstellung, dass alle Menschen in einer universellen angeborenen Metasprache denken – einig sind sich die Sprachforscher aber darin, dass die besondere Art des Denkens, die den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, ohne Sprache nicht möglich wäre. Bereits Wilhelm von Humboldt hatte die These formuliert, dass »die Sprache ein nothwendiges Erforderniß zur ersten Erzeugung des Gedankens, und zur fortschreitenden Ausbildung des Geistes« sei.

Nachlassende sprachliche Bildung und erst recht eine Simplifizierung des Sprachsystems selbst geben also durchaus Anlass zur Sorge: es könnte um das Denken schlecht bestellt sein. Komplexe Sachverhalte und Zusammenhänge lassen sich nur mittels komplexer sprachlicher Codes denken, ausdrücken und kritisch hinterfragen. Sprachliche Kompetenz ist der Werkzeugkoffer des Verstandes. Ihn zu benutzen, ist eine zentrale Forderung der Aufklärung: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.« Immanuel Kant steht nicht eben im Ruf, ein leicht verständlicher Autor zu sein, und doch ist er es, der 1784 diese Forderung erhebt und jene knackige Formel prägt, der zufolge Aufklärung »der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« ist. Das Ziel der Aufklärung ist demnach Mündigkeit: Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung – jedes einzelnen Menschen und damit der ganzen Menschheit. Was ihr im Wege stehe, so Kant, sei der fehlende Mut, sich des eigenen Verstandes »ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« Sprache ist eine wesentliche Voraussetzung dafür.

Das ehrgeizige Autonomieprojekt, für das der Königsberger Philosoph die bis heute gebräuchliche Beschreibung liefert, trägt jetzt seit 250 Jahren dazu bei, das menschliche Wohlergehen zu verbessern. Was haben wir diesem Projekt nicht alles zu verdanken: die Überzeugung, dass Konflikte durch Aushandlungsprozesse gelöst werden sollten, durch den friedlichen Austausch von Argumenten, deren Gültigkeit verifizierbar ist; die Überzeugung, dass eine Gemeinschaft über die Regeln ihres Zusammenlebens in einem öffentlichen Diskurs bestimmen sollte und dass Bildung die beste Voraussetzung für die Teilnahme an diesem Diskurs ist; die Überzeugung, dass nicht Mythen, heilige Schriften und Traditionen Grundlage unseres Wissens und Handelns sein sollten, sondern Erkenntnisse, die einer kritischen Überprüfung standhalten.

Die von Europa ausgehende Aufklärung hat eine enorme Wirkungsmacht entfaltet und die Welt verändert. Vieles, was heute in einem globalen Ausmaß Anerkennung findet, der moderne Staat, die allgemeinen Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit, basiert auf Vorstellungen der Aufklärung, die die Welt zu einer modernen gemacht haben.

Heute wird bei der Beschäftigung mit der Aufklärung in der Regel zwischen einer historischen und einer programmatischen Dimension unterschieden: die Epoche der Aufklärung, manchmal wegen ihrer ideengeschichtlichen Wiederanknüpfung an die Philosophie der griechischen Antike auch als Zweite Aufklärung bezeichnet, umfasst einen Zeitraum etwa von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In dieser Epoche wurden in Europa und Nordamerika in einer Auseinandersetzung mit dem politischen, sozialen und religiösen Status Quo die Grundideen und wesentlichen Denkfiguren der Aufklärung entwickelt. Dass sie nicht unmittelbar und überall auf Zustimmung stießen, bringt besonders pointiert und humorvoll der Erzähler in Patrick Süskinds Roman Das Parfum zum Ausdruck: »Nichts mehr soll stimmen, alles soll jetzt plötzlich anders sein. In einem Glas Wasser sollen neuerdings ganz kleine Tierchen schwimmen, die man früher nicht gesehen hat; die Syphilis soll eine ganz normale Krankheit sein und keine Strafe Gottes mehr; Gott soll die Welt nicht an sieben Tagen erschaffen haben, sondern in Jahrmillionen, wenn er es überhaupt war; die Wilden sind Menschen wie wir; unsere Kinder erziehen wir falsch; und die Erde ist nicht mehr rund wie bisher, sondern oben und unten platt wie eine Melone – als ob es darauf ankäme! In jedem Bereich wird gefragt und gebohrt und geforscht und geschnüffelt und herumexperimentiert. Es genügt nicht mehr, dass man sagt, was ist und wie es ist – es muss jetzt alles noch bewiesen werden, am besten mit Zeugen und Zahlen und irgendwelchen lächerlichen Versuchen.« Nicht nur in der fiktiven Welt der Pariser Parfumeure, sondern auch in der historischen Wirklichkeit breitete sich die Aufklärung im 18. Jahrhundert unaufhaltsam aus.

Über die Epochenbezeichnung hinaus wird der Begriff Aufklärung aber auch weiterhin im Sinne Kants als Bezeichnung für eine positive Utopie, ein unabgeschlossenes – und unabschließbares – Projekt verwendet, das die Ziele der Aufklärung in Prozessen der Säkularisierung, Individualisierung und Modernisierung operationalisieren und ihnen universelle Geltung verschaffen will.

Lange Zeit sah es gut aus mit dem Projekt, es entwickelte sich und breitete sich aus. Auf konzeptioneller Ebene vollzog sich eine Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung durch Selbstkorrektur: die Romantik hat mit einigem Spektakel auf die Existenz und Bedeutung des Irrationalen aufmerksam gemacht, und nachdem die Kritische Theorie den Herrschaftsanspruch der Vernunft als Problem identifizierte und eine Aufklärung der Aufklärung betrieb, löste sich das Projekt von einem ausschließlich rationalistischen Vernunftbegriff. Es bildete sich eine alle Facetten des Menschlichen integrierende Vorstellung von Aufklärung, die seitdem auch das Andere der Vernunft (Gernot Böhme) einbezieht. Geographisch dehnte es sich ins Globale aus: in vielen Gebieten der Erde wurde vieles erreicht. Autoritäre Regimes, die Aufklärung durch Abschottung verhindern wollten, manövrierten sich ins antihumane Abseits, wurden und werden aber nicht aufgegeben, sondern weiterhin beharrlich mit den Erfolgen der Aufklärung konfrontiert, um sie doch für das Projekt zu gewinnen. Gerade aus dem kontinuierlichen Vorleben gewann die integrierende Idee der Aufklärung ihre Überzeugungskraft. Eine globale und universelle Durchsetzung schien erreichbar, ein »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) möglich. Und in der historischen Gesamtschau, wie beispielsweise Steven Pinker sie vor kurzem anhand einer detailreichen Datenauswertung unternommen hat, zeigen sich in der Tat beeindruckende Resultate: »In jedem einzelnen Maß für menschliches Wohlergehen hat die Welt spektakuläre Fortschritte erzielt«, bilanziert der Harvard-Psychologe. Die »wissenschaftliche Revolution und die Aufklärung haben den Prozess in Gang gesetzt, Wissen zur Verbesserung des menschlichen Befindens zu nutzen«.

Doch wie steht es heute um die Aufklärung? Sind wir noch mit dem gleichen Eifer bei der Sache, mit dem unsere Vorfahren diese historischen Fortschritte herbeigeführt haben? Oder erlahmt die Bereitschaft, die Mühen der Aufklärung auf sich zu nehmen, mit der wachsenden Zufriedenheit über das Erreichte? Bilden vielleicht nicht mehr die dunklen Ecken, die vom Licht der Aufklärung noch nicht ausgeleuchtet wurden, die größte Herausforderung für ihre weitere Ausbreitung? Besteht diese Herausforderung vielmehr darin, dass das Feuer allmählich erlischt? Könnte die Aufklärung an geistiger Antriebslosigkeit scheitern?

Um diese Fragen beantworten zu können, bedarf es eines Blicks auf den gegenwärtigen Projektstatus in jenem Teil der Welt – der sich selbst der westliche nennt –, in dem das Feuer der Aufklärung entfacht wurde und von dem die Impulse für seine Verbreitung seitdem ausgehen. Welches sind die wesentlichen Errungenschaften der Aufklärung und wo sind aktuell Anzeichen für ein Nachlassen der Kräfte zu erkennen? – Eine kritische Bestandsaufnahme in fünf Projektfeldern.

Bildung. Das programmatische Ziel der Aufklärung ist Mündigkeit. Dieses Ziel verfolgt sie jetzt über etwa acht Generationen, doch beginnt der Prozess mit jedem neu geborenen Menschen von vorn. Daher ist individuelle Bildung der Königsweg der Aufklärung. Dem Bildungsideal liegt die Vorstellung zugrunde, dass nicht Experten, sondern gebildete Bürger als Träger aufgeklärter Gesellschaften fungieren und als kompetente Teilnehmer an einem öffentlichen Diskurs die Entwicklung des Gemeinwohls mitgestalten. Gilt das noch? Ohne Frage ist das Wissen der Welt heute größer als je zuvor, aber kollektives Wissen ist etwas anderes als individuelle Bildung. Ist das Selbstverständnis, dass Bildung für jeden einzelnen der sicherste Weg zu persönlichem Glück ist, noch handlungsleitend? Warum steigen die öffentlichen Ausgaben für Eliteförderung, aber wir lassen die Grundschulen verfallen? Warum wollen junge Menschen heute nicht mehr Medizin studieren, sondern Model oder Influencer werden? Warum wenden Menschen für einen durchtrainierten, jugendlich-straffen Körper, für Fitnessstudios, Sportlernahrung und plastische Chirurgen mehr Energie, Zeit und Geld auf als für einen gebildeten Geist? Der einstmals gute Ruf persönlicher Bildung ist schwer beschädigt. Schulpflicht. Längst wird Bildung nicht mehr durch Neugier angetrieben, sondern reduziert auf Aus-Bildung, eine auf Abschlüsse, auf die Erhöhung individueller Karriere- und Erfolgschancen ausgerichtete Anstrengung, die Bildungsinhalte eher als lästige Hindernisse betrachtet. Lebenslauf statt Bildungsroman. Es ähnelt der Frage nach dem Huhn und dem Ei, ob die Anpassung von Bildungsinhalten an Marktbedürfnisse und die Verwandlung von Bildungsstätten in Ausbildungsinstitute für Bedarfe der Wirtschaft Ursache oder Folge dieser Veränderung sind.

Und noch weitere bedenkliche Entwicklungen gehören in den Symptomkatalog für eine Schwächung des Bildungsideals: nachlassende sprachliche Bildung – »der Untergang von alles« – ist ein ernstes Problem. Für das Bildungsideal der Aufklärung ist es von zentraler Bedeutung, auch komplexe und abstrakte Zusammenhänge denken und darstellen zu können. Mit rudimentärer Grammatik und Emojis ist das nicht zu bewerkstelligen. Es muss nicht ein Wortschatz von achtzigtausend Wörtern sein, wie er etwa Goethe und Thomas Mann zugeschrieben wird, aber die 100-200 Wörter, mit denen heute üblicherweise in Chatrooms kommuniziert wird, genügen für einen differenzierten Informationsaustausch sicher nicht (der Text, den Sie gerade lesen, beinhaltet etwa 1500 verschiedene Wörter). Auch um den Bildungsauftrag der Medien, eine kluge Errungenschaft der Aufklärung, steht es nicht zum Besten. Er wird heute geradezu boulevardesk interpretiert – und das in einer Zeit, in der die Pegel der Informationsflut täglich neue Höchststände erreichen und die journalistische Analyse- und Filterfunktion so wichtig wäre. Es dient der Aufklärung nicht, wenn die Zahl medialer Informationsquellen stetig anwächst, aber alle diese Quellen, selbst öffentlich-rechtliche von royalen Hochzeiten berichten. Im Gegenteil: die Folge ist Verdummung. Schulausflüge führen nicht mehr an Orte kultureller und historischer Bedeutung, sondern zu Hot Spots der Freizeitindustrie. An Universitäten gilt die Lehre in bachelorisierten Studiengängen als unschöne Pflichtaufgabe und Ablenkung von der Forschungsarbeit. Bildung ist offenbar nicht mehr sexy.

Wissenschaft. Das Projekt der Aufklärung hat der Wissenschaft eine beispiellose Karriere beschert und sie zur Leitkultur der Moderne gemacht. Ihre Grundlage ist ein kritisches Wissenssystem, wie es sich ausgehend von Rationalismus (René Descartes) und Empirismus (John Locke) seit dem 17. Jahrhundert entwickelt hat. Aufklärung vertritt und verbreitet die Überzeugung, dass Handeln sich an einem Wissen zu orientieren habe, das diesem System folgt: es muss belegbar, intersubjektiv nachvollziehbar, widerspruchsfrei und plausibel sein und es muss einer kritischen Überprüfung standhalten. Diese Überzeugung setzte sich in der von Kant als »Zeitalter der Kritik« bezeichneten Epoche der Aufklärung endgültig durch, hat zur Freiheit von Lehre und Forschung geführt und sich zu einem global organisierten öffentlichen Diskurs über wissenschaftliches Wissen fortentwickelt. Friedrich Schiller hat diese Überzeugung in seiner Antrittsvorlesung in die rhetorische Frage gekleidet: Was »hat der Mensch dem Menschen Größeres zu geben als Wahrheit?« Und die Überzeugung gilt bis heute. Oder?

Historisch betrachtet war die Auseinandersetzung um eine Anerkennung wissenschaftlichen Wissens als handlungsleitende Kategorie immer eingebettet in Machtdiskurse. Wissenschaft musste sich durchsetzen gegen die Macht von Traditionen, Religionen, politischen und wirtschaftlichen Interessen, und in der Langfristperspektive ist ihr dies gelungen. Auf besondere Weise sichtbar wird dieser Durchsetzungsprozess in den Naturwissenschaften, die die Gültigkeit des von ihnen produzierten Wissens jahrhundertelang gegen mächtige Widerstände erkämpfen mussten. Das Projekt der Aufklärung hat dem wissenschaftlichen Wissen zum Durchbruch verholfen, und heute bestimmen die von den Naturwissenschaften bereitgestellten Erkenntnisse über natürliche Prozesse und Zusammenhänge unser Bild der Natur. Dies hat zu einem Wandel des Naturverständnisses geführt: Natur gilt nicht länger als ein für den Menschen bedrohliches Äußeres, das er beherrschen muss, um zu überleben, und möglichst effizient ausbeuten will, um gut zu leben, sondern als ein komplexes System kausaler Zusammenhänge, das als einzig möglicher Lebensraum des Menschen geschützt und erhalten werden muss.

Aus diesem, von der Aufklärung veränderten Naturverständnis resultiert ein Paradigmenwechsel im Umgang mit der Natur. Maßgeblich für die Nutzung natürlicher Ressourcen ist nicht mehr deren aktuelle Verfügbarkeit, sondern der Erhalt ihrer dauerhaften Verfügbarkeit. Naturschutz auf der Basis wissenschaftlichen Wissens ist eine Errungenschaft des Aufklärungsprojekts. Dass dieses Paradigma sich global durchgesetzt und allgemeine Gültigkeit erlangt hat, zeigte sich zuletzt prominent am Beispiel des Pariser Klimaabkommens von 2015. In ihm manifestiert sich die Anerkennung wissenschaftlichen Wissens über vom Menschen verursachte Klimaveränderungen, und als Folge dieser Anerkennung wurden global gültige Handlungsanpassungen vereinbart.

Für das Projekt der Aufklärung stellt es jedoch ein Problem dar, wenn mit den USA ausgerechnet einer der Hauptakteure aufklärerischen Denkens die Gültigkeit wissenschaftlichen Wissens in dieser Frage leugnet und nachträglich seinen Austritt aus dem Abkommen erklärt. Die Machtfrage stellt sich also auch heute noch. Das zeigt sich, wenn, wie in diesem Fall, kurzfristige ökonomische Vorteile über langfristige, auf wissenschaftliches Wissen gegründete gestellt werden. Es zeigt sich aber auch, wenn etwa Kreationisten aus religiösem Eifer die Evolution „ablehnen“ oder wenn aus politischem Kalkül eine Welt alternativer Fakten konstruiert wird.

Dass all dies in einem der mächtigsten Länder der Welt und einer der Aufklärung verpflichteten Gesellschaft geschieht, ist realhistorisch zweifellos bedrohlich. Für das Projekt der Aufklärung selbst wäre es dies aber erst, wenn das Ausscheren aus dem anerkannten System wissenschaftlichen Wissens eine akzeptierte Handlungsoption darstellen und Nachahmer finden würde. Dafür gibt es derzeit in der westlichen Welt wenig Anzeichen. Vielmehr zeigen die Reaktionen auf dieses Ausscheren – ob sie aus Kopfschütteln und Belächeln, aus heftigem Widerstand im Inneren oder aus diplomatisch verklausuliertem Widerstand von außen bestehen –, dass das wissenschaftliche Wissen als Maßstab für das Denken und Handeln nach wie vor Gültigkeit besitzt. Fraglich ist allerdings, ob das auch zukünftig so bleibt, wenn die individuelle Bildungsbereitschaft sinkt und kritisches Hinterfragen zu einer Angelegenheit von Experten wird.

Glaube. Die Aufklärung hatte es von Beginn an mit mächtigen Gegnern zu tun. Der vielleicht mächtigste von ihnen war der religiöse Glaube, repräsentiert und energisch verteidigt von einflussreichen männlichen Funktionären jahrhundertealter Religionsgemeinschaften. Zwischen Religionssystemen und dem Projekt der Aufklärung musste es zu Auseinandersetzungen kommen, weil Religionen Handlungsvorschriften und -empfehlungen liefern, die aus mythischen Erzählungen und Zusammenhängen gewonnen sind, denen das sich verbreitende wissenschaftliche Wissen nach und nach den Möglichkeitssinn entzogen hat. Mit dem Erfolg des Aufklärungsprojekts verlor religiöser Glaube seine Macht, denn Glaube konkurriert mit Wissen um Deutungshoheit. Er lieferte Erklärungen für das, was die Menschen sich nicht erklären konnten. Doch dieses Unerklärliche ist durch Aufklärung quantitativ geschrumpft und zeitlich in immer weitere Ferne gerückt worden. Heute sind wir in der Lage, die Entwicklung des Weltalls vom Urknall an (bzw. kurz danach) zu erklären. Glaube ist dafür nicht mehr notwendig. Zwar ist eine Koexistenz von Religion und Aufklärung nach wie vor möglich – denn auch wenn die Kausalitätskette des Wissens immer länger wird, lässt sich ein vor aller Kausalität liegender Ursprung mit der Logik der Aufklärung nicht einmal denken –, doch im Diesseits, im Reich der wahrnehmbaren Phänomene ist die Welt weitgehend entzaubert.

Religiösen Handlungsorientierungen ist durch die Aufklärung der Begründungszusammenhang abhandengekommen. Das macht sie aber nicht gleich nutzlos. Was die Aufklärung lernen musste und gelernt hat, ist, dass der einzelne Mensch als Naturwesen nicht ausschließlich rational handelt und handeln kann. Angesichts der Vielzahl von Entscheidungen, die er täglich treffen muss, bedarf es eines Regelwerks, das ihn auch unbewusst durch Entscheidungsprozesse zu manövrieren vermag. Menschen brauchen ethische Grundsätze. Diese müssen nicht religiös sein, aber sie können. Selbstverständlich müssen sich diese ethischen Grundsätze im Einklang mit den von der Aufklärung durchgesetzten Prinzipien (Pluralität, Gleichberechtigung, individuelle Freiheit) befinden. Ist dies nicht oder nur eingeschränkt der Fall, sind sie für Gesellschaften, die sich zu den Zielen der Aufklärung bekennen, ungeeignet. Aktuell stellt sich dieses Problem in einigen Kernländern aufklärerischen Denkens, weil durch Migrationsbewegungen aus islamischen Ländern, insbesondere durch den politischen Islam Handlungsorientierungen „einwandern“ und Geltung beanspruchen, die im Widerspruch zu diesen Zielen stehen. Dieses Problem wird sich zukünftig, möglicherweise im Verlauf dieser und der nächsten Generation, verschärfen und vielleicht sogar den Frieden gefährden. Aber das Projekt der Aufklärung hat in der Auseinandersetzung mit dem Christentum gezeigt, dass es über einen langen Atem verfügt.

Freiheit. Das Ziel der Aufklärung sind selbst denkende, mündige Bürger, die sich an der Gestaltung des Gemeinwesens beteiligen. Mündigkeit setzt Freiheit voraus. Daher stand die Forderung nach individueller Freiheit von Beginn an im Mittelpunkt der Aufklärung. Und Dokumente, die diese Freiheit garantieren, bilden Meilensteine des Projekts, von der English Bill of Rights (1689) bis zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948). Als die politische Institution, die am besten geeignet ist, Gesellschaften freier Individuen zu organisieren, hat sich die liberale Demokratie entwickelt und global verbreitet. Sie basiert auf Gewaltenteilung, Recht auf Eigentum, Rechtsgleichheit und einer demokratischen Ordnung gleich gewichteter Stimmenanteile, die das Individuum zum souveränen Staatsbürger machen. Etwa zwei Drittel aller Länder haben ihr gesellschaftliches Miteinander inzwischen auf diese Weise organisiert. Eigentlich also kein Grund zur Sorge. Oder?

Doch. Denn in vielen liberalen Demokratien sind bedenkliche Entwicklungen zu beobachten, die die individuelle Freiheit der Bürger einschränken. Dies geschieht simultan auf verschiedenen Ebenen: wenn Macht missbraucht wird, um Menschen in ihren Rechten einzuschränken, widerspricht dies dem Geist der Aufklärung. Dies ist etwa der Fall, wenn sich staatliche Macht gegen Personen richtet, die friedlich für eine politische Position demonstrieren, deren sexuelle Orientierung nicht traditionellen Vorstellungen entspricht oder denen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Kultur oder Religion die gesellschaftliche Kompatibilität abgesprochen wird und eine Einschränkung ihrer Rechte droht. Und es ist ebenso der Fall, wenn männliche Macht missbraucht wird, um Frauen zu diskriminieren, strukturell durch Ungleichbehandlung oder sexuell durch Belästigung und Gewalt.

Wenn die Arbeit der Presse behindert, diskreditiert oder kontrolliert wird – man denke an den Umgang der Trump Administration mit kritischen Journalisten, die Versuche einer „Repolisierung“ der polnischen Medien oder die verbalen Attacken von österreichischen Regierungspolitikern gegen Fernsehmoderatoren –, dann ist der freie Zugang zu Informationen nicht mehr so frei, wie es vom Projekt der Aufklärung gefordert wird. Wenn die Unabhängigkeit der Jurisdiktion von der Legislative eingeschränkt wird, dann verletzt dies das Prinzip der Gewaltenteilung, das die individuelle Freiheit schützen soll. Wenn Wahlen manipuliert oder Wähler durch viral verbreitete Täuschungsmanöver und Falschinformationen in die Irre geführt werden, stellt dies einen perfiden Versuch dar, deren Mündigkeit zu untergraben und Aufklärung zu verhindern. Ebenso verhält es sich, wenn Straflager in rechstfreien Räumen außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets eingerichtet werden oder die Produktion von Verbrauchsgütern in Länder ausgelagert wird, in denen individuelle Freiheit von Arbeitnehmern nicht zu den Produktionsbedingungen gehört – Ausweichmanöver in Nischen, die vom Licht der Aufklärung nicht beschienen werden. Und schließlich gehört auch die Renaissance des Nationalen zu den besorgniserregenden Tendenzen, die das Projekt der Aufklärung behindern. Sah es eine Zeitlang noch so aus, als könne die Globalisierung den Nationalismus überwinden, so werden gegenwärtig wieder vielfach nationale Interessen als Argument für eine Aufkündigung internationaler Zusammenarbeit und eine Einschränkung individueller Freiheit angeführt. Immer wenn heute Menschen an Grenzen abgewiesen werden, wenn von America first oder einer Festung Europa die Rede ist, wirft dies das Projekt der Aufklärung, dessen wichtigste Errungenschaft die individuelle Freiheit ist, erheblich zurück.

Zu den Strukturentwicklungen, die die individuelle Freiheit gefährden, gehört auch der im Kontext der Globalisierung entstandene ökonomische Fundamentalismus. Dadurch, dass nicht mehr freie Menschen den Markt, sondern ein ungezügelter Markt die Menschen beherrscht, hat sich eine neue Form der Unmündigkeit entwickelt. In liberalen Demokratien werden politische Repräsentanten gewählt, um den Wählerwillen in politisches Handeln zu transformieren, indem sie Gesetze beraten und beschließen. Es höhlt die staatsbürgerliche Souveränität freier Individuen jedoch aus, wenn Entscheidungen nur noch innerhalb eines Korridors getroffen werden, der von einer globalen Ökonomie vorgegeben wird, der es nicht um eine Verbesserung der Lebensqualität, sondern um Umsatzrenditen und Gewinnmaximierung geht. In liberalen Demokratien ist es nicht mehr der böse Despot, der die Freiheit bedroht. Es sind komplexe Machtstrukturen, zu deren Existenz wir Individuen selbst beitragen – entweder als Profiteure oder durch Passivität, oft durch eine Mischung aus beidem.

Vernunft. Menschen sind keine vernünftigen Lebewesen. Aber sie sind vernunftbegabt, und die Aufklärung fordert dazu auf, diese Begabung zu nutzen und vernünftig zu handeln. Der Maßstab dafür ist die von Kant als Kategorischer Imperativ bezeichnete soziale Tauglichkeit des Handelns – ein Anspruch, der vom Individuum allerdings nicht konsequent zu erfüllen ist: zum einen, weil seine Voraussetzung ein bewusstes Abwägen ist, das sich angesichts der Vielzahl von Handlungen nicht durchgängig realisieren lässt, zum anderen, weil er mit anderen Ansprüchen konkurriert, die aus der Naturgebundenheit des Menschen resultieren. Körper lassen sich nicht aufklären. In Individuen mischen sich daher vernünftige und nicht vernünftige Verhaltensweisen, die Banalität unseres Alltags ist voll davon.

Wenn es jedoch um bewusstes kollektives Handeln, wie etwa die Vereinbarung von Regeln, Gesetzen und Abkommen geht, dann gibt es aus Sicht der Aufklärung keinen Grund, Konzessionen an diese menschliche „Schwäche“ zu machen. Denn die Kooperationsfähigkeit des Menschen, die Kombination von Sozialität und Vernunftbegabung sorgt dafür, dass Gruppen in der Lage sind, abgestimmt vernünftig zu handeln. Was nicht heißt, dass sie es immer tun. Die furchtbaren Katastrophen, die von Menschen in den letzten beiden Jahrhunderten verursacht wurden, stellen gerade im Licht der Aufklärung ein schreckliches Versagen dar. Dennoch: in der diskursiven Herstellung kollektiven Vernunfthandelns liegt eine der größten Stärken des Aufklärungsprojekts, das sich aus diesem Grund zu einem überaus erfolgreichen Friedensprojekt entwickelt hat. Es widerspricht dem Programm der Aufklärung, Konflikte anders als durch den Austausch von Argumenten zu lösen. Und sie verlangt Rahmenbedingungen, die allen Beteiligten die Möglichkeit einräumen, gleichberechtigt an diesem Austausch teilzunehmen. Dies gilt nicht nur im Inneren von Gemeinschaften, sondern auch für das Beziehungsgeflecht von Staaten. Das moderne Völkerrecht ist ein Ergebnis der Aufklärung. Kant hat in seiner Schrift Zum ewigen Frieden einen Weltfriedensvertrag entworfen, der zugleich ein großartiges Manifest kollektiver Vernunft ist. Frieden ist vernünftig.

Diese besondere Qualität der Aufklärung droht jedoch immer dann verloren zu gehen, wenn Gruppen unter den Einfluss autoritärer Führer geraten und in den Zustand selbstverschuldeter Unmündigkeit zurückfallen. »Es ist so bequem, unmündig zu sein«, warnt Kant. Selbst liberale Demokratien sind nicht gefeit gegen solche Rückfälle in die Bequemlichkeit, in ihnen kann man sie buchstäblich wählen. Die USA, Russland, Ungarn oder Italien sind traurige Beispiele unserer Gegenwart. Autoritäre Herrschaft ist nicht durch kollektive Vernunft abgesichert und insbesondere deswegen fehleranfällig, weil sie die Perspektive derjenigen, die unter Fehlern gegebenenfalls zu leiden haben, nicht berücksichtigen muss. Sie ist in mehr als einer Hinsicht unaufgeklärt.

*

Fridays for Future? Angesichts einer Projektlaufzeit von 250 Jahren stellt ein Blick auf die Gegenwart zweifellos nicht mehr als eine Momentaufnahme dar. Doch die gibt Anlass zur Sorge: der Antrieb zu individueller Bildung rührt nicht mehr von dem Willen, die Welt kritisch zu hinterfragen und diskursiv mitzugestalten. Bildung wird zu einem instrumentalisierten Faktor beruflichen und ökonomischen Erfolgs. Das allgemeine Bildungsniveau gerät dadurch in einen immer größeren Rückstand zum institutionell produzierten wissenschaftlichen Wissen. Wir verwandeln uns in »gläubige Mitwisser von Dingen, die wir nicht wirklich verstehen« (Rüdiger Safranski), geraten in eine neue Abhängigkeit und in Gefahr, Falsches als richtig zu akzeptieren. Religiöser Glaube birgt, wenn er aufklärungsfeindliche Handlungsorientierungen verbreitet, nach wie vor ein großes Risiko und schafft dunkle Parallelwelten. Individuelle Freiheit, die nicht aktiv genutzt und eingefordert wird, verkümmert. Desinteresse und Passivität bilden den Nährboden für die Restaurierung oder Neubildung autoritärer Strukturen. Und ein Rückgang der Bereitschaft, soziale Tauglichkeit zum Kriterium vernünftigen Handelns zu machen, sei es von Individuen, sei es von Staaten, führt zur Ausbreitung von Egoismen und schürt Konflikte.

Zu pessimistisch? Was würden die beiden Frauen an der Kasse dazu sagen? Untergang von alles? Oder ist Sisyphus nur einmal wieder mit seinem Stein am Fuß des Berges angekommen, und es steht eine neue Aufwärtsphase bevor? Zweifellos gibt es Entwicklungen, die Hoffnung machen. Ziviler Ungehorsam junger Menschen, die die Schule schwänzen und für den Erhalt unseres natürlichen Lebensraums demonstrieren; neues Konsumbewusstsein, Fair Trade, Repair Cafés und Widerstand gegen Massentierhaltung; bürgerschaftliches Engagement für soziale Gerechtigkeit und Protest gegen Rechtsextremismus. Alles Beispiele mündiger Menschen, die im Sinne der Aufklärung handeln. Unsicher ist jedoch, ob diese Beispiele Breitenwirkung entfalten oder es sich um das Eintreten aufklärerischer Eliten für das Richtige handelt, das an einer trägen Masse scheitert, die das Einfache bevorzugt. Aufklärung bedeutet in der Regel Unbequemlichkeit und Anstrengung, und das ist heute offenbar nicht mehr für jeden etwas. Nach wie vor gilt es, die Leitfrage zu beantworten, die der Berliner Literaturwissenschaftler Steffen Martus in seinem Porträt der Aufklärungsepoche stellt: »Wie klärt man die Menschen so auf, dass sie aufgeklärt sein wollen?« Solange es dafür ein man braucht, ist das »Joch der Unmündigkeit« (Kant) nicht abgeworfen und das Projekt der Aufklärung bleibt unvollendet. Solange es ein man oder frau gibt, ist die Sache aber auch nicht aussichtlos.