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Arne Eppers

 

Warum Löwen keine Hörner haben

Goethes Vorstellungen über die Grenzen des Wachstums

 

»O wherefore, Nature, didst thou lions frame?«

William Shakespeare

 

»Abends zu Schiller, über die Möglichkeit einer Darstellung der Naturlehre durch einen Poeten«,[1] notiert Goethe unter dem Datum des 18. Juni 1798 in seinem Tagebuch. Vier Jahre ist es her, dass er und Schiller sich am Rande einer Sitzung der Naturforschenden Gesellschaft in Jena kennengelernt und ein Gespräch begonnen haben – über »Kunst- und Kunsttheorie«[2], wie Schiller findet, über Naturwissenschaft, wie Goethe sich später erinnern wird. Ihre Berichte über das erste Zusammentreffen, in dessen Mittelpunkt Goethes »mit manchen charakteristischen Federstrichen«[3] gezeichnete Urpflanze steht, wurden von einer modern disziplinierten Wissenschaft als widersprüchlich deklariert. Das hat mit einer im Gefolge Immanuel Kants sich durchsetzenden Forschungsideologie zu tun, nach der die Erkundung der Natur nur insofern eine wissenschaftliche sei, als sie sich in der Sprache der Mathematik auszudrücken vermöge. Aus Sicht dieser Ideologie ist Goethes Urpflanze unwissenschaftlich.

Friedrich Schiller, bestens vertraut mit den Schriften des Königsberger Philosophieprofessors, scheint demzufolge mit seiner Klassifizierung der Gesprächssituation richtig zu liegen, impliziert sie doch bereits jene Trennung von Naturwissenschaft und Ästhetik, die heute zu den weithin akzeptierten Grundlagen wissenschaftlicher Weltaneignung gehört. Auch fährt er Goethe damals sogleich mit methodischer Strenge in die Parade, als dieser ihm seine Überlegungen zur Metamorphose der Pflanzen vorträgt: bei einer Urpflanze, so Schillers Einwand, könne es sich nicht um eine Erfahrung handeln, sondern allenfalls um eine Idee, will sagen nicht um ein empirisch nachweisbares Phänomen, sondern um eine heuristische Konstruktion, ein Kunstprodukt, abgeleitet aus der Beobachtung der Natur.

Ob Goethe, dem die Urpflanze als reales Gewächs zu dieser Zeit selbst längst historisch geworden war, dann wirklich eine Verstimmung riskiert und er zu Schiller sagt, es könne ihm ja »sehr lieb sein, dass ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe«,[4] oder ob er sein Glückliches Ereignis in der Retrospektive literarisch etwas aufpeppt, bleibt eine offene Frage. Bekanntlich geht die Geschichte gut aus und beschert der deutschen Literatur eine Klassik.

Goethe läßt sich weder von Schillers Kantianismus noch von der aus ihrer Zusammenarbeit wieder gewonnenen künstlerischen Produktivität davon abhalten, seine naturwissenschaftlichen Studien fortzusetzen und den Klassikkollegen gelegentlich mit den Resultaten zu konfrontieren. Ein Blick auf Goethes Schaffen nach seiner Rückkehr aus Italien macht deutlich, dass man das zweite Weimarer Jahrzehnt mit einiger Berechtigung als das naturwissenschaftliche Jahrzehnt bezeichnen kann. Goethe beschäftigt sich zwischen 1788 und 1799 intensiver und produktiver als je zuvor mit Botanik, Vergleichender Anatomie, Geologie, Magnetismus, Optik, und er verfasst eine Reihe von Schriften, die, wenn nicht unmittelbar selbständig veröffentlicht, Vorarbeiten für Späteres bilden. Und immer dann, wenn es ihm um den Zusammenhang von Naturwissenschaft und Ästhetik geht, knüpft Goethe an das Glückliche Ereignis an. So auch an jenem Junitag des Jahres 1798: »Abends zu Schiller, über die Möglichkeit einer Darstellung der Naturlehre durch einen Poeten.«

 

Wieder in Jena. Das Haus ist ein anderes – Schiller war in der Zwischenzeit in ein Gartenhaus vor die Tore der Stadt gezogen –, das Thema das gleiche: Metamorphose der Pflanzen. Das, was Goethe vier Jahre zuvor gesprächsweise improvisiert und mit der Feder skizziert hatte, präsentiert er nun in eine lyrische Form gekleidet: als Gedicht an eine Geliebte, die in ein »geheimes Gesetz«, ein »heiliges Rätsel« eingeweiht wird – in den Bauplan der Pflanze, die sich, »stufenweise geführt, bildet zu Blüte und Frucht«.[5]

Goethes Gedicht beschreibt kunstvoll und systematisch das, was er in seiner morphologischen Begriffsbildung als regelmäßige Metamorphose bezeichnet, gewissermaßen den Normalfall einer einjährigen Pflanze, an deren Beispiel das Gedicht »den Ring der ewigen Kräfte«[6] der Natur veranschaulicht, vom Samen über Triebe, Stängel und Blätter bis zu den Blüten und Früchten.

Es ist bekannt, dass Die Metamorphose der Pflanzen in Schillers Musen-Almanach auf das Jahr 1799 erscheint, wie dieser sich allerdings an jenem Juniabend in der Frage einer »Darstellung der Naturlehre durch einen Poeten« positioniert, ist nicht überliefert. Im Sommer 1798 ist Goethe häufig Gast im Hause Schillers. Was zu besprechen ist, wird besprochen – und eben nicht geschrieben. Die Briefe aus dieser Zeit gehen nur selten auf Details ihrer literarischen Produktionen ein, bewegen sich eher auf einer organisatorischen Ebene. Daher lässt sich auch nicht sagen, ob Goethe nicht noch über ein weiteres Lehrgedicht mit Schiller spricht bzw. den Plan dazu erwähnt, sein Entstehen ankündigt oder Teile schon vorliest. Das Gedicht trägt den Titel AQROISMOS (Athroismos) und lädt dazu ein, den »freien Blick ins weite Feld der Natur« zu richten und »das höchste Gesetz« jener »Göttin«[7] in seiner doppelten Ausrichtung zu betrachten: Expansion und Beschränkung. Geht es in der Metamorphose der Pflanzen um das stufenweise Wachstum im Reich der Botanik, so macht dieses Gedicht – das Goethe in der Ausgabe letzter Hand unter dem Titel Metamorphose der Tiere an die Seite des ersten stellt – auf die Polarität der Kräfte bei der Entwicklung tierischer Lebewesen aufmerksam.

 

Die Goetheforschung hat diesem Gedicht nicht annährend die gleiche Aufmerksamkeit zuteil werden lassen wie jenem über die Metamorphose der Pflanzen, das einen zusätzlichen Reiz daraus gewinnt, dass es zugleich Natur- und Liebesgedicht ist. Athroismos ist kein Liebesgedicht. Es ist ein Lehrgedicht, in dem Goethe die Fäden seines naturwissenschaftlichen Denkens, seiner Haltung gegenüber der Natur, seines Umgangs mit ihr sowie seiner Bereitschaft, von ihr zu lernen und das Gelernte auf andere Bereiche des Lebens zu übertragen, auf poetische Weise miteinander verknüpft. Das wird nirgends so deutlich wie an seinen Vorstellungen über die Grenzen des Wachstums, die er in diesen literarischen Text in pointierter Weise einarbeitet. Der vorliegende Aufsatz will Goethes Vorstellungen rekonstruieren und auf deren Aktualität im Zusammenhang mit gegenwärtig geführten Debatten über ökonomisches Wachstum und dessen ökologische Folgen aufmerksam machen. Im Mittelpunkt steht dabei das Athroismos-Gedicht. Dessen Auslegung organisiert diesen Aufsatz und bezieht Goethes Schriften zur Vergleichenden Anatomie sowie Briefe und Gesprächsaufzeichnungen in die Analyse mit ein.

 

Der Produktionsprozess des Athroismos-Gedichts lässt sich nicht rekonstruieren, einiges spricht für eine Entstehung im Sommer oder Herbst 1798, und angesichts der literarischen Vertrautheit und Intensität der Zusammenarbeit zwischen Goethe und Schiller wird man annehmen dürfen, dass auch dieses Gedicht bei einer ihrer Zusammenkünfte zur Sprache kommt. Belege dafür gibt es nicht. Indizien für eine mögliche Datierung finden sich in Briefen, die Goethe mit einem anderen Gesprächspartner in naturwissenschaftlichen Angelegenheiten wechselt. Anfang Juli 1798 kündigt er in einem Schreiben an den Lukrez-Übersetzer Carl Ludwig Knebel zunächst das Gedicht über die Pflanzenbildung als Beilage an. Mit Knebel, den er seit 1774 kennt und schätzt, verbindet Goethe naturwissenschaftlich vor allem das Interesse an Mineralogie und Botanik. »Beyliegend erhältst du einen Versuch das Anschauen der Natur, wo nicht poetisch doch wenigstens rhythmisch darzustellen. Wer kann mehr Antheil daran nehmen als du, indem du es mit der Lucretischen Art vergleichst. Sage mir doch ja bald deine Gedanken darüber.«[8] Daraus wird aber zunächst nichts, denn Goethe vergißt offenbar, das Blatt mit dem Gedicht seiner Sendung beizulegen. Knebel erinnert ihn, und am 16. Juli holt Goethe das Versäumte nach und schickt »das vergeßne Blatt«[9] hinterher. Dem Begleitschreiben ist zu entnehmen, dass er offenbar weitere naturwissenschaftliche Lehrgedichte zu speziellen Themengebieten plant: »Ich denke vielleicht ehestens ein Gedicht über die magnetischen Kräfte, auf eben die Weise, aufzustellen. Man muss einzeln versuchen, was im Ganzen unmöglich werden möchte.«[10]

 

»Darstellung der Naturlehre durch einen Poeten« – dieses Thema treibt Goethe im Sommer 1798 um, ob im Gespräch mit Schiller oder in den Briefen, die er mit dem Weimarer Urfreund Knebel wechselt. Dessen Reaktion auf die Metamorphose der Pflanzen könnte den Anstoß für das Gedicht Athroismos gegeben haben: Knebel zeigt sich angetan von Goethes lyrischer Darstellung der Pflanzenbildung, in der »die Poesie von einer gefälligen Freundin zur Lehrerin« erhoben werde. Einzig die elegische Reimform missfällt ihm, und er äußert den Wunsch, Goethe würde »den ganzen Hexameter vorgezogen«[11] haben – ein Wunsch, den das Gedicht Athroismos dann erfüllt. Gut möglich also, dass Goethe den Hinweis des Freundes aufgreift, wenngleich nicht für ein Lehrgedicht über Magnetismus – ein solches ist nicht überliefert –, wohl aber für jenes über die Gestaltbildung im Tierreich.

Athroismos präsentiert sich dem Leser als ein Gedicht für Fortgeschrittene, »Darstellung der Naturlehre durch einen Poeten« auf buchstäblich höchstem Niveau.

 

Wagt ihr, also bereitet, die letzte Stufe zu steigen

Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien

Blick ins weite Feld der Natur.

 

Welcher Vorbereitungen es bedarf, um auf den Gipfel zu gelangen, verschweigt das Gedicht, die aus der Metamorphose der Pflanzen zu gewinnenden Kenntnisse über den Bauplan pflanzlicher Lebewesen gehören aber wohl dazu – der Umstand, dass Goethe später beide Gedichte durch eine Analogiebildung im Titel miteinander paart, deutet darauf hin. Und auch die Vorstellung eines Urphänomens – als Idee, nicht als Erfahrung – findet sich in Athroismos.

 

Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen

Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild.

 

Bereits zu Beginn des Jahres 1791 hatte Goethe einen Versuch über die Gestalt der Tiere verfasst und in diesem Prosatext den Gedanken geäußert, die morphologische Vielfalt im Tierreich lasse sich auf eine Art Grundbauplan zurückführen, »ein allgemeines Schema […], welchem sowohl Menschen als Tiere untergeordnet« werden könnten und das wie ein »allgemeiner Leitfaden durch das Labyrinth der Gestalten«[12] führe.

Goethe unternimmt in diesem Text den Versuch, ein solches Schema zu entwickeln und zwar für jenen Teilbereich, mit dem er sich am längsten und intensivsten beschäftigt hat: die Osteologie. »Wir dürfen behaupten daß der Knochenbau aller Säugetiere […] nicht allein im ganzen nach einerlei Muster und Begriff gebildet ist; sondern daß auch die einzelnen Teile, in einem jeden Geschöpfe sich befinden; und nur oft durch Gestalt, Maß, Richtung, genauere Verbindung mit andern Teilen unserem Auge entrückt und nur unserem Verstande sichtbar bleiben. Alle Teile, ich wiederhole es, sind bei einem jeden Tiere gegenwärtig nur unsere Bemühung unser Scharfsinn muß sie aufsuchen und entdecken; aber jener Begriff ist der Ariadneische Faden.«[13]

 

Der osteologische Typus als Ariadnefaden zur Orientierung im Labyrinth der Tiergestalten – Goethe sieht den Sinn des zu entwickelnden Schemas darin, eine feste Bezugsgröße zu schaffen, ein tertium comparationis, zu dem alle in der Realität vorkommenden Tiergestalten ins Verhältnis gesetzt werden können. Aus den jeweiligen Abweichungen zu einzelnen im Bauplan beschriebenen Teilen lasse sich, so Goethe, die Vielfalt der Arten systematisch abbilden. Ein solches Schema müsse sich durch eine hohe Komplexität auszeichnen und allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. Alle Tiere ließen sich aus ihm erklären, jede Gestalt sich aus einer Sukzession von Abweichungen rekonstruieren. Dieser Vorstellung liegt die Einsicht zugrunde, daß »die Natur eben dadurch die Gestalten der Tiere so bequem zu verändern scheint, weil die Gestalt aus sehr vielen Teilen zusammengesetzt ist, und die bildende Natur dadurch nicht sowohl große Massen gleichsam umzuschmelzen nötig hat sondern die große Mannigfaltigkeit bewirkt, indem sie auf viele zusammen geordnete Anfänge bald so bald so ihren Einfluß zeigt […] In dieser bei genauer Betrachtung die größte Bewunderung erregenden Veränderlichkeit der Teile, ruht die ganze Gewalt der bildenden Natur.«[14]

In Athroismos greift Goethe seine aus der vergleichenden Anatomie gewonnene Vorstellung auf und veranschaulicht sie durch zwei einfache Beispiele unterschiedlich entwickelter Teile des Säugetierskeletts:

 

So ist jeglicher Mund geschickt die Speise zu fassen

Welche dem Körper gebührt, es sei nun schwächlich und zahnlos

Oder mächtig der Kiefer gezähnt, in jeglichem Falle

Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung.

Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze,

Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.

 

Morphologische Vielfalt lässt sich begreifen als Summe der Variationen eines Typus. Anders als im Pflanzenreich ist es bei den Tieren jedoch angesichts der ausgeprägten Variabilität nicht möglich, den Typus in eine Zeichnung zu bannen.[15] Goethe schlägt dafür eine tabellarische Form vor. Ende 1794, inspiriert durch zahlreiche Treffen und Gespräche mit Schiller und den Humboldt-Brüdern[16], nimmt er seinen Versuch über die Gestalt der Tiere wieder vor, überarbeitet und erweitert ihn. Der Titel, den die neue Schrift bekommt, macht deutlich, dass Goethe einen Schritt weiter ist – aus dem Versuch wird ein Erster Entwurf einer Einleitung –, er jedoch auch jetzt kein fertiges Lehrgebäude konzipiert, sondern eine Projektskizze entwirft: Erster Entwurf einer Einleitung in die Vergleichende Anatomie ausgehend von der Osteologie. Goethe formuliert darin einen »Vorschlag zu einem anatomischen Typus, zu einem allgemeinen Bilde, worin die Gestalten sämtlicher Tiere, der Möglichkeit nach, enthalten wären, und wornach man jedes Tier in einer gewissen Ordnung beschriebe. […] Ist dieses geschehen, so braucht man Tier nicht mehr mit Tier zu vergleichen, sondern man hält die Beschreibungen nur gegen einander und die Vergleichung macht sich von sich selbst.«[17]

Alle durch eine Sukzession von Abweichungen vom morphologischen Typus entstandenen Tiere sind vollkommene Geschöpfe – jedes »eine kleine Welt, die um ihrer selbst willen und durch sich selbst da ist. So ist auch jedes Geschöpf Zweck seiner selbst, und weil alle Teile in der unmittelbarsten Wechselwirkung stehen, ein Verhältnis gegen einander haben und dadurch den Kreis des Lebens immer erneuern, so ist auch jedes Tier als physiologisch vollkommen anzusehen.«[18]

 

Zweck sein Selbst ist jegliches Tier, vollkommen entspringt es

Aus dem Schoß der Natur und zeugt vollkommene Kinder.

 

Die Überzeugung, dass alles Lebendige vollkommen, weil mit einer inneren Notwendigkeit des Seins ausgestattet sei, bringt Goethe in seinen biologischen Schriften immer wieder zum Ausdruck. Hinter diese Überzeugung fällt er nie zurück. Gleichwohl ist physiologische Vollkommenheit für Goethe ein ontologisches, kein ästhetisches Attribut. In einem kleinen Aufsatz, den er Schiller bald nach ihrem ersten Gespräch im August 1794 zu lesen gibt, macht Goethe diese Unterscheidung deutlich. Ontologische Vollkommenheit ist allem Lebendigen eigen: »Die Glieder aller Geschöpfe sind so gebildet, daß sie ihres Daseins genießen, dasselbe erhalten und fortpflanzen können, und in diesem Sinn ist alles Lebendige vollkommen zu nennen.«[19] Diese ontologische Vollkommenheit besteht unabhängig von einer ästhetischen, die erst aus der Wahrnehmung durch einen Betrachter konstruiert wird: »Schön nennen wir ein vollkommen organisiertes Wesen, wenn wir uns bei seinem Anblicke denken können, daß ihm ein mannigfaltiger freier Gebrauch aller seiner Glieder möglich sei, sobald es wolle«.[20]

Ontologische Vollkommenheit besteht nicht allein aufgrund eines inneren Zusammenhangs aller Glieder eines Tieres, sie besteht auch deswegen, weil diese Glieder mit äußeren Umgebungsvariablen korrespondieren: »das Tier wird durch Umstände zu Umständen gebildet«.[21] Die physiologisch vollkommene Gestalt eines Tieres begründet in ihrer Wechselwirkung mit der Umwelt die ontologische Vollkommenheit natürlichen Lebens.

 

So ist jedem der Kinder die volle reine Gesundheit

Von der Mutter bestimmt: denn alle lebendigen Glieder

Widersprechen sich nie und wirken alle zum Leben.

Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres,

Und die Weise zu leben sie wirkt auf alle Gestalten

Mächtig zurück. So zeigt sich fest die geordnete Bildung

Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende Wesen.

 

In dem 1817 entstandenen Gedicht Urworte. Orphisch überträgt Goethe mit der Formel »Geprägte Form, die lebend sich entwickelt«[22] die allgemeine Gültigkeit dieses Entwicklungsprinzips auch auf den Menschen. Daimon und Tyche sind dort die Begriffe, die für die inneren und die äußeren Einflüsse in der Entwicklung eines Menschen, seines Wesens und seiner Persönlichkeit stehen.[23] Die Urworte transzendieren damit allerdings das Morphologische, während Athroismos ausschließlich die Gestaltentwicklung in den Blick nimmt: Das Außen, die Wechselwirkung zwischen Gestalt und Lebensweise eines Tieres vollzieht sich in einer kontingenten Umwelt, in der alles möglich scheint. Das Innen, das die Kraft für Gestalt ändernde Entwicklungen, Metamorphosen bereit hält, unterliegt demgegenüber einer Beschränkung.

 

Doch im Innern befindet die Kraft der edlern Geschöpfe

Sich im heiligen Kreise lebendiger Bildung beschlossen.

Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie:

Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich.

 

Goethe beschreibt das innere Entwicklungsgeschehen als Auseinandersetzung zwischen einer unbändigen expansiven Kraft und dem ihr überlegenen morphologischen Prinzip begrenzter Ressourcen. Dieses »höchste Gesetz« der Natur ist göttlichen Ursprungs, erhebt jedoch – einmal in der Welt – einen Absolutheitsanspruch, der sich von der Macht göttlichen Wirkens löst und sie transzendiert. Das Gedicht formuliert hier eine Vorstellung des Göttlichen in der Natur, die sein Autor der Lehre Baruch de Spinozas verdankt. Im Sechzehnten Buch von Dichtung und Wahrheit bringt Goethe seine Wertschätzung für Spinoza zum Ausdruck, und auch hier findet sich jenes in Athroismos in lyrische Form gekleidete Bild eines vom "Gesetzgeber" sich emanzipierenden Naturgesetzes. »Die Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen Gesetzen, daß die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte.«[24] Rückschauend wird hier in verallgemeinernder Prosa umschrieben, was Athroismos an einem konkreten Beispiel veranschaulicht. Das Gedicht handelt von den »ew'gen Gesetzen« natürlichen Wachstums: einem auf willkürliche räumliche Ausdehnung gerichteten Trieb und dessen Lenkung durch das formgebende Prinzip der Ressourcenbeschränkung.

 

Doch im Innern scheint ein Geist gewaltig zu ringen,

Wie er durchbräche den Kreis, Willkür zu schaffen den Formen

Wie dem Wollen; doch was er beginnt, beginnt er vergebens.

 

Mit dieser Vorstellung von einem Geist im Innern folgt Goethe der Vitalismusthese des Göttinger Zoologen und Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach, der in einer 1781 erschienen Schrift die Existenz eines Bildungstriebes als einer »der ersten Ursachen aller Generation, Nutrition und Reproduction« postuliert. Blumenbachs These besagt, dass »in allen belebten Geschöpfen vom Menschen bis zur Made und von der Ceder bis zum Schimmel herab, ein besondrer, eingebohrner, lebenslang thätiger würksamer Trieb liegt, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann zu erhalten, und wenn sie ja zerstört worden, wo möglich wieder herzustellen.«[25]

In einem vermutlich 1817 entstandenen Aufsatz rekonstruiert Goethe den naturwissenschaftlichen Diskurs über die Vorstellung eines solchen Bildungstriebes und beschreibt die von Blumenbach aufgestellte These eines nisus formativus  – den Goethe begreift als »einen Trieb, eine heftige Tätigkeit, wodurch die Bildung bewirkt«[26] werde – als deren am besten durchdachte, begrifflich am treffendsten formulierte Ausprägung. Goethe äußert aber auch Zweifel und weist darauf hin, dass Organismen nicht aus nichts entstehen könnten und also die Annahme eines Bildungstriebes allein als Erklärung für die Gestaltbildung von Lebewesen nicht hinreichend sei. Die Reichweite von Blumenbachs Erklärungsansatz hält er in zweifacher Hinsicht für begrenzt: zum einen dadurch, dass die Annahme eines Bildungstriebes, der in Lebewesen seine Wirkung entfalte, die Existenz dieser Lebewesen ja bereits voraussetze – »und wenn wir keine Präformation denken mögen, so kommen wir auf eine Prädetermination, auf ein Prästabilieren, und wie das alles heißen mag was vorausgehen müßte« –, zum anderen dadurch, dass dieser Ansatz keine Aussage darüber zulasse, wie denn die »heftige Tätigkeit« dieses Triebes auf eine jeweils ontologisch vollkommene Gestalt hin gelenkt und begrenzt werde. Die Antwort auf diese Frage sieht Goethe durch seine Vorstellung von Metamorphose gegeben, in die er Blumenbachs These integriert, und behauptet, »daß wenn ein organisches Wesen in die Erscheinung hervortritt, Einheit und Freiheit des Bildungstriebes ohne den Begriff der Metamorphose nicht zu fassen sei.«[27]

Und im Lehrgedicht Athroismos beschreibt Goethe, wie man sich das vorzustellen habe. Das Gedicht erläutert, auf welche Weise das Prinzip begrenzter Ressourcen die Expansionskraft des Bildungstriebes beschränkt – zunächst in der Theorie, anschließend durch eine Anleitung für deren deduktive Anwendung in der Forschungspraxis und zuletzt mit Hilfe eines osteologischen Beispiels. Expansionskraft und Beschränkungsprinzip, beide sind notwendig, um morphologische Vielfalt zu ermöglichen. Das formgebende Beschränkungsprinzip ist jedoch prinzipiell überlegen, der Bildungstrieb wird als kraftvolles, aber blindes Anrennen gegen dieses Prinzip charakterisiert, die Resultate seines Wirkens gehen einher mit der Störung von Proportion und Maß und dem Verlust ästhetischer Vollkommenheit.

 

Denn zwar drängt er sich vor zu diesen Gliedern, zu jenen,

Stattet mächtig sie aus, jedoch schon darben dagegen

Andere Glieder, die Last des Übergewichtes vernichtet

Alle Schöne der Form und alle reine Bewegung.

Siehst Du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug

Irgend gegönnt, so frage nur gleich, wo leidet es etwa

Mangel anderswo, und suche mit forschendem Geiste,

Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schlüssel.

 

Das Beispiel, das Goethe zur Illustration dieses Zusammenhanges anführt, wählt er aus jenem osteologischen Fachgebiet, dem von Beginn seiner naturwissenschaftlichen Beschäftigung an sein besonderes Interesse gilt: der Schädel- und Kieferknochenlehre. Hier hatte er schon 1784 »eine anatomische Entdeckung gemacht«, die, wie er Frau Stein mitteilt, »wichtig und schön ist«.[28] Das Fehlen eines Zwischenkieferknochens galt lange Zeit als Alleinstellungsmerkmal des Menschen, und Goethe hatte nachgewiesen, daß diese Annahme falsch war und auch der Mensch über eine solche Knochenstruktur verfügt. Die besondere Beziehung, die Goethe zu jenem Teilgebiet der Osteologie entwickelt, belegen auch seine Theorie über die Entwicklung der Säugetierschädel aus Wirbelknochen oder etwa seine Sammlung von Schädel- und Kieferknochen verschiedener Wirbeltiere, u.a. Eisbär, Walross, Elefant etc. Als zuverlässiger Lieferant von Schädelpräparaten erweist sich dabei der Kasseler Anatom Samuel Thomas Sömmerring, den Goethe im September 1784 unter anderem um die Übersendung eines Löwenschädels bittet. Und so weiß er aus eigener Anschauung, wovon er spricht, wenn er in Athroismos am Beispiel des Löwen den Zusammenhang von Bildungstrieb und Beschränkungsprinzip verdeutlicht.

 

Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern

Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen,

Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter

Ganz unmöglich zu bilden und böte sie alle Gewalt auf:

Denn sie hat nicht Masse genug die Reihen der Zähne

Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.

 

Dieses morphologische Prinzip begrenzter Ressourcen taucht schon 1790 in dem Versuch über die Gestalt der Tiere auf, zunächst als stichpunktartig-abstrakter Hinweis – »Geben und Entziehen. Allgemeines Gesetz der Bildung.«[29] –, an einer anderen Stelle, an der Goethe die Relation von Schädelknochen, Gehirn und Gesamtgröße eines Tieres erörtert, bereits in jenem konkreten Sinn, den auch das Löwenbeispiel aus Athroismos illustriert. Das »Verhältnis des Gehirns ist nicht allein zur Größe des Tiers zu rechnen, sondern auch vorzüglich nach jenem ersten Prinzip der Vergleichung daß die Natur nicht geben kann ohne auf der andern Seite zu nehmen, sie kann nichts nehmen ohne auf der andern Seite zu geben.«[30]

Metamorphose ist demnach Schwerpunktsetzung, ihr Resultat morphologische Innovation.[31] Im Ersten Entwurf einer Einleitung… führt Goethe dies genauer aus und erläutert die grundlegenden Zusammenhänge. »Wenn wir die Teile genau kennen und betrachten, so werden wir finden daß die Mannigfaltigkeit der Gestalt daher entspringt, daß diesem oder jenem Teil ein Übergewicht über die andern zugestanden ist. So sind, zum Beispiel, Hals und Extremitäten auf Kosten des Körpers bei der Giraffe begünstigt, dahingegen beim Maulwurf das Umgekehrte statt findet. Bei dieser Betrachtung tritt uns nun gleich das Gesetz entgegen: daß keinem Teil etwas zugelegt werden könne, ohne daß einem andern dagegen etwas abgezogen werde, und umgekehrt.«[32]

Wachstum und Entwicklung werden von Goethe als Nullsummenspiel von Biomasse beschrieben. Die Ressourcen sind jeweils festgelegt, lediglich die Art ihrer Verwendung für eine besondere Ausbildung einzelner Teile öffnet Gestaltungsraum für Metamorphosen. »Hier sind die Schranken der tierischen Natur, in welchen sich die bildende Kraft auf die wunderbarste und beinahe auf die willkürlichste Weise zu bewegen scheint, ohne daß sie im mindesten fähig wäre den Kreis zu durchbrechen oder ihn zu überspringen.«[33]

Durch eine Personifizierung des Bildungstriebes als beherrschten Beherrscher und eine Analogiebildung ins Gesellschaftliche versucht Goethe, den strukturellen Zusammenhang von expansiver Kraft und dem Prinzip begrenzter Ressourcen zu veranschaulichen. »Der Bildungstrieb ist hier in einem zwar beschränkten, aber doch wohl eingerichteten Reiche zum Beherrscher gesetzt. Die Rubriken seines Etats, in welche sein Aufwand zu verteilen ist, sind ihm vorgeschrieben, was er auf jedes verwenden will, steht ihm, bis auf einen gewissen Grad frei. Will er der einen mehr zuwenden, so ist er nicht ganz gehindert, allein er ist genötigt an einer andern sogleich etwas fehlen zu lassen; und so kann die Natur sich niemals verschulden, oder wohl gar bankrutt werden.«[34]

Vertraut man Friedrich Wilhelm Riemers Gesprächsaufzeichnungen, dann geht Goethe davon aus, auch die Entwicklung des Menschen sei mit Hilfe des Etatgesetzes zu erklären und dessen Besonderheit bestehe lediglich in einer vollkommenen Verhältnismäßigkeit aller Teile. Bei Tieren hingegen seien einzelne Organe jeweils zu Lasten der anderen bevorzugt.

»Obgleich die Natur einen bestimmten Etat hat, von dem sie zweckmäßig ihre Ausgaben bestreitet, so geht die Einnahme doch nicht so genau in der Ausgabe auf, daß nicht etwas übrig bliebe, welches sie gleichsam zur Zierde verwendet. Die Natur, um zum Menschen zu gelangen, führt ein langes Präludium auf von Wesen und Gestalten, denen noch gar sehr viel zum Menschen fehlt. […] Die Thiere tragen gleichsam das, was hernach die Menschenbildung giebt, recht zierlich und schön geordnet als Schmuck, zusammengepackt in den unverhältnismäßigen Organen, als da sind Hörner, lange Schweife, Mähnen u.s.w., welches Alles beim Menschen wegfällt, der schmucklos, durch sich selbst schön und in sich selbst schön, vollendet dasteht; der alles, was er hat, auch ist, wo Gebrauch, Nutzen, Nothwendigkeit und Schönheit alles Eins ist und zu Einem bestimmt.«[35]

Bei Riemer (und seinen Lesern) könnte aufgrund dieser Äußerung der Eindruck entstehen, die Athroismos-These, der zufolge nur beschränkt je das Vollkommene möglich war, besitze für den Menschen keine Gültigkeit, weil hier ontologische und ästhetische Vollkommenheit in eins fielen. Doch das, so hat man Goethe wohl zu verstehen, gelte lediglich im allgemeinen für die Gattung, nicht aber für den einzelnen Menschen. »Wenn die Natur einen bestimmten Etat für die genera der organischen Wesen hat, demzufolge sie eine starke Ausgabe durch eine Ersparniß wieder compensiren muß, so hat sie ihn wahrscheinlich auch bei den Individuen. Um nur vom Menschen zu reden, so scheinen die starken Ausgaben an gewissen Theilen der Organisation gewisse Schwächen an anderen nach sich zu ziehen.«[36] Es bleibt bei dem, was Goethe schon 1784, als er die Vorstellung einer anthropozentrischen Sonderstellung mit dem Nachweis des Zwischenkieferknochens aushebelt, an Knebel schreibt, dass »der Mensch aufs nächste mit den Thieren verwandt« sei. »Und so ist wieder iede Creatur nur ein Ton eine Schattirung einer grosen Harmonie, die man auch im ganzen und grosen studiren muß sonst ist iedes Einzelne ein todter Buchstabe.«[37]

 

Es ist nicht nur eine semantische Übereinstimmung, wenn Goethe für die begrenzten morphologischen Ressourcen, die dem Bildungstrieb der Natur für Metamorphosen zur Verfügung stehen, den Begriff Etat benutzt und bei der Beschreibung natürlicher Entwicklungsprozesse von Ausgaben, Ersparnissen und Kompensationsleistungen spricht. Goethe entlehnt dieses morphologische Vokabular einem Kontext, mit dem er bestens vertraut ist: dem der politischen Ökonomie. 1775 hatte Herzog Carl August Goethe in sein Geheimes Consilium berufen und ihn damit zu einem Mitglied im höchsten Regierungsgremium des Herzogtums Sachsen-Weimar und Eisenach gemacht – eines zu diesem Zeitpunkt politisch unbedeutenden, wirtschaftlich unterentwickelten Kleinstaates mit einhunderttausend Einwohnern – dass Etats begrenzt sind, konnte man hier gut lernen.

            Und Goethe geht es systematisch an. Zu Pferd und mit der Kutsche reist er durch das Herzogtum, um sich ein Bild vom Zustand des Landes und seiner Bevölkerung zu machen und die Menschen und ihre Lebensumstände kennenzulernen. Das Herzogtum ist agrarwirtschaftlich geprägt, und daher entwickelt Goethe während seiner Erkundungstouren ein besonderes Interesse für die natürlichen Gegebenheiten der Region, kriecht zuweilen auch »in den Eingeweiden der Erde«[38] herum und beginnt, sich wissenschaftlich mit der Natur zu beschäftigen. Die Prägung seines politisch-ökonomischen Bewusstseins und die Ausbildung seines naturwissenschaftlichen Denkens vollziehen sich in einem Prozess wechselseitiger Befruchtung in der Praxis seiner Regierungstätigkeit.

Im Anschluss an seine Berufung in das Geheime Consilium übernimmt Goethe wichtige politische Ressorts und damit eine ähnliche Funktion, wie er sie dem Bildungstrieb bei der Metamorphose zugeschrieben hatte: er wird »in einem zwar beschränkten, aber doch wohl eingerichteten Reiche zum Beherrscher gesetzt« – 1777 als Leiter der Bergwerkskommission, 1779 kommen die Kriegskommission und der Wege- und Wasserbau dazu, und 1782, nach der Entlassung des Kammerpräsidenten wird er mit der Konsolidierung des Haushalts beauftragt. Die Verwaltung von Etats gehört also für Goethe, vor allem im ersten Weimarer Jahrzehnt, zu den Dingen, mit denen er sich täglich beschäftigt.

Seine Aufgabe besteht darin, das Verhältnis der Ressourcen, die vorhanden sind, mit denen die verbraucht werden, ins Gleichgewicht zu bringen. Und so wie Goethe dies später für die »Rubriken« des Bildungstriebes beschreibt, so handhabt er es in den Ressorts, für die er verantwortlich ist: Beschränkung des Gesamtetats und Umverteilung zwischen den Einzelbudgets. Sein größter Coup gelingt ihm in dieser Hinsicht 1783, als er die Landstände dazu bringt, die Schulden der Kammer zu übernehmen, indem er im Gegenzug (und zum Unwillen seines Herzogs) den Wehretat halbiert – das Ergebnis ist ein ausgeglichener Haushalt. Schon sein Eintreten in die Kriegskommission sei strategisch auf dieses Ziel hin ausgerichtet gewesen, »weil da am ersten Ersparnisse zu machen waren«,[39] erinnert er sich vierzig Jahre später nicht ohne Stolz an diese Finanzreform. Dass die Konsolidierung der Finanzen für Goethe jedoch nicht Selbstzweck und sein Handeln nicht allein auf Beschränkung ausgerichtet ist, wird daran deutlich, dass er anschließend mit erheblichen Investitionen den Etat für Straßen- und Wegebau überschreitet und Einsparungen an anderer Stelle erzwingt.

 

Wachstum sind Grenzen gesetzt. Das lernt der Wirtschaftspolitiker Goethe aus der Beobachtung der Natur. Und es gibt eine Reihe von Briefen und Zeugnissen, aus denen sich dieser Lernprozess und die Horizontverschmelzung zwischen natürlichem und ökonomischem Entwicklungsdenken rekonstruieren lassen. Er sei »höchst unwissend in allen Naturstudien« nach Weimar gekommen, erinnert Goethe sich in einem Gespräch mit Kanzler von Müller an den Beginn dieses Prozesses, »und erst das Bedürfnis, dem Herzog bei seinen mancherlei Unternehmungen, Bauten, Anlagen praktische Ratschläge geben zu können«, habe ihn »zum Studium der Natur«[40] getrieben. Fortschritte werden stolz den Freunden verkündet: »Du erinnerst dich noch mit welcher Sorgfalt und Leidenschafft ich die Gebürge durchstrich, und ich die Abwechslungen der Landsarten zu erkennen mir angelegen seyn lies. Das hab ich nun, wie auf einer Einmal eins Tafel, und weis von iedem Berg und ieder Flur Rechenschafft zu geben. Dieses Fundament läßt mich nun gar sicher auftreten, ich gehe weiter und sehe nun, zu was die Natur ferner diesen Boden benutzt und was der Mensch sich zu eigen macht.« Und dann folgt Goethes berühmt gewordene Anklage gegen ein aus dem Gleichgewicht geratenes Sozial- und Wirtschaftssystem – der Vorwurf, den er erhebt, ist der einer Mißachtung des Etatgesetzes durch den höchsten Stand, das Bild, das er für deren Illustration verwendet, ist nicht zufällig eines aus der Natur: »So steig ich durch alle Stände aufwärts, sehe den Bauersman der Erde das Nothdürftige abfordern, das doch auch ein behäglich auskommen wäre, wenn er nur für sich schwizte. Du weißt aber wenn die Blattläuse sich hübsch dick und grün gesogen haben, dann kommen die Ameisen und saugen ihnen den filtrirten Safft aus den Leibern. Und so gehts weiter, und wir habens so weit gebracht, daß oben immer in einem Tage mehr verzehrt wird, als unten in einem organisirt [darüber: beygebracht] werden kann.«[41]

Diese Analyse kritisiert nicht grundsätzlich die feudale Wirtschaftsordnung, in der das Oben sich beim Unten bedient, die Fehlentwicklung liegt vielmehr in dem Ausmaß, in dem dies geschieht. Der »Etat« ist nicht ausgeglichen, wenn in einer »Rubrik« die Grenzen des Wachstums überschritten werden. Mit dem »wir habens so weit gebracht« richtet sich die Kritik implizit an einen Feudaladel, dem Goethe unterstellt, er wisse, dass das Etatgesetz auch für die Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen gilt, und es dennoch missachte.

Viele Briefe aus den ersten Weimarer Jahren zeigen, wie Goethe sein aus der Beobachtung der Natur gewonnenes Wissen auf ökonomische Zusammenhänge überträgt. Und Goethe baut die Brücken zumeist dort, wo Natur und Ökonomie sich besonders nahe sind, im Bereich der Nutzung natürlicher Ressourcen für den menschlichen Verbrauch, der landwirtschaftlichen Produktion. »Ich habe mich diese Tage her recht bemüht meine Gedancken auf die Erdschollen zu konzentriren«, schreibt Goethe an Frau Stein von einer seiner Reisen durch das Herzogtum, und er wendet sich mit einem Bild an sie, in dem bereits das Eingangsmotiv aus Athroismos anklingt: »Es ist ein erhabnes, wundervolles Schauspiel wenn ich nun über Berge und Felder reite, da mir die Entstehung und Bildung der Oberfläche unsrer Erde und die Nahrung welche Menschen draus ziehen zu gleicher Zeit deutlich und anschaulich wird; erlaube wenn ich zurückkomme daß ich dich nach meiner Art auf den Gipfel des Felsens führe und dir die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeige.«[42]

Für Goethe steht die landwirtschaftliche Produktion für ein Wirtschaftsmodell, das sich mit den aus der Beobachtung der Natur gewonnenen Maßstäben im Einklang befindet, und er kritisiert die feudale Missachtung dieser Maßstäbe. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wird er dann erleben, wie die bäuerliche Subsistenzwirtschaft von einer modernen Erwerbswirtschaft abgelöst wird, die grenzenloses Wachstum zu ihrem Programm erklärt. Wie Goethe sich literarisch zu dieser Entwicklung positioniert, kann man in den Wanderjahren und im zweiten Teil des Faust nachlesen.[43]

 

Aus heutiger Sicht sind Goethes Vorstellungen über die Grenzen des Wachstums und »das alte, mir so unendlich werthe Gesetz der organischen Natur: daß an einem Orte kein Überfluß sein kann, wenn am andern nicht ein Mangel entsteht«[44] in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: zum einen stehen sie für eine Naturwissenschaft, die von der Natur lernen und nicht sie beherrschen will, zum anderen für die Bereitschaft, die aus der Naturbeobachtung gewonnenen Einsichten über die Grenzen des Wachstums zum Maßstab ökonomischen Handelns zu machen. Die Moderne hat beides auf den Kopf gestellt.

 

Immanuel Kant gibt in seiner Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft die Richtung vor, in die sich die moderne Naturwissenschaft zu entwickeln habe. Aufgabe von Forschung sei es, die Natur zu »nötigen […] auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln zu lassen« Die Haltung, mit der sich die Wissenschaft der Natur nähern solle, sei nicht etwa die »eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.«[45] Athroismos widerspricht diesem Postulat beinahe wörtlich: Nachdem das Gedicht am Beispiel des Löwen das Zusammenwirken von Bildungstrieb und Ressourcenbeschränkung illustriert hat, nennt es die Quelle seiner Erkenntnis und den Weg ihrer Vermittlung.

 

Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür

Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,

Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse

Bringt harmonisch ihn dir mit sanftem Zwange belehrend

[…]

Freue dich höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig

Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang,

Nachzudenken.

 

Goethe präsentiert in Athroismos ein lyrisches Ich, das mit der Natur in einer Weise kommuniziert, die Kant als »bloßes Herumtappen«[46] kritisiert, nämlich in der Haltung eines Schülers, der sich durch sanften Zwang belehren lässt und dem es – im besten Fall – gelingt, die Gedanken der Natur nachzudenken.

Mit dieser Haltung begegnet auch der Biologe Goethe der Natur. Er beobachtet neugierig, versucht, die Sprache der Natur zu verstehen, übt sich darin, im Buch der Natur zu lesen. Und sein Fleiß trägt Früchte. An Frau Stein schreibt er im Juni 1786: »Wie lesbar mir das Buch der Natur wird, kann ich Dir nicht ausdrücken, mein langes Buchstabieren hat mir geholfen, jetzt ruckts auf einmal und meine stille Freude ist unaussprechlich.«[47] Die Metamorphosegedichte sind das poetische Resultat dieses Lernprozesses: geführte Rundgänge durch das Pflanzen- und Tierreich unter der Leitung eines kundigen Führers, der mit der Sprache der Natur vertraut ist.   

 

Goethe sieht die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Natur auf einem falschen Weg, wenn sie sich an der Frage orientiert, welchen Nutzen die Natur für den Menschen habe, ja wenn sie überhaupt nach einem Nutzen frage. Zwar sei es »dem Menschen natürlich […], sich als das Ziel der Schöpfung zu betrachten, und alle übrigen Dinge nur in Bezug auf sich, und in so fern sie ihm dienen und nützen.« Indem der Mensch »den Dingen einen ihm nützlichen Zweck gibt, glaubt er auch daß sie dazu sind geschaffen worden.« Gleichwohl habe man sich als Wissenschaftler vor einer solchen, teleologischen Perspektive zu hüten, weil sie zu »lauter Widersprüchen« führe. »Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hörner um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: warum hat das Schaf keine? und, wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen? – Etwas Anderes aber ist es, wenn ich sage: der Ochse wehrt sich mit seinen Hörnern weil er sie hat. – Die Frage nach dem Zweck, die Frage warum? ist durchaus nicht wissenschaftlich. Etwas weiter aber kommt man mit der Frage Wie? – Denn wenn ich Frage: wie hat der Ochse Hörner? so führet mich das auf die Betrachtung seiner Organisation, und belehret mich zugleich, warum der Löwe keine Hörner hat und haben kann.«[48]

 

Die Naturwissenschaft der Moderne beschreitet den von Kant vorgegebenen Weg und gewöhnt sich an, Goethes Naturlehre durch einen Poeten als »totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilettanten«[49] abzutun. Sie stellt sich in den Dienst einer Fortschrittsideologie, in deren Mittelpunkt die Beherrschung der Natur zum Zwecke ihrer Ausbeutung steht, nicht der Versuch zu verstehen. Kants Forderung an die Naturwissenschaft, sich nicht länger von der Natur »am Leitbande gängeln« zu lassen, ist damit erfüllt, die Naturwissenschaft hat sich von der Natur emanzipiert – aber doch nur, um sich fortan vom Leitbande einer ökonomischen Wachstumsdoktrin führen zu lassen, die eine maß-lose Ausbeutung und Verschuldung der Natur zum Prinzip erhebt. Diese Naturwissenschaft lässt sich von Grenzen des Wachstums nicht aufhalten, sie macht es sich zur Aufgabe, sie zu überschreiten, und ist nicht an dem »Atmen des Geistes« interessiert. »der jedem Teile die Richtung vorschreibt und jede Ausschreitung durch ein inwohnendes Gesetz bändigt oder sanktioniert!«[50]

            Damit ist der Zusammenhang, wie Goethe ihn zwischen naturwissenschaftlichem und ökonomischem Denken entwirft, ins Gegenteil verkehrt. Anstatt das Wirtschaftshandeln an aus der Naturbeobachtung gewonnenen Erkenntnissen über die Grenzen des Wachstums auszurichten, wird die Natur mit Hilfe der Naturwissenschaften in den Dienst unbegrenzten Wachstums gestellt. »Die Vision einer immer besseren – immer noch besseren – Zukunft ist ein notwendiger Bestandteil der Geld- und Erwerbswirtschaft. Alles, was sie daran hindert, was Begrenzung vermuten läßt, muß beseitigt werden. Durch die Beseitigung dieser inneren Grenzen des Wirtschaftens nimmt die Wirtschaft immer mehr überhand und schlägt die ganze Welt in ihren Bann.«[51]

Dass die Natur als wichtiger Produktionsfaktor neben Arbeit und Kapital keine unbegrenzt zur Verfügung stehende Ressource ist und Etatüberschreitungen zu substantiellen Systemveränderungen führen, haben die modernen Naturwissenschaften inzwischen erkannt und gezeigt. Dieses Wissen hat einen Diskurs über Nachhaltigkeit und die Entschleunigung von Systemveränderungen ausgelöst. Gleichwohl orientiert sich dieser Diskurs unverändert an einer auf Wachstum ausgerichteten wirtschaftlichen Ideologie, deren Umgang mit der Natur durch eine möglichst effektive Ausbeutung charakterisiert ist, die lediglich jenseits der Resilienzgrenze, also dort, wo keine Selbstregeneration mehr möglich ist, eine Bereitschaft zu Selbstbeschränkungen erkennen lässt.

 

Die von Goethe vorgeschlagene und in Athroismos durchscheinende Alternative besteht in einem grundsätzlich anderen Umgang mit der Natur, der Grenzen nicht aus den Limitationen ökonomischer Verwertbarkeit ableitet, sondern lernt, natürliche Grenzen zu verstehen und zu akzeptieren, und sich mit seinem Handeln ausschließlich innerhalb dieser Grenzen bewegt. Es stellt sich mehr denn je die Frage nach den Grenzen des Wachstums, die der Bericht des Club of Rome vor vierzig Jahren formuliert hat: »Ist es besser, innerhalb gesetzter Grenzen zu leben, indem man dem Wachstum Beschränkungen auferlegt, oder soll man das Wachstum fortschreiten lassen, bis sich neue natürliche Grenzwerte ergeben, und hoffen, dass sich eine neue technologische Möglichkeit zeigen wird, um das Wachstum fortzusetzen? Während der letzten Jahrhunderte wurde der zweite Weg so beharrlich und mit so viel Erfolg eingeschlagen, dass man fast vollständig vergaß, dass es die erste Möglichkeit auch noch gibt.«[52]

Dass es sie gibt, lehrt das Buch der Natur. Und wer das versteht, weil er mit den Augen des Geistes lesen kann, gelangt über Bewunderung hinaus und gewinnt Erkenntnis.

 

Hier stehe nun still und wende die Blicke

Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse

Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit.

 

 


 

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[1] Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimarer Ausgabe. Weimar 1887ff. (WA), III, 2, 212

[2] Schiller in einem Brief an Johann Gottfried Körner am 4. September 1794. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Herausgegeben im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers, Weimar 1943ff. Bd. 27, 34.

[3] Johann Wolfgang Goethe, Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert B. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. München 1985ff. (MA), Bd. 12, 88.

[4] MA, Bd. 12, 89

[5] MA, Bd. 12, 74f.

[6] Ebd.

[7] Zitate aus Athroismos hier und im folgenden nach Johann Wolfgang Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Vollständige mit Erläuterungen versehene Ausgabe. Im Auftrag der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, hrsg. von Dorothea Kuhn und Wolf von Engelhardt. Weimar 1947ff., I, 9, 152f.

[8] WA, IV, 13, 199

[9] WA, IV, 13, 213

[10] Ebd.

[11] Carl Ludwig Knebel an Goethe am 18. Juli 1798, zit. nach MA, Bd. 12, 978.

[12] MA, Bd. 4.2, 136

[13] MA, Bd. 4.2, 146

[14] MA, Bd. 4.2, 137f.

[15] In seiner Einleitung zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften macht Rudolf Steiner den Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren im Hinblick auf Goethes Typusgedanken deutlich. Während bei Pflanzen »alle einzelnen Organe nach demselben Gestaltungsprinzipe gebildet« und also »Modifikationen eines Grundorganes« sind, »gliedert sich der tierische Organismus in eine Menge von Organsystemen, die jedes bis zu einem bestimmten Grad der Ausbildung kommen können.« Rudolf Steiner: Einleitung zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften., in: Rudolf Steiner Gesamtausgabe, 4. Aufl., Bd. 1, Dornach 1987, 65 u. 71.

[16] Wie fruchtbar das gemeinsame Nachdenken dieser »Gruppe 94« jeweils für die wissenschaftliche, künstlerische und intellektuelle Entwicklung ihrer Mitglieder ist, hat zuletzt Leo Kreutzer in seinen Goethe-Essays dargelegt. Vgl. Leo Kreutzer: Alexander von Humboldt und die Jenaer ›Gruppe 94‹. In Ders.: Goethes Moderne. Essays. Hannover 2011, 31ff.

[17] MA, Bd. 12, 122f.

[18] MA, Bd. 12, 126

[19] In wiefern die Idee: Schönheit sei Vollkommenheit mit Freiheit, auf organische Naturen angewendet werden könne, in: MA, Bd. 4.2, 185f.

[20] MA, Bd. 4.2, 187

[21] MA, Bd. 12, 127. Im entwicklungstheoretischen Diskurs der Biologie findet eine solche Betrachtungsweise heute wieder Beachtung. Im Anschluss an Darwin wurde dem Faktor Umwelt eine dominierende Bedeutung für das Evolutionsgeschehen zugeschrieben. Die Selektion als ein Prozess, in dem die Anpassung an Umweltbedingungen Entwicklung lenkt, stand dann lange im Mittelpunkt der Betrachtung. Dieser Sichtweise ist in jüngerer Zeit allerdings widersprochen worden: »Das Wirken der äußeren Selektion wird oft als das allein formbestimmende, schöpferische Moment, als Allmacht verabsolutiert. Die qualitative Autonomie des Organismus mit seiner Systemgesetzlichkeit wird vom Selektionismus vernachlässigt.« (Stefan Vogel: Struktur lebender Systeme: Grundzüge und Problematik. In: Wolfgang Marx (Hg.): Die Struktur lebendiger Systeme. Zu ihrer wissenschaftlichen und philosophischen Bestimmung. Frankfurt/M. 1991, 27-50, hier: 45) Aus dieser kritischen Haltung gegenüber der Überbetonung einer Umweltanpassungsdynamik resultiert eine Position, die sich in der Nähe Goethes sieht: »Die lebende Struktur läßt sich nicht allein auf exotrope Funktionalität reduzieren. Sie stellt einen Kompromiß der Eigengestalt mit den externen Erfordernissen dar, die diese sozusagen kalibrieren. GOETHE (in "Athroismos") traf hier wohl das Richtige:                   

›Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres,

Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten

Mächtig zurück‹«. (Ebd.)

Auch die noch junge Developmental Systems Theory (DST) geht davon aus, daß »kein isolierter Faktor […] jemals alleinige Kausalursache eines Entwicklungsprozesses« sein kann. »Umwelt und Organismus ko-konstruieren sich gegenseitig in der Einheit des Entwicklungssystems«. (Karola Stotz: Organismen als Entwicklungssysteme. In: Ulrich Krohs und Georg Toepfer (Hg.): Philosophie der Biologie. Eine Einführung. Frankfurt/M. 2005, 125-143, hier: 127 u. 129) - Die sich aus ihrer Darwinfixierung lösende Biologie erschließt sich offenbar neue Perspektiven auf das Phänomen Entwicklung und kommt dabei zu Einsichten, die mit denen Goethes in Einklang zu bringen sind.

[22] MA, Bd. 12, 91

[23] Hans Joachim Becker, Herausgeber der morphologischen Schriften in der Münchner Ausgabe, macht aus diesem Grund den überzeugenden Vorschlag, die Urworte »den beiden Metamorphosegedichten als ›Metamorphose des Menschen‹ an die Seite zu stellen.« In: MA, Bd.12, 952

[24] MA, Bd. 16, 715

[25] Blumenbach, Johann Friedrich: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte. Göttingen 1781, 12f. Goethe und Blumenbach lernen sich 1783 persönlich kennen – im April ist der Anatom in Weimar zu Gast, im September besucht Goethe ihn an der Göttinger Universität –, und es entwickelt sich daraus ein lebhafter Gedankenaustausch über Anatomie, der erst mit Goethes Tod endet. Vgl. etwa das Schreiben vom 27. März 1820, in dem Goethe Blumenbach dankt für das, was er ihm »in diesem Fache schuldig geworden« sowie für den »Anstoß«, der ihn »persönlich, in Schriften und Briefen, aufgeregt und gefördert« habe. In: WA, IV, 32, 209

[26] MA, Bd. 12, 101

[27] MA, Bd. 12, 101f.

[28] Brief an Charlotte von Stein vom 27. März 1784, in: WA, IV, 6, 258f.

[29] MA, Bd. 4.2, 146

[30] MA, Bd. 4.2, 177

[31] Dass Goethes Morphologie den Gestaltwandel jeweils gattungsimmanent untersucht und »nicht im transformistischen Sinne« glaubt, Übergänge von einer Gattung zur anderen erkennbar machen zu können, hebt Margrit Wyder in ihrer Dissertation über Goethes Naturmodell hervor. Morphologie erkunde, so Wyder, »die Gesetze des Gestaltwandels, die unabhängig vom Problem des biologischen Artbegriffs und von historischen Erwägungen erforscht wurden. Die Frage, die Goethe beschäftigte, lautete: Wir wird die Metamorphose eingeschränkt und gesteuert, damit ein grenzenloses Abweichen vom Typus verhindert wird und so dessen Einheit auch noch in den unähnlichsten Gestalten erkennbar bleibt?« Margrit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen. Köln, Weimar, Wien 1998, 247f.

[32] MA, Bd. 12, 125f.

[33] MA, Bd. 12, 126

[34] Ebd.

[35] Goethe im Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer am 23. (20.?) November 1806, in: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und neu herausgegeben von Wolfgang Herwig. Zürich und Stuttgart 1965ff. (Gespräche), 2, 157f.

[36] Goethe im Gespräch mit Friedrich Wilhelm Riemer am 2. Dezember 1806, in: Gespräche, 2, 165.

[37] Brief an Carl Ludwig Knebel vom 17. November 1784, in: WA, IV, 6, 390.

[38] Brief an Charlotte von Stein vom 10. Mai 1782, in: WA, IV, 5, 325

[39] Goethe im Gespräch mit Friedrich von Müller am 31. März 1824, in: Gespräche, 3, 671ff.

[40] Goethe im Gespräch mit Friedrich von Müller am 16. März 1824, in: Gespräche, 3, 666f.

[41] Brief an Carl Ludwig Knebel vom 17. April 1782, in: WA, IV, 5, 311f.

[42] Brief an Charlotte von Stein vom 12. April 1782, in: WA, IV, 5, 307.

[43] In seiner Analyse des Faust weist Hans Christoph Binswanger darauf hin, dass es auch bei dieser Entwicklung um die Aufhebung von Grenzen geht. Landwirtschaftliche Produktion ist »ausgerichtet auf die Befriedigung der physischen Bedürfnisse des Menschen; diese sind ersättlich. Die Subsistenz- oder Versorgungswirtschaft hat daher endliche Zwecke«. Die moderne Wirtschaft hingegen »zielt auf die imaginären Bedürfnisse, die durch die Phantasie des Menschen stets ausgeweitet werden können; sie sind unersättlich. Der Erwerbswirtschaft wohnt daher ein unendliches Streben inne.« Hans Christoph Binswanger: Geld und Magie. Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft anhand von Goethes Faust. Stuttgart 1985, 134

[44] Brief an Carl Ludwig Knebel vom 26. Februar 1798, in: WA, IV, 30, 79

[45] Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Vorrede zur zweiten Auflage. Hrsg. von Raymund Schmidt. Hamburg 1993, 18.

[46] Ebd., 19.

[47] Brief an Charlotte von Stein vom 15. Juni 1786, in: WA, IV, 7, 229.

[48] Goethe im Gespräch mit Johann Peter Eckermann am 18. Februar 1831, in: MA, Bd. 19, 413ff. Auch Ekkehart Krippendorff nutzt dieses Eckermann-Zitat für eine Gegenüberstellung der beiden darin zum Ausdruck kommenden Haltungen: »Wissenschaft beruht auf Neugier, will erkennen; die Frage nach dem Zweck hingegen blockiert eben diese Neugier, deckt das Erkennen zu, will abschließende, keine weiterführenden Antworten. Und die Natur ist darin Schule und ihr Studium eine Bewährung für das menschliche Erkenntnisstreben, dass sie eben keine Zwecke verfolgt, sondern selbst Zweck ist – und zwar der höchste und zugleich komplexeste aller denkbaren Zwecke.« Ekkehart Krippendorff: Goethe. Politik gegen den Zeitgeist. Frankfurt/M. 1999, 170.

[49] Emil Du Bois-Reymond: Goethe und kein Ende. Rede bei Antritt des Rectorats der Universität zu Berlin am 15. Oktober 1882. Zit. nach: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Tl. 3, München 1979, 103ff., hier: 113. Du Bois-Reymond bezieht sich hier konkret auf die Farbenlehre, verweigert Goethe aber aufgrund der fehlenden Einsicht in den »Begriff der mechanischen Kausalität« (ebd.) prinzipiell die Anerkennung als Naturwissenschaftler.

[50] Goethe im Gespräch mit Friedrich Soret am 2. August 1830, in: MA, Bd. 19, 676.

[51] Hans Christoph Binswanger: Geld und Magie, 135, vgl. Anm. 44

[52] Dennis Meadows: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. (1972) 16. Aufl. Stuttgart 1994, 137.